November 2002


Niederlage auf dem Balkan - Die Türken vor Brüssel?
Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor dem Scheitern


von Angelika Beer und Otfried Nassauer


Wie beschlossen: Anfang 2003 ist sie endlich einsatzbereit, die 60.000 Mann starke Truppe, die der Europäischen Union eine autonome Möglichkeit zu militärischem Krisenmanagement verschaffen soll. Oder etwa doch nicht? Richtig, doch nicht. Erneut wurde der erste Einsatz – die Übernahme der Friedensmission in Mazedonien – am Mittwoch vorläufig abgesagt. Entschieden wurde: Die NATO bleibt für sechs weitere Monate, die EU kommt nicht. Im Februar wird die Lage erneut überprüft. Und warum die Verzögerung? Immer noch gibt es keine Einigung zwischen der NATO und der EU darüber, ob und unter welchen Bedingungen die EU auf die Planungskapazitäten und andere militärische Mittel der NATO zurückgreifen kann. Verhindert wird diese Einigung durch einen bizarren griechisch-türkischen Streit. Oder besser gesagt dadurch, daß die Türkei die Europäische Union vorführt, um nicht zu sagen grillt.


Der türkische Faktor

Ankara stellt auf zwei Feldern Bedingungen, droht mit seinem Veto in der NATO, die den beabsichtigten Verträgen mit der EU einstimmig zustimmen muß. Da ist zunächst der NATO-EU-Vertrag, der der EU einen garantierten Zugang zu den Planungskapazitäten der NATO sichern und dafür sorgen soll, daß die EU diese NATO – Fähigkeiten nicht dupliziert. Hier wurde zwar Einigkeit erzielt, daß bei Operationen, bei denen die EU auf NATO-Fähigkeiten zurückgreift, auch alle anderen NATO-Staaten das Recht zur Beteiligung an der EU-Operation und damit ein Mitspracherecht haben, nicht aber, was geschieht, wenn die EU autonom agiert, d.h. nicht auf die Fähigkeiten der NATO zurückgreift. Die Türkei will auch dann ein Mitspracherecht – unter anderem wegen der Streitigkeiten in der Ägäis und um Zypern. Griechenland – zur Zeit zuständig für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU - droht mit seinem Veto, wenn die türkischen Forderungen erfüllt würden. Ein Spiel, daß seit Jahr und Tag gespielt wird und beliebig lange fortgeführt werden könnte. Mithin, der zur Unterzeichnung des Abkommens angedachte NATO-EU-Überraschungsgipfel in Prag fällt aus.

Zum zweiten geht es um das Sicherheitsabkommen zwischen der NATO und der EU, mit dem die militärischen Geheimnisse der NATO geschützt werden sollen. Der Abschluß dieses Abkommens ist eine Voraussetzung dafür, daß die EU die Mazedonien-Mission übernehmen kann, in der sie mit NATO-Kommandobehörden zusammenarbeiten würde und auf die Aufklärungsergebnisse der NATO zurückgreifen könnte. Auch hier droht die Türkei mit einem Veto. Ankara fordert, daß dieses Abkommen nur für jene Staaten gelten soll, die heute Mitglied der EU sind. Die Gültigkeit des Abkommens für die EU-Beitrittskandidaten soll unter Zustimmungsvorbehalt der NATO stehen. Mithin, unter türkischem Vorbehalt. Denn Zypern ist Kandidat für den EU-Beitritt. Und die Türkei drängt, endlich eine zeitlich klare zeitliche Beitrittsperspektive eröffnet zu bekommen.


Drei Lachende Dritte?

Frankreich drängt zwar immer wieder, die EU möge die Mazedonien-Mission auch dann unternehmen, wenn die türkische Blockade fortbestehe. Notfalls müsse die EU begrenzte eigene Planungskapazitäten aufbauen. Doch dazu konnten sich die EU-Staaten bislang nicht durchringen. Großbritannien ist zwar für den Aufbau der EU-Fähigkeiten, will diese aber am liebsten für möglichst lange Zeit auf Friedensmaßnahmen im engeren Sinne begrenzen, um den Vorrang der NATO nicht zu gefährden. Und etliche andere europäische Staaten – darunter auch die Bundesrepublik – argumentieren, daß eigene EU-Kapazitäten, also eine Dopplung der NATO-Fähigkeiten, Geld und Zeit kostet. Ein "Satz an Fähigkeiten", aus dem sich EU und NATO bedienen können, sei die Lösung, die vorzuziehen sei. Mithin, der EU fehlt schon der politische Wille und die Geschlossenheit, das türkische Veto zu umgehen. Statt dessen wird das Prinzip Hoffnung proklamiert, die Türkei werde schlußendlich schon einlenken.
Derweil können drei Akteure sich freuen. Solange der Streit währt, kann sich Großbritanniens Premier Blair gewiß sein, daß das "Schreckgespenst" einer Europäischen Armee und Verteidigung samt Einschränkung der britischen Souveränität in die ferne Zukunft gehört. Lord Robertson, der NATO-Generalsekretär darf sich gewiß sein, daß am alleinigen Vorrang der NATO in der europäischen Sicherheitspolitik nicht ernsthaft gerüttelt wird. Beide gemeinsam dürfen sich mit US-Präsident Bush über die Ergebnisse des Prager NATO-Gipfels freuen. Dort werden drei Schritte beschlossen, die sicherstellen sollen, daß in der europäischen Sicherheit auch in Zukunft rein gar nichts ohne die NATO geht.


Drei Beschlüsse

Der Prager NATO-Gipfel begrüßt den amerikanischen Vorschlag, eine NATO Response Force (NRF), gedacht zur weltweiten Bekämpfung des Terrorismus, der Weiterverbreitung der Proliferation und zur Unterstützung der USA bei weltweiten Aufgaben aufzubauen. Bis zum Frühsommer 2003 soll ein Konzept für die Truppe, entwickelt werden inklusive Rotation mindestens 60.000 Soldaten zu Wasser, zu Lande und in der Luft, entwickelt werden. Bereits 2006 – so die Vorstellung Washingtons – soll sie einsatzbereit sein.
Der Gipfel billigt die sogenannten Prague Capability Commitments (PCC), politisch bindende Selbstverpflichtungen vor allem der europäischen NATO-Staaten, der Allianz zu festgelegten Terminen genau umrissene neue militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, die in Kernbereichen - also z.B. bei Lufttransport und Luftbetankung, ABC-Abwehr, Führungs- und Kommunikationssystemen und etlichem anderem mehr – das Fähigkeitsprofil der Europäer an das der USA heranführen und die Möglichkeiten zu gemeinsamen Einsätzen verstärken soll.

Schließlich beschließt der Gipfel die Grundzüge einer Reform der NATO-Kommandostruktur, die das Bündnis verschlanken und flexibler machen soll. Bestandteil ist eine Umwandlung des operativen strategischen NATO-Oberkommandos Atlantik (SACLANT) in ein funktionales strategisches Oberkommando, daß die Transformation, d.h. Umbaus und der Modernisierung der NATO-Streitkräfte vorbereitet und plant, Operationskonzepte für die Zukunft testet, und dafür sorgt, daß die Streitkräfte diesseits und jenseits des Atlantiks gemeinsam eingesetzt werden können.

Zusammengenommen bedeuten die drei Initiativen vor allem eines. Sie stellen sicher, daß wesentliche, besonders leistungsfähige Anteile der nationalen Streitkräfte in Europa vorrangig nach amerikanischen Vorbild und Standard modernisiert werden und, nicht aber mit Blick auf den Bedarf der Krisenkräfte der EU. Sollte für deren Einsatz im Rahmen von Krisenmanagement-Aufgaben der EU noch Luft, Zeit und politischer Wille bleiben, so müßte zunächst sichergestellt werden, daß die anderen EU-Krisenkräfte mit diesen Elitetruppen noch mithalten könnten. Eine klare Vorgabe für deren Modernisierung. Spötter bezeichnen deshalb die Prague Capability Commitments bereits als BAC, als Buy American Commitments, und sehen in dem Oberkommando für Transformation das Danaergeschenk einer Werbeagentur für die Transformation "the American way".

Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleibt damit weiter zahnlos; die EU-Krisenkräfte werden nicht, wie geplant, Anfang 2003 einsatzbereit. Das dürfte bei George W. Bush ein Schmunzeln auslösen. Europas Nationen haben ihm die fähigsten Teile ihrer Krisenkräfte für die NATO-Interventionstruppe zugesagt und versprochen, vorhandene Finanzmittel vorrangig für diese Truppe einzusetzen. Er kann sich nun zurücklehnen. Die militärische Unterstützung für Washington ist gesichert; was aus dem eigenständigen Krisenmanagement der EU wird und damit aus Europas Anspruch, nicht nur mitmachen, sondern auch mitentscheiden zu können, das wird man angesichts knapper Kassen sehen. Selbst wenn das Geld aufgebracht würde: Modernisiert wird in Europa jetzt nach amerikanischem Gusto.

Auch glühende "Europäer" wie der deutsche Außenminister Joschka Fischer werden nicht müde, zu betonen, daß die NATO Response Force nicht als Konkurrenz, sondern als Chance zur Stärkung der europäischen Fähigkeit zum militärischen Krisenmanagement betrachtet werden sollte. Aber sie wittern zugleich die eigentliche Gefahr: Warum sonst sollte Fischer in seiner Regierungserklärung am Donnerstag vergangener Woche als Voraussetzung der deutschen Zustimmung für das Konzept über den Aufbau der NATO Response Force unter anderem erwähnen, das Vorhaben müsse mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein.

 

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Angelika Beer war Verteidigungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen und arbeitet zur Zeit bei BÌTS als externe Expertin mit.