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Baseler Zeitung
25. November 2000 |
Die EU und China als künftige Supermächte?
Interview mit Otfried Nassauer
Nach dem Ende des Kalten Krieges verbleiben die USA die
einzige Supermacht. Doch es gibt Anzeichen für neue Machtkonstellationen. Zum Abschluss
der BaZ-Serie ein Gespräch mit Otfried Nassauer, Leiter des Berliner Informationszentrums
für Transatlantische Sicherheit.
BaZ: Die Rüstungsausgaben sinken, der Rüstungshandel hat abgenommen -
und trotzdem: Kriege aller Orten. Ist die Welt nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich
friedlicher geworden?
Otfried Nassauer: Die Welt ist nicht friedlicher geworden. Sie war, ist
und bleibt ein sehr kriegerischer Ort. Das Ende des Kalten Krieges hat die Deckel von zwei
Schnellkochtöpfen gelockert. In dem einen brodeln all die Krisen in der Dritten Welt, die
während des Kalten Krieges eingedämmt waren, weil sich die Supermächte und ihre
Verbündeten auf Seiten der Kontrahenten eingemischt haben und damit oft schnell ein
Interesse bestand, die Kriege nicht ausser Kontrolle geraten zu lassen. In dem anderen
brodeln die Krisen, die der Zerfall der Sowjetunion hinterlässt und die Russland
militärisch kaum mehr unter Kontrolle halten kann. Hinzu kommt, dass durch die so
genannte Globalisierung viele Länder auf der Südhalbkugel relativ gesehen schneller
verarmen. Das fördert das Entstehen weiterer Krisenherde. Sinkende Rüstungsausgaben und
der verringerte Rüstungshandel sind ein Zeichen dafür, dass die, die Kriege führen oder
führen wollen, weniger Geld einsetzen können, und die, die genug Geld haben, um viel
auszugeben, eh schon die stärksten Armeen der Welt besitzen.
BaZ: Auf das Ende des Kalten Krieges, der Blockkonfrontation, folgte das
Ende der bipolaren Weltordnung. Die USA sind die einzige verbliebene Supermacht; Russlands
Weltmachtrolle fusst nur noch auf der russischen Atommacht. Gibt es eigentlich Anzeichen
für neue geopolitische Machtkonstellationen, Anzeichen für die Struktur der Weltordnung
von morgen?
Otfried Nassauer: Die USA werden für die nächsten 10, 20 oder
vielleicht sogar auch 50 Jahre die dominierende Macht der Erde sein. Die militärischen
Fähigkeiten der USA sind der wichtigste Garant dieser Dominanz. In der zweiten Reihe,
hinter den USA, deuten sich aber gravierende Veränderungen an. In Asien gewinnt die
Volksrepublik China enorm an Bedeutung. In Europa führt der Europäische
Integrationsprozess dazu, dass die EU schnell an politischem Gewicht gewinnt. Beide, China
und die EU-Staaten, haben ihre Interessen in den vergangenen Jahrzehnten nur regional
definiert, nicht aber global. Bei beiden deutet sich ein Umdenken an. Beide sind dabei,
ihre Interessen und ihre Rolle in der Welt neu zu definieren. Beide müssen entscheiden,
mit welchen Mitteln sie ihre Interessen wahren wollen. Russland bleibt trotz seiner
derzeitigen wirtschaftlichen Schwäche einflussreich. Die russische Nuklearmacht, die
geografische Lage Russlands in Europa und Asien und das Interesse Europas wie Chinas an
einem stabilen Nachbarn Russland tragen dazu bei. Mittelfristig könnten zwei strategische
sicherheitspolitische Beziehungsgeflechte entstehen, welche die weitere Entwicklung
prägen. Ein transatlantisches, bestehend aus den USA, Russland und der EU - und ein
transpazifisches, bestehend aus den USA, Japan, China und Russland.
BaZ: Welche sicherheitspolitischen Ausdrucksformen findet diese
Entwicklung in Europa?
Otfried Nassauer: Seit zwei Jahren arbeitet die Europäische Union mit
Hochdruck an eigenen Fähigkeiten zum Krisenmanagement. Die militärische
Handlungsoption rückt damit in die Zivilmacht Europa ein. Die EU soll aussenpolitisch mit
einer Stimme sprechen, gemeinsam handeln lernen und grösser werden. Dazu ist die EU seit
dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages im Mai 1999 rechtlich autorisiert. Bei Krisen
bis zu Art und Grösse des Kosovo-Konfliktes will die EU mittelfristig eigenständig -
auch ohne die Nato - entscheidungsfähig und militärisch handlungsfähig sein. Der
Prozess verläuft atemberaubend schnell, obwohl die EU den Ruf hat, die Inkarnation
der Langsamkeit zu sein. In nur zwei Jahren wurden die politischen und militärischen
Entscheidungsstrukturen aufgebaut, diese Woche haben die EU-Staaten und alle, die an einer
Zusammenarbeit interessiert sind, ihre nationalen militärischen Beiträge benannt. Dabei
ist ein Pool von über 100'000 Soldaten und mehr als 400 Kampfflugzeugen zusammengekommen.
Im nächsten Jahr will die EU bereits ihr militärisches Hauptquartier in Brüssel in
Betrieb nehmen. Bis 2003 sollen die Truppen einsatzfähig sein.
BaZ: Konflikt- und Krisenmanagement erfordern doch eigentlich eher
nicht-militärische Mittel, damit schon der Ausbruch gewalttätiger Auseinandersetzungen
verhindert werden kann.
Otfried Nassauer: Das ist richtig. Die EU würde dafür sehr gute
Voraussetzungen mitbringen. Sie ist ein diplomatisches Schwergewicht, bringt über die
Mitgliedsstaaten, z. B. die nordischen und neutralen Länder, grosse Erfahrungen als
Vermittler bei Krisen und Kriegen mit, ist der weltgrösste Geldgeber in der
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit und der humanitären Hilfe und verfügt sogar über
einige Strukturen zur Früherkennung und Prävention von gewalttätigen Konflikten. Der
Aufbau einer militärischen Handlungsoption wurde sogar ursprünglich damit
gerechtfertigt, dass man vor allem eine militärische Rückendeckung für das
nicht-militärische Krisenmanagement brauche. Nur dann könne die EU entsprechend ihrer
wirtschaftlichen und politischen Bedeutung agieren. Die politischen Beschlüsse der EU
sehen beides vor, den Ausbau der militärischen und der nicht-militärischen Komponente.
In der Praxis, bei der Umsetzung, bekommen die militärischen Mittel klar Vorfahrt. Das
ist fast wie bei einem Panzer im Strassenverkehr. Den lässt man schon wegen seines
schieren Gewichts lieber vor. Der Ausbau der zivilen Mittel verläuft deshalb langsamer
und mit weniger Geld. Eine Ursache dafür ist sicher, dass die EU sich so intensiv
bemüht, keine Konflikte mit der Nato aufkommen zu lassen.
BaZ: Die Schweiz arbeitet in der Partnerschaft für den Frieden bei der
Nato mit. Kann sie eigenständige Beiträge zum Krisenmanagement leisten?
Otfried Nassauer: Natürlich, sowohl im Blick auf die Nato als auch im
Blick auf die EU. Im militärischen Bereich und vor allem auch im nicht-militärischen
Bereich. Als Gastgeberland für die UNO muss die Schweiz ein Interesse daran haben, dass
die UNO gestärkt wird. Sie muss ein Interesse daran haben, dass internationale
Militäreinsätze immer auf einem UNO-Mandat beruhen. Dazu kann sie beitragen. Zum
nicht-militärischen Konfliktmanagement leistet die Schweiz ja heute bereits sehr wichtige
Beiträge. Ich denke an die Genfer Aus- und Weiterbildungsstätten und vor allem an die
Kooperation des Aussenministeriums in Bern mit der Schweizer Friedensstiftung im Bereich
der Konflikt-Früherkennung und Frühwarnung.
BaZ: Ein anderes Thema: die Zukunft der Rüstungskontrolle und
Abrüstung. Noch leben wir mit dem Erbe von Zehntausenden atomarer Waffen aus Zeiten des
Kalten Krieges - wie geht es mit der atomaren Abrüstung weiter?
Otfried Nassauer: Die atomaren Altlasten des Kalten Krieges werden auf
jeden Fall weiter deutlich reduziert. Russland kann es sich nicht leisten, seine
Nuklearstreitkräfte auf dem heutigen oder auch auf einem deutlich niedrigeren Niveau zu
erhalten, die USA sind aus Kostengründen für weitere Reduzierungen. Auch die taktischen
Atomwaffen beider Staaten werden in diesen Prozess einbezogen werden. Das ist nur eine
Frage der Zeit und der Tiefe der Einschnitte. Damit ist aber nicht gesagt, dass die
Nuklearmächte ihr Versprechen aus dem Nichtverbreitungsvertrag einlösen werden - die
Eliminierung aller Atomwaffen. Im Gegenteil, diese Aufgabe könnte in den kommenden Jahren
weiter erschwert werden. Wenn die USA dem nuklearen Abschreckungskalkül mit einer
nationalen Raketenverteidigung ein neues Element hinzufügen, das die Glaubwürdigkeit des
chinesischen Potenzials gefährdet, dann kann es leicht sein, dass die Eliminierung
atomarer Waffen schwieriger wird. Dieselbe Wirkung kann sich ergeben, wenn Atomwaffen als
Abschreckung gegen biologische und chemische Waffen betrachtet werden wie es in den USA
der Fall ist. Und je mehr Zeit vergeht, desto wahrscheinlicher wird, dass weitere Staaten
dem Beispiel Indiens und Pakistans folgen und sich eigene Atomwaffen zulegen.
Interview: Peter Zweifel
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit (BITS).
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