Totgesagte leben länger – Nukes for ever?
von Otfried Nassauer
Wie lange haben die US-Atomwaffen noch eine Zukunft in Deutschland? Das
wäre eine gute Frage an den zuständigen
Bundeswehrgeneral, den Luftwaffeninspekteur. Was würde er wohl
antworten? Etwa dies: Für die nächsten 20-30 Jahre
bleiben diese Waffen in Deutschland. Die NATO will sie behalten, damit
sich Polen und das Baltikum an die atomare Abschreckung der USA
angekoppelt fühlen. Die große Koalition hat
signalisiert: Solange die NATO auf nukleare Abschreckung setzt, wird
Deutschland in Nuklearfragen mitreden wollen. Deshalb muss die
Bundesrepublik auch weiter bei der nuklearen Abschreckung mitmachen und
geeignete Trägerflugzeuge bereitstellen. Vielleicht
würde er sogar noch hinzufügen: Wir werden auch
darüber nachdenken müssen, ob es klüger ist,
die Nutzungsdauer unserer nuklearfähigen Tornado-Flugzeuge
noch einmal zu verlängern oder gleich ein neues Flugzeug zu
kaufen. Der Mann weiß, wie man die Interessen der Luftwaffe
gut vertritt. Für die nukleare Teilhabe hält
Luftwaffe mehr als die Hälfte ihrer Tornadoflotte vor.
Sie glauben, das könne nicht wahr sein? Noch vor einem Jahr
seien doch vier der fünf Bundestagsfraktionen für
einen schnellstmöglichen Abzug gewesen und selbst in der
CDU/CSU habe man die Notwendigkeit dieser Waffen angezweifelt. Sie
dachten, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis diese
Waffen abgezogen werden? Weit gefehlt: Der Wind hat sich vorerst
gedreht. Die FDP musste den Bundestag verlassen. Grüne und
Linke stellen eine Mini-Opposition. Die CDU/CSU wollte zur Zukunft
nuklearer Waffen in Deutschland im Koalitionsvertrag am liebsten gar
keine Aussage treffen. Und für die SPD war es ein nachrangiger
Konfliktpunkt, an dem man die Koalitionsverhandlungen nicht scheitern
lassen wollte. Koalitionen zwingen bekanntlich zu Kompromissen. Es geht
ja nur um maximal 20 Waffen vom Typ B61. Hauptsache also, das Thema
Nuklearwaffen wird im Abschnitt „Rüstungskontrolle
und Abrüstung“ abgehandelt.
Dort steht es nun auch. Der Koalitionsvertrag hält fest:
„Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im
strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein
Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und
Planungsprozessen teilzuhaben.“ Eine Binsenweisheit, denn
niemand ist daran interessiert, dass Deutschland sich aus der
NATO-Diskussion über Nuklearwaffen verabschiedet. Das Problem
dieser Feststellung besteht in der Schlussfolgerung, die daraus gerne
gezogen wird. Sie lautet: Die nukleare Teilhabe muss solange
aufrechterhalten werden, wie die NATO eine nukleare Allianz bleibt.
Die jüngsten strategischen Dokumente der NATO antworten auf
die Frage, wie lange „solange“ bedeute, mit einem
Satz, der ebenso selbstverständlich daherkommt: Die NATO
bleibt eine nukleare Allianz, solange wie es Nuklearwaffen gibt. Auch
das ist zunächst eine Binsenweisheit, sind doch drei
Mitglieder Nuklearwaffenstaaten. Niemand wird erwarten, dass
ausgerechnet Frankreich, Großbritannien und die USA die
allerersten sein würden, die auf diese Waffen
gänzlich verzichten. Problematisch wurde dieser Satz, weil er
als Antwort auf die lebhafte Diskussion über einen
potentiellen Abzug der US-Nuklearwaffen aus Europa geschrieben wurde
und daraus vielfach ebenfalls eine Schlussfolgerung gezogen wurde: Weil
die NATO eine nukleare Allianz bleibt, müssen auch
künftig Nuklearwaffen in Europa stationiert bleiben.
Ähnlich dürfte die Tonlage lauten, mit der die
Koalitionsvereinbarung künftig rezitiert werden wird. Das
altbekannte – ebenso falsche wie breit geglaubte –
Argument wird lauten: „Wir müssen mitmachen, um
mitentscheiden zu können“. Richtig mitmachen kann
Deutschland nur, wenn es auch weiterhin nuklearfähige
Trägersysteme vorhält und die Stationierung nuklearer
Waffen auf seinem Territorium erlaubt, also an den technischen Aspekten
der nuklearen Teilhabe festhält.
Diese Lesart unterschlägt, dass es in der NATO
selbstverständlich möglich ist, im nuklearen Bereich
„an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen
teilzuhaben“, ohne dass sich ein Land an der technischen
Umsetzung der nuklearen Teilhabe beteiligt. Kanada zum Beispiel
beendete seine Mitwirkung vor rund 20 Jahren und wurde deshalb
keineswegs zu einer Zone minderer Sicherheit oder gar aus den nuklearen
Planungsprozessen der NATO ausgeschlossen. Zum deklarierten
Selbstverständnis der NATO gehört es gerade, dass es
keine Mitglieder und keine Sicherheit erster und zweiter Klasse geben
soll.
Zum Thema Rüstungskontrolle heißt es im
Koalitionsvertrag darüber hinaus: „Die
Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass zwischen den
USA und Russland Verhandlungen zur verifizierbaren,
vollständigen Abrüstung im substrategischen Bereich
beginnen, und entsprechende Schritte beider Partner engagiert
unterstützen. Erfolgreiche
Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung
für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten
taktischen Atomwaffen.“ Das könnte sich leicht als
frommer Wunsch oder gar als unerfüllbare Vorbedingung
erweisen. Ein neues nukleares Abrüstungsabkommen zwischen den
USA und Russland ist derzeit nicht in Sicht. Die Aussage im
Koalitionsvertrag fällt allerdings hinter die Position der
NATO zurück. Diese hat nie einen Bedingungszusammenhang
zwischen erfolgreichen Abrüstungsgesprächen und der
Möglichkeit eines künftigen Abzugs aus Europa
postuliert.
Mehr noch: In den USA wird kein Zusammenhang zwischen der geplanten
Modernisierung der Atombomben vom Typ B61 und den
russisch-amerikanischen Abrüstungsbemühungen gesehen.
Die zuständige Pentagon-Staatssekretärin, Madelyn R.
Creedon, hat Ende Oktober vor dem Kongress ausgeführt:
„Selbst wenn die NATO mit Russland ein Abkommen über
eine wechselseitige Reduzierung der taktischen Nuklearwaffen aushandeln
würde, würden wir das B61-12 Programm im Rahmen der
derzeitigen Zeitplanung zu Ende bringen müssen.“
Vorrangig wird in den USA also die Modernisierung des Atomwaffen-Typs
vorangetrieben, der auch in Deutschland lagert. Zu Beginn des
nächsten Jahrzehnts sollen die alten Waffen vom Typ B61 durch
neue der Version B61-12 abgelöst werden – auch in
Europa. Zu dieser Absicht sagt der Koalitionsvertrag genau so viel wie
die CDU/CSU wollte: gar nichts.
Die für den Nuklearwaffenbau zuständige
US-Behörde, die NNSA, hat dem Kongress 2013 ihre Planung
für die kommenden 25 Jahre vorgelegt und darin deutlich
gemacht, dass die Lebensdauerverlängerung genannte
Modernisierung der B61 ihr wichtigstes, größtes und
das entscheidende Projekt für die nächste Dekade ist.
Der neue Bombentyp, die B61-12, könne nicht nur –
wie bisher geplant – vier vorhandene Atombombentypen
ablösen, sondern alle sechs heute noch existierenden atomaren
Bomben: Die B-61 Versionen -3, -4, -7, -10 und –11 sowie die
B83. Man argumentiert, Modernisierung mache künftige
Abrüstungsschritte erst möglich.
Die B61-12 soll ein typisches Produkt des digitalen Zeitalters werden
soll – eine digitale All-in-one-Bombe, mit der man all jene
Ziele abdecken kann, für die bislang viele unterschiedliche
Waffen mit viel höherer Sprengkraft benötigt wurden.
Möglich wird dies, weil die bisherige dumme Eisenbombe zu
einer Gleit- und Lenkwaffe gemacht werden soll, die weit zielgenauer
ist und deshalb keine allzu große Sprengkraft mehr braucht.
Das Zeitalter der Megatonnenwaffen endet. 50 Kilotonnen, die maximale
Sprengkraft der kleinsten alten Version der B61 und damit etwa das
Vierfache der Hiroshima-Bombe, seien künftig hinreichend.
Vielleicht werde es auch etwas mehr, wenn nicht nur der
sekundäre Nuklearsprengsatz der bisherigen B61-4 für
die Modernisierung herangezogen werde, sondern auch der fast baugleiche
Sekundärsprengsatz der B61-10 mit maximal 80 Kilotonnen
Sprengkraft. Für die Deutschen käme dann ein alter
Bekannter zurück. Die B61-10 entstand aus den
Sprengköpfen der einst umstrittenen Mittelstreckenraketen vom
Typ Pershing II.
Zur präzisen Lenkwaffe wird die B61-12, weil sie ein neues
Heckleitwerk bekommt und damit nach dem Abwurf elektronische
Steuerbefehle in Flugbewegungen umsetzen kann, die die Bombe viel
genauer ins vorprogrammierte Ziel lenken, als dies mit einer
freifallenden Bombe an einem Bremsfallschirm möglich
wäre. Voraussetzung dafür, dass diese
Fähigkeit umfassend genutzt werden kann, ist allerdings, dass
auch das Trägerflugzeug digitalisiert ist. Dies ist bei
älteren Flugzeugen wie der F-16 oder dem deutschen Tornado
nicht der Fall. Damit auch sie die neue Bombe nutzen können,
kann diese – wenn auch nicht ganz so präzise
– auch als analoge Gleitbombe eingesetzt werden. Selbst dann
wird sie noch deutlich zielgenauer sein als die bisher in Europa
lagernden Waffen. Die kleinere Sprengkraft erlaubt zudem das fast schon
zynisch anmutende Argument, dass die neue Generation nuklearer Bomben
weniger Kollateralschäden verursachen wird als ihre
Vorgänger, Deshalb sei sie ein Beleg dafür, dass man
die Vorgaben des humanitären Völkerrechts auch bei
der Konstruktion von Atomwaffen berücksichtige.
Für die NNSA ist die B61-12 zudem ein erster Schritt auf dem
Weg zu einer neuen Struktur des Nuklearwaffenpotentials der USA
für die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts. Sie nennt
das ihre „Drei plus Zwei-Strategie“. Als
Lebensdauerverlängerung bezeichnete Modernisierungen nuklearer
Waffen sollen es ermöglichen, dass künftig die
Sprengköpfe oder zumindest deren wesentliche Komponenten
untereinander austauschbar werden. Nur noch drei verschiedene
Sprengkopftypen für ballistische Raketen und zwei
möglichst ähnliche für Bomben und
Marschflugkörper – so soll sich das US-Arsenal am
Ende zusammensetzen. Wenn zudem wesentliche Komponenten wie der
primäre oder der sekundäre nukleare Sprengsatz sowie
wichtige konventionelle Bauteile zu mehreren Waffen passen
würden, dann könne man das Atomwaffenpotential
deutlich weiter reduzieren. Heute seien weit mehr als die
Hälfte aller Atomwaffen der USA Reservesprengköpfe,
die vor allem noch für den Fall gelagert würden, dass
bei einem aktiven Sprengkopftyp Probleme auftauchen, die einen
Austausch erzwingen. Künftig müsse man nur noch
Komponenten bevorraten, so werde der größte Teil der
Reservesprengköpfe verzichtbar.
Als Barack Obama im April 2009 in Prag die Vision einer
nuklearwaffenfreien Welt wiederbelebte, weckte er weltweit
große Hoffnung. „Als Nuklearmacht, als die einzige
Nuklearmacht, die Nuklearwaffen eingesetzt hat, haben die Vereinigten
Staaten die moralische Verpflichtung zu handeln. […] Deshalb
erkläre ich heute klar und aus Überzeugung Amerikas
Verpflichtung, den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne
Nuklearwaffen zu suchen. Ich bin nicht naiv. Dieses Ziel wird nicht
schnell erreicht werden – vielleicht nicht zu meinen
Lebzeiten. Es wird Geduld und Beharrlichkeit brauchen. Aber wir
müssen jetzt auch jene Stimmen ignorieren, die uns sagen, dass
sich die Welt nicht ändern wird. Wir müssen darauf
bestehen: Ja, wir können es.”
Überhört und überlesen wurde damals meist
ein anderer Satz seiner Rede: „Begehen Sie keinen Irrtum.
Solange wie diese Waffen existieren, werden die Vereinigten Staaten ein
sicheres, gut gesichertes und effektives nukleares Arsenal
aufrechterhalten, um jeden Gegner abzuschrecken und unseren Alliierten
diese Verteidigung zu garantieren – einschließlich
der Tschechischen Republik.“
In der Welt der politischen Praxis, der Taten, hat die zweite
Ankündigung Obamas bislang die weitaus
größere Wirkung hinterlassen. Und so wie es derzeit
aussieht, wird das vorläufig auch so bleiben.

ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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