Diplomatisches Mikadospiel
von Otfried Nassauer
Oft ist es Diplomatie, wenn mit vielen wohlklingenden Worten wenig Substantielles
gesagt wird. Oft sind es Politiker, die mit langen verschwurbelten Satzungetümen
wenig Konkretes sagen. Bei Großereignissen – wie dem Treffen der
NATO-Außenminister der NATO am 22/23. April in Tallin – bieten Arbeitsessen
die Möglichkeit, Klartext zu reden oder die eigene Fähigkeit
als diplomatischer Politiker und politische Diplomatin unter Beweis zu
stellen. Der unschätzbare Vorteil der Diskussion während der
Nahrungsaufnahme: Es wird kein Protokoll geführt.
In Tallin war es Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, die
ihre Befähigung als Diplomatin und Politikerin unter Beweis stellte. Überliefert
ist das, weil es kein Protokoll, wohl aber einen Sprechzettel gibt. Dem
ist zu entnehmen, daß Frau Clinton unter anderem sagte: „Wir sollten
anerkennen, daß die NATO eine nukleare Allianz bleibt so lange Nuklearwaffen
existieren.“ Das ist Klartext. Und weiter: „Bei allen künftigen Reduzierungen
[im nuklearen Bereich] sollte es unser Ziel sein, Rußlands Zustimmung
zu einer größeren Transparenz bei nichtstrategischen Nuklearwaffen,
eine Redislozierung dieser Waffen weg von den Grenzen der NATO-Staaten
und zur Einbeziehung nicht-strategischer Nuklearwaffen in die nächste
Runde amerikanisch-russischer Rüstungskontrolldiskussionen zu erreichen,
zusammen mit den nicht-stationierten strategischen Nuklearwaffen.“ Das
ist die hohe Kunst des Verschwurbelns – Diplomatie. Um einen solchen Satz
vortragen zu können, ist ein Sprechzettel vonnöten. Vor allem
beim Abendessen. Man könnte sich an ihm verschlucken.
Doch was hat Frau Clinton denn nun gemeint? Beginnen wir von vorne: Vor
Verhandlungen über Rüstungskontrollabkommen steht in der Regel
eine Einigung, worüber verhandelt werden soll. Diese zieht sich meist
länger hin als die Verhandlungen selbst. Besonders dann, wenn die
Hürden so hoch gelegt werden wie von Hillary Clinton. Rußland
nennt seit Jahren nur eine Vorbedingung für Gespräche über
taktische Atomwaffen: Alle Waffen müssen auf dem Territorium des Staates
liegen, dem sie gehören. Frau Clinton hat jetzt vier Bedingungen aufgestellt.
Drei gelten Moskau: Vor Gesprächen soll Rußland Transparenz
schaffen, sagen wie viele taktische Nuklearwaffen es besitzt und wo diese
liegen. Es soll bewegt werden, die Waffen, die im Westen Russland stationiert
sind, möglichst weit ins Innere Rußlands zurückzuziehen
und es soll außerdem Gesprächen über nicht-stationierte
strategische Nuklearwaffen zustimmen. Stattliche Vorbedingungen, zumal
mit ihnen auch Neuland betreten würde: Verhandlungen über nicht-stationierte
strategische Nuklearwaffen gab es bislang nicht. Oder sind das gar keine
Vorbedingungen, sondern erwünschte Gesprächsergebnisse?
Auch ein Blick in den Nuclear Posture Review (NPR), jenen Bericht, mit
dem Obama-Administration Kongress und Öffentlichkeit eine Blaupause
ihrer künftigen Nuklearpolitik vorgelegt hat, bringt keine Lösung.
Clintons Punkte finden sich im NPR, unklar aber bleibt, ob es sich um Vorbedingungen
oder Ergebniswünsche handelt. Im NPR ist eine Modernisierung der nuklearfähigen
taktischen Jagdbomber der USA (F-16 und F-15E) durch eine neue Version
des Joint Strike Fighters vorgesehen. Und eine Runderneuerung der Nuklearbombenfamilie
B-61, also auch der in Europa lagernden Modelle B-61-3 und –4. Ein neues
Modell, die B-61-12, soll sie ab 2018 ablösen. Fast zwei Milliarden
US-Dollar sind für 2011-2015 in die Planung eingestellt. Die als Lebensdauerverlängerung
bezeichnete Maßnahme ermöglicht eine Modernisierung der meisten
nicht-nuklearen Komponenten dieser Bomben und – nach gesonderter Autorisierung
durch den Präsidenten – auch eine Überarbeitung der nuklearen,
also ein praktisch neue Waffe. Unterschiede zu den Plänen für
eine neue Generation nuklearer Waffen, die Verteidigungsminister Gates
und der Chef der zuständigen NNSA, D’Agostino unter George W. Bush
verfolgten, sind kaum auszumachen. Barack Obamas Vorgabe, keine neuen Nuklearwaffen,
keine Nuklearwaffen mit neuen Fähigkeiten und keine Atomwaffen für
neue Aufgaben zu entwickeln, steht damit auf dem Prüfstand der innenpolitischen
Auseinandersetzung mit Militär, nuklearindustriellem Komplex und republikanischer
Opposition.
Mit dieser Entscheidung werde sichergestellt, daß „die USA die Fähigkeit
beibehalten, Nuklearwaffen in Erfüllung ihrer Bündnisverpflichtungen
vorgeschoben zu stationieren“, hält der NPR fest. Das nehme „die Ergebnisse
künftiger Entscheidungen in der NATO über die Notwendigkeit der
nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe nicht vorweg“, sondern
halte „alle Optionen offen“. Änderungen sollen nach Diskussion in
und „auf Entscheidung der Allianz“ erfolgen. Das erfordert Einstimmigkeit
und gibt jedem NATO-Mitglied die Möglichkeit, einen Abzug der Nuklearwaffen
aus Europa durch sein Veto zu verhindern. Die Modernisierung der Trägerflugzeuge
und nuklearen Bomben erfolge „unabhängig“ davon, wie die NATO sich
entscheidet.
Eine vierte Bedingung Clintons gilt der NATO und stammt aus dem Ballistic
Missile Defense Review, einem weiteren Planungspapier aus dem Pentagon.
„Die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen
kann durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten
reduziert werden“, heißt es dort. Auch das eine hohe Hürde,
wenn es zur Vorbedingung für Gespräche über die substrategischen
Nuklearwaffen in Europa gemacht werden sollte.
Man könnte meinen, es sei angerichtet: Hillary Clinton habe deutlich
gemacht, daß präjudiziert ist, was vorgeblich nicht präjudiziert
werden soll: Nuklear bleibt in der NATO alles beim Alten. Doch ganz so
einfach ist es nicht. Denn es gibt auch eine andere Lesart: Da es unter
den europäischen NATO-Staaten keinen Konsens über die Zukunft
der in Europa gelagerten Atombomben gibt, will Washington nicht unilateral
a la George W. Bush entscheiden. Die NATO-Staaten sollen sehen, das Washington
es wieder ernst meint mit dem Multilateralismus. Und sie sollen die Last
der Entscheidung mit tragen. Denn für die USA gibt es mehrere Optionen:
Erstens: Alles bleibt beim Alten, und die Waffen bleiben in Europa, werden
aber modernisiert. Zweitens: Washington modernisiert sie, lagert sie aber
künftig in den USA, um sie im Bedarfsfall nach Europa zu bringen.
Oder sie werden drittens durch erfolgreiche Gespräche mit Rußland
noch rechtzeitig überflüssig. Bis die NATO zum Konsens findet,
wird der Ball zur Entlastung der Allianz in die Moskauer Hälfte gespielt.
Auch so kann man es lesen.
Möglicherweise gibt es aber auch eine dritte Erklärung für
die mangelnde Klarheit: Vor dem Streitkräfteausschuss des Senates
bemerkte Kevin Chilton, Kommandeur des Strategischen Kommandos der US-Streitkräfte
kürzlich: „Trotz des komplexen Umfelds [der aktuellen Abschreckungsdebatte]
haben wir eine ganze Generation künftiger politischer Entscheidungsträger,
Strategen, Akademiker und professioneller Militärs in Sachen Ausbildung
und Training auf dem Gebiet der Abschreckung ausgelassen. Die Vorarbeiten
am NPR und für den neuen START-Vertrag haben dieses Fehl an menschlichem
Kapital offengelegt.“ Nicht zuende Gedachtes kann auch zu überkomplexen
Positionen und diplomatischen Mikadospielen führen, bei denen verloren
hat, wer sich zuerst bewegt.
Guido Westerwelle, unser Außenminister mit Abzugswunsch für
die Atomwaffen in Europa, hat möglicherweise vor dieser Komplexität
kapituliert. Er sagte in Tallin: „Niemand hat je die Devise ausgegeben,
daß dies in wenigen Jahren erreichbar wäre. Keiner ist naiv.“
Vielleicht war das aber auch das Eingeständnis, sich zu früh
bewegt zu haben.

ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
|