Das Ende der Abrüstung
von Otfried Nassauer
Wladimir Putin irritiert die NATO. Immer deutlicher kritisiert der russische Präsident
die Sicherheitspolitik des Westens. Mit Kritik an Washingtons Vorhaben, in Tschechien und
Polen Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems aufzubauen, machte Putin während der
Münchener Sicherheitskonferenz den Anfang. Die NATO-Pläne, dem Kosovo eine überwachte
Souveränität zu gewähren, treffen im UN-Sicherheitsrat auf den Widerspruch der
Vetomacht Russland. Die Kooperation im NATO-Russland-Rat hält Russland seit geraumer Zeit
für unbefriedigend. In seiner Rede zur Lage der Nation drohte Putin nun mit einem
möglichen Ausstieg Russlands aus dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa
(KSE). So mancher im Westen fürchtet deshalb eine neue Eiszeit oder - wie Außenminister
Steinmeier - eine "Spirale des Misstrauens" zwischen Russland und dem Westen.
Die Auseinandersetzung um den KSE-Vertrag ist ein gutes Beispiel, um mehr Klarheit über
die Beweggründe der Moskauer Führung zu gewinnen.
In seiner Rede verkündete Putin verkündete "ein Moratorium der russischen
Umsetzung des KSE-Vertrages bis alle NATO-Staaten ihn ratifizieren und beginnen, sich
strikt daran zu halten so wie es Russland bereits heute tut." Er schlug vor
das Thema im NATO-Russland-Rat zu diskutieren. Binnen eines Jahres soll eine Lösung
gefunden werden. Sollten Verhandlungen keine Lösung bringen, will Putin Moskaus
"Möglichkeit prüfen, seine Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag zu beenden."
Die NATO reagierte prompt. Sie verlangte von Moskau eine Erklärung, was Putin genau
gemeint habe und forderte Moskau zur umfassenden Einhaltung seiner vertraglichen
Verpflichtungen auf. Allzu überraschend kann der russische Vorstoß für die NATO
allerdings kaum gewesen sein. Denn seit Jahren ist bekannt, dass Russland das westliche
Verhalten in Sachen KSE nicht akzeptiert.
Ein Blick zurück
Der KSE-Vertrag stammt aus dem Jahre 1990. Er legte für die Hauptwaffensysteme der
NATO und des Warschauer Paktes je gleiche Obergrenzen fest. Als Hauptwaffensysteme galten
Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriegeschütze, Kampfhubschrauber und
Kampfflugzeuge. Was über die vereinbarten Obergrenzen hinausging, musste überprüfbar
zerstört oder abgezogen werden. Über 60.000 Großwaffensysteme wurden in der Folge
verschrottet. Im KSE-1a-Vertrag wurden 1992 zusätzlich nationale Obergrenzen für die
Personalstärken der Streitkräfte der Länder des inzwischen aufgelösten Warschauer
Paktes und der NATO vereinbart. Beide Abmachungen wurden von allen Staaten ratifiziert und
zügig umgesetzt, die den Bündnissen angehörten.
Anlässlich der NATO-Osterweiterung 1997 musste einem Problem Beachtung geschenkt
werden, dass die Vertragspartner bislang vernachlässigt hatten. Die
"Blockstruktur" des Vertrages - hier der Warschauer Pakt und dort die NATO - war
nicht mehr vorhanden. Zudem wollten mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik drei
Mitglieder des ehemaligen Warschauer Paktes der NATO beitreten. Um das Problem zu lösen
und Russlands Bedenken gegen die NATO-Erweiterung politisch abzufedern, wurde beschlossen,
den NATO-Russland-Rat als Konsultationsgremium zu gründen und das Mandat für
Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag zu erteilen. Anlässlich des OSZE-Gipfels 1999
in Istanbul war der Adaptierte KSE-Vertrag (AKSE) unterschriftsreif. Er enthielt jetzt
nationale Obergrenzen für die Hauptwaffensysteme der Vertragsmitglieder. Diese waren in
der Summe etwas niedriger als im KSE-Vertrag. Zudem erlaubte der AKSE-Vertrag den Beitritt
neuer Mitglieder aus dem Kreis der OSZE-Mitglieder. Und schließlich enthielt er besondere
Flankenregeln für den Nord- und Südosten Russlands, sowie Obergrenzen und Regeln für
die Stationierung zusätzlicher NATO-Truppen in den neuen Mitgliedstaaten der NATO. Mit
den Flankenregeln sollte sichergestellt werden, dass Moskau seine durch den Zerfall der
Sowjetunion entstandenen kleinen Nachbarn wie die baltischen Staaten oder Georgien nicht
unter Druck setzte. Mit den Verstärkungsregeln wurde auf russische Befürchtungen
eingegangen, dass die NATO ihre Truppen einfach nach Osten verlegen könnte. Alle
KSE-Mitglieder unterzeichneten 1999 auch den AKSE-Vertrag.
Doch der AKSE-Vertrag ist bis heute nicht in Kraft getreten. Kein NATO-Staat hat ihn
bisher ratifiziert. Slowenien und die baltischen Staaten sind bislang nicht einmal
Mitglieder des KSE-Regimes geworden. Sie unterliegen somit keinerlei Begrenzungen für
Personal, Hauptwaffensysteme oder Verstärkungen. Für Moskau wurde dies zum Problem, als
auch diese Länder 2004 Mitglied der NATO werden sollten.
Während der Münchener Sicherheitskonferenz 2004 griff der russische
Verteidigungsminister, Sergei Iwanow, das Thema auf: "Ist der KSE-Vertrag wirklich
weiterhin ein Eckpfeiler der Europäischen Sicherheit?...Oder wird er zu einem weiteren
Relikt des Kalten Krieges, wie der ABM-Vertrag einmal genannt wurde?", fragte er in
Anspielung auf den Vertrag über Raketenabwehrsysteme, den die USA zuvor einseitig
gekündigt hatten. Iwanow, heute ein aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge Putins,
warnte wörtlich: "Im Ernst eine Schwächung der Kontrollregime für
konventionelle Waffen in Europa stimmt nicht mit den Interessen der russischen nationalen
Sicherheit überein, aber sie ist auch kein irreparabler Verlust für Russlands
Sicherheit, wie einige meinen könnten." Schon damals regte Iwanow an, zügig im
NATO-Russland-Rat das Mandat für erneute Verhandlungen zu erarbeiten, mit denen das
KSE-Regime an die zweite Erweiterung der NATO angepasst werden sollte. Er forderte zudem,
alle NATO-Staaten sollten dem KSE-Vertrag beitreten.
Doch bis Anfang 2007 passierte nichts. Die NATO-Staaten reagierten nicht. Obwohl
Russland, Kasachstan, Belarus und der Ukraine das AKSE-Abkommen mittlerweile ratifiziert
und implementiert haben, argumentiert die NATO: Zusammen mit dem AKSE-Abkommen seien 1999
die Istanbuler Verpflichtungen eingegangen worden. Damit habe sich Russland zum Rückzug
seiner verbliebenen Truppen aus Moldawien und Georgien verpflicht. Dieser sei bislang noch
immer nicht vollständig abgeschlossen.
Tatsächlich hatten sich die NATO-Außenminister ein halbes Jahr nach dem Istanbuler
Gipfel aus Protest gegen den Tschetschenienkrieg in Florenz einseitig darauf fest, das
AKSE-Abkommen erst zu ratifizieren, wenn der Abzug Russlands aus Georgien und Moldawien
umgesetzt sei. Damit verzögerten sie zugleich den Beitritt neuer Mitglieder zum
KSE-Regime, denn der alte KSE-Vertrag kennt keine Klausel für den Beitritt neuer
Mitglieder.
NATO im Zugzwang
Russland akzeptiert diese Argumentation nicht. Die Ratifizierung des AKSE-Vertrages sei
von der NATO in Florenz einseitig an den vollständigen Truppenabzug Russlands gebunden
worden. Russland habe den Abzug politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu einem
bestimmten Termin zugesagt und zudem seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum
größten Teil erfüllt. Mit Georgien habe man sich auf einen Stationierungsvertrag und
einen Abzug bis 2008 geeinigt und diesen auch bereits teilweise umgesetzt. In Moldawien
seien nur noch 500 Soldaten zur Bewachung eines riesigen Depots, das keinesfalls
unbeaufsichtigt bleiben könne bis es endgültig geräumt sei.
In der NATO gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Russland genug getan
habe, um mit der Ratifizierung des AKSE-Vertrages zu beginnen. Deutschland würde
akzeptieren, dass eine zeitlich begrenzte per Vertrag geregelte Anwesenheit russischer
Truppen in Georgien und Moldawien kein Hindernis darstellt, um den AKSE-Vertrag heute zu
ratifizieren. Allerdings ist dies Berlin keinen Streit in der NATO wert. Die USA dagegen
haben einen vollständigen Abzug aller russischen Soldaten zur Voraussetzung für
westliche Ratifizierungsschritte gemacht. Sie zeigen auch hier wenig Interesse an
vertraglicher Rüstungskontrolle. Die baltischen Staaten verzichten gerne noch länger auf
einen Beitritt zu KSE-Regime, da sie bis damit weiterhin keinerlei Beschränkungen
unterliegen vor allem im Blick auf Verstärkungen aus anderen NATO-Staaten.
Mit der Ankündigung, das KSE-Vertragssystem notfalls gänzlich in Frage zu stellen,
bringt Wladimir Putin die NATO in Zugzwang. Sie muss diskutieren, was ihr der
"Eckpfeiler europäischer Sicherheit" und die vertraglich vereinbarte
Rüstungskontrolle wert sind. Russland hat seiner Forderung inzwischen Nachdruck
verliehen, indem es seine Informationspflichten über Truppenverlegungen aus dem
AKSE-Vertrag nicht mehr umsetzt. Unterstützt von dem Bekenntnis, Moskau könne auch ohne
den Vertrag leben, verstärkt sich der Druck auf die europäischen NATO-Mitglieder. Vor
allem sie haben ein Interesse daran, Russland weiterhin in das KSE-System eingebunden zu
wissen. Das macht russische Verhandlungsangebote für viele Europäer in der NATO
interessant. Aber auch für Washington und die Garde derer, die Rüstungskontrollverträge
vor allem als Beschränkung der eigenen Handlungsfreiheit betrachten? Intensive
Diskussionen sind vorprogrammiert.
Die westliche Entscheidung über die Zukunft des KSE-Regimes kann aus russischer Sicht
pars pro toto betrachtet werden. Wie kooperativ oder konfrontativ, mit oder gegen Russland
wird die NATO künftig europäische Sicherheit ausgestalten? Wird eine Koalition der
Willigen aus den USA und einigen NATO-Mitgliedern Russland die Mitsprache verweigern oder
gar russische Interessen ignorieren? Wird das Raketenabwehrsystem der USA gegen den Willen
Moskaus gebaut? Versucht der Westen, die Unabhängigkeit des Kosovos gegen Moskau
durchzudrücken in der Hoffnung, Russland werde letztlich die Macht des Faktischen
akzeptieren? Hält die politische Zusage der NATO, keine Nuklearwaffen oder nuklearen
Trägersysteme in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren? Wird der NATO-Russland-Rat
wie einst versprochen zu einem Gremium ausgebaut, in dem Russland und die NATO-Mitglieder
auch gemeinsam bedeutsame Entscheidungen treffen können? Oder bleibt es dabei, dass
Moskau nur informiert, aber nicht wirklich konsultiert wird?
Aus der Sicht Wladimir Putins dürfte die NATO-Debatte über die Zukunft des
KSE-Systems ein guter Indikator dafür sein, in welche Richtung die Entwicklung geht.
Zudem offeriert dieser Streitpunkt ihm eine persönliche Chance: In die Geschichtsbücher
Russlands wird Wladimir Putin ziemlich sicher als jener Präsident eingehen, der den
politischen und wirtschaftlichen Niedergang gestoppt und dem Land seine Würde
wiedergegeben hat. Mit einer strategischen Debatte, in der die NATO entscheiden muss, ob
sie die Sicherheit Europas mit oder gegen Russland gestalten will, kann es Putin gelingen,
Gleiches auch in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen. Ein Risiko geht er dabei
nicht. Die Entscheidung, ob Russland wirklich aus dem KSE-Regime ausscheidet, fällt
bereits sein Nachfolger.

ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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