analyse & kritik
Heft 560 / 15. April 2011


Ein völkerrechtlicher Präzedenzfall

von Otfried Nassauer


Nach einer Woche erbitterten Streits hat die NATO die Führung des gesamten Militäreinsatzes gegen Libyen übernommen: Die Durchsetzung des Waffenembargos, der Flugverbotszone und den Schutz der Zivilbevölkerung. „Nicht mehr und nicht weniger“, wie das Außenministerium in Washington explizit festhielt. Aber wird es dabei bleiben? Von einem schnellen Ende der Operation geht die NATO jedenfalls nicht aus. Sie plant zunächst für einen dreimonatigen Einsatz.

Mit der Übernahme der Operation Odyssey Dawn zieht das Militärbündnis die Entscheidungshoheit über viele offene, wichtige und strittige Fragen an sich: Was ist das Ziel der Operation? Der Schutz der Zivilbevölkerung und ein möglichst baldiger Waffenstillstand, wie die UN-Resolution es fordert? Oder doch die Unterstützung der Rebellen? Darf der Sturz Gaddafis, ein „regime change“ wie George W. Bush es genannt hätte, angestrebt werden?

Doch damit nicht genug: Das Bündnis übernimmt in Libyen auch die Verantwortung für einen völkerrechtlichen Präzedenzfall, eine neue Form der humanitären militärischen Intervention. Es geht um eine Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung gegen deren Regierung, also eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Die Charta der Vereinten Nationen kennt kein Recht zu einer solchen Intervention, aber seit etwa zehn Jahren bemühen sich vor allem westliche Staaten, eine solche Möglichkeit zu schaffen. Gesprochen wird von einem „Völkerrecht im Werden“. Das Stichwort lautet Schutzverantwortung, responsibility to protect oder kurz R2P. Es geht also in Libyen auch um eine Operation am offenen Herzen des Völkerrechts.

Es begann mit einer handfesten Überraschung: Die Arabische Liga forderte und der UN-Sicherheitsrat erteilte das Mandat für eine Flugverbotszone über Libyen und den Schutz der Zivilbevölkerung unter Einsatz „aller erforderlichen Mittel“. Zehn Mitglieder stimmten dafür, fünf enthielten sich, niemand legte ein Veto ein. Niemand wollte die Verantwortung dafür übernehmen, dass es keine Militäraktion gegen einen Diktator geben würde, der brutal gegen die Opposition seines Landes vorging und ihr blutige Rache geschworen hatte.

Bedeutete das den Durchbruch für die Vorstellung, dass Interventionen aus humanitären Gründen zum Schutz der Menschen in einer Diktatur künftig völkerrechtlich zulässig sind? Den Durchbruch für das Konstrukt der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft? Der Milleniumsgipfel der Vereinten Nationen hatte 2005 positiv auf dieses Konzept Bezug genommen. Die Gipfel-Teilnehmer erklärten ihre Bereitschaft, als letztes Mittel auch eine Gewaltanwendung nach Kapitel VII der UN-Charta „von Fall zu Fall“ zuzulassen, wenn „friedliche Mittel inadäquat sind und nationale Autoritäten nachweislich dabei versagen, ihre Bevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu schützen. Westliche Staaten hatten dieses Konzept nach dem Krieg um das Kosovo ex post als Rechtfertigung entwickelt, um in ähnlichen Fälle künftig einen rechtlichen Anknüpfungspunkt zu haben.

Explizit angewendet wurde es jedoch bisher nicht. UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon nannte den Libyen-Beschluss deshalb eine „historische Bestätigung“ der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, Menschen vor der Gewalt ihrer eigenen Regierung zu schützen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen assistierte: „Unterschätzen Sie das nicht! Im vergangen Jahrzehnt haben wir eine politische und akademische Debatte über die Schutzverantwortung gehabt. Dieses Konzept hat jetzt seinen Weg in zwei Resolutionen des Sicherheitsrates zu Libyen gefunden.“ Und die treibende Kraft hinter der Resolution, der französische Präsident Sarkozy warnte bereits andere arabische Despoten: "Jeder Herrscher muss verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die Gleiche sein wird.“ Das klingt nach einem Durchbruch für das umstrittene Konzept der Schutzverantwortung.

Doch dann folgte offener Streit. Die Koalition der Schutzwilligen führte ein Konzert voller Kakophonien auf. Sie begann mit einer massiven Bombardierung libyscher Ziele. Waren so massive Angriffe durch das Mandat gedeckt? Ging es da noch um den Schutz der Zivilbevölkerung oder bereits um die Unterstützung für Libyens bewaffnete Rebellen oder gar den Sturz Gaddafis?

In der NATO (und in der EU) zeigten sich Bruchlinien. Frankreich und Großbritannien warben massiv für den militärischen Schutz der Zivilbevölkerung und für eine weitgehende, auch militärische Unterstützung der Opposition. Beide ließen sogar offen, ob ein westlicher Militärschlag den Sturz Gaddafis zum Ziel haben oder letztlich Bodentruppen zum Einsatz kommen sollten. Begrenztere Ziele deuteten sie erst an, als ihr Drängen zu einer Zerreißprobe für den Westen zu werden drohte. Washington war dagegen keine treibende Kraft hinter diesem Krieg und legte das Mandat des Sicherheitsrates enger aus. Es teilte zwar die politische Forderung nach Gaddafis Rücktritt, wollte aber der arabischen Revolution in Libyen keinen amerikanischen Stempel aufdrücken, der sie desavouieren würde. Und es wollte keine Involvierung in einen weiteren längeren Krieg in der islamischen Welt. Trotzdem verweigerte Präsident Obama Paris und London nicht die Unterstützung. Also beteiligten sich die USA an den anfänglichen Luftoperationen, machten aber klar, dass sie sich bald auf eine unterstützende Rolle zurückziehen würden. Nur die USA verfügten über die militärischen Fähigkeiten, in kürzester Zeit eine vollständige militärische Niederlage der libyschen Opposition zu verhindern. Deutschland verweigerte die Teilnahme an der Militäroperation, ebenso wie etliche der neuen Mitglieder der NATO.

Streit gab es auch um die politische und militärische Führung der Operation. Frankreich preschte vor, wollte koordinieren, wenn nicht führen, die USA wollten ihre Führungsrolle möglichst rasch an die NATO übergeben. Das aber wollten Frankreich und die Türkei nicht. Die Türkei präferierte die Vereinten Nationen, Frankreich sich selbst oder die EU. Tagelang werkelte die NATO an einem Kompromiss. Schrittweise übernahm sie schließlich die Führung der Operation. Damit fällt die Ausgestaltung des Präzedenzfalls für das Konzept der Schutzverantwortung nicht unter französischer Führung, sondern unter die Aufsicht amerikanischer NATO-Generäle.

Hinter diesen Streitereien verschwindet eine wichtige Frage: Kann und sollte das militärische Bündnis NATO der institutionelle Rahmen sein, der den völkerrechtlichen Präzedenzfall für das künftige Verhältnis zwischen Schutzverantwortung und Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten ausgestaltet? Zur Erinnerung: Es war ja gerade der von den Vereinten Nationen nicht mandatierte Krieg der NATO um das Kosovo, der die Debatte um eine humanitär begründete Einmischung auslöste.

Es gibt Argumente, die für die NATO ins Feld geführt werden: Wer, wenn nicht die NATO? Dort gibt es eingeübte Verfahren der Konsensbildung. Wenig dringt an die Öffentlichkeit, selbst wenn in den Hinterzimmern dicke Luft herrscht. Wird ein Konsens erreicht, so wird er gleich von mindestens 28 Staaten getragen.

Das mag stimmen. Es kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass zentrale politische und völkerrechtliche Fragen an ein Militärbündnis delegiert werden. Die NATO soll zudem in Libyen eine konkrete militärische Operation erfolgreich durchführen. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass sie dem operativen militärischen Erfolg viele Fragen unterordnen wird, die sie sich anlässlich des Präzedenzfalles für das Konzept der Schutzverantwortung eigentlich stellen müsste.

Dazu gehört natürlich die Frage nach dem politischen Ziel, dass erreicht werden soll, wenn die internationale Gemeinschaft sich auf die Schutzverantwortung beruft. Bleibt es auf den Schutz der Zivilbevölkerung beschränkt? Oder kann dazu auch der Sturz eines Diktators gehören, der nicht aufgeben will? Ist die militärische Unterstützung für Aufständische, also eine Parteinahme innerhalb eines Bürgerkrieges zulässig? Wann sollte eine solche Intervention beendet oder abgebrochen werden?

Diplomatische Vermittlungsbemühungen dagegen, die die Gewaltanwendung rasch mit einen Waffenstillstand beenden wollen, haben in einer solchen Konstellation selten Priorität. Sie laufen Gefahr, stiefmütterlich behandelt zu werden. Die NATO wird solche Initiativen kaum voran hintertreiben, schon um den Eindruck zu vermeiden, sie sei von ihrer eigenen militärischen Durchsetzungsfähigkeit nicht überzeugt. Einzelne NATO-Staaten könnten sie hintertreiben, um einen Regimewechsel durchzusetzen. Schon während des Krieges um das Kosovo wurde deutlich: So überlegen die NATO war, Milosevic wollte partout nicht zu ihren Bedingungen kapitulieren. Lange Wochen fand die NATO keinen Weg, den Krieg zu beenden. Diese Gefahr ist auch bei der Operation in Libyen nicht von der Hand zu weisen.

Daraus resultiert die Gefahr, auf die abschüssige Bahn in eine lange, hässliche Intervention mit ungewissem Ausgang zu geraten. Dann muss die NATO entscheiden, ob sie ein erweitertes Mandat des Sicherheitsrates anstrebt oder – wie damals im Fall Kosovo – argumentiert: Weil ein solche Mandat unwahrscheinlich ist, „mandatiert“ das Bündnis sich selbst. Genau das wollte der Milleniumsgipfel UNO 2005 zwar zu unterbinden, indem er allein dem UN-Sicherheitsrat das Recht zubilligt, Entscheidungen über die Anwendung militärischer Gewalt zum Schutz ziviler Bevölkerungen zu treffen. Ob die NATO sich daran aber halten würde, ist ungewiss. Sie ist nicht vorrangig Werkzeug der Vereinten Nationen oder Wahrer des Völkerrechts. Für die Idee der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft für die Zivilbevölkerung wäre Libyen dann der denkbar schlechteste Präzedenzfall. Er würde belegen, wie beliebig und willkürlich mit dieser Konstruktion verfahren werden kann.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS