Für eine Sicherheitspolitik aus einem
Guß von Otfried Nassauer
Zugleich entstand mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die in einer Gemeinsamen Europäischen Verteidigungspolitik münden soll, ein neuer, zusätzlicher Bezugsrahmen für deutsche Sicherheitspolitik und natürlich auch für die Bundeswehr. Zu Europas militärischen Fähigkeiten muß die Bundeswehr einen angemessenen, substantiellen Beitrag leisten, wenn es mit der EU weiter voran gehen soll. Der ESVP-Prozeß impliziert, daß Sicherheitspolitik in Europa künftig in wachsendem Maße nicht mehr national, sondern in multinationaler Kooperation oder gar supranational gestaltet werden wird. Soll die Neuausrichtung und die längst überfällige Modernisierung der Bundeswehr zukunftsfähig sein, so muß sie im Licht vor allem dieser beiden Entwicklungen vorgenommen werden: Der veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, Risiken und Aufgaben und der fortschreitenden europäischen Integration. Wir plädieren deshalb angesichts dieser Rahmenbedingungen alternativlos für eine integrierte, auf das künftige Europa ausgerichtete "Sicherheitspolitik aus einem Guß". Zu dieser müssen in den kommenden Jahren alle Gestaltungsmittel der Außen- und Sicherheitspolitik, von humanitärer Hilfe und Sanktionen über Entwicklungspolitik, Außenwirtschaftspolitik, internationale Finanzpolitik, Rüstungsexporte, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung bis hin zu den Mitteln des zivilen und militärischen Krisenmanagements verzahnt und integriert werden. Die dringend notwendige Modernisierung der Bundeswehr im europäischen Kontext ist ein Teil dieses Prozesses.
2. Sicherheitspolitik als Friedenspolitik
3. Sicherheitspolitik im Wandel Diese Prozesse nehmen keine Rücksicht auf ungleich verteilte Ressourcen, Produktionsmittel oder Bildungschancen. Transformation und Globalisierung verstärken soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen mit der Konsequenz wachsender Konfliktpotentiale. Dabei besteht in vielen Fällen eine wachsende Gefahr, daß sie gewaltförmig ausgetragen werden, wenn es nicht rechtzeitig gelingt, sie politisch zu regulieren. Immer mehr Staaten, die auf der Verliererseite der Transformationsprozesse stehen oder deren Eliten es dem Staatserhalt vorziehen, ihre Gesellschaften zum eigenen, privaten Nutzen auszubeuten, zerfallen mit der Konsequenz der Entstaatlichung und des Verlustes der staatlichen Kontrolle über die Gewaltmittel. Die private Kontrolle über Gewaltmittel gewinnt dagegen an Bedeutung, u.a. als Instrument der Privilegienabsicherung. Vielerorts verliert das staatliche Gewaltmonopol an Bedeutung. Der durch Globalisierung und Liberalisierung in seinen Handlungsmöglichkeiten bereits eingeschränkte Staat bekommt auch im Blick auf sein außen- und sicherheitspolitisches Handlungsinstrumentarium Konkurrenz durch nichtstaatliche Akteure konstruktiv (z.B. Nichtregierungsorganisationen, Think Tanks) wie destruktiv (Terroristen, Söldner, Privatarmeen). Während die Relevanz größerer zwischenstaatlicher Kriege derzeit abnimmt, gewinnen innerstaatliche und sogenannte "kleine Kriege" an Bedeutung. Diese erfassen oft alle Lebensbereiche und die gesamte Gesellschaft, die letztlich zu einer Kriegsgesellschaft retardiert, in der Erwerb, Sicherheit und Freiheit der Menschen von der Kriegführung bestimmt oder beeinflußt werden. Die Gewaltformen kleiner Kriege überlappen oft mit jenen von Terrorismus, Organisierter Kriminalität, privatisierter Gewalt sowie anderen asymmetrischen Formen der Gewaltausübung. Gewaltförmige Konfliktaustragung und Krieg werden zur Lebensform, in der die klare Unterscheidung von Zivilbevölkerung und Kombattanten nicht länger existiert, das humanitäre Kriegsvölkerrecht an Bedeutung und Bindungswirkung verliert. Die mit kleinen Kriegen verbundene Ökonomisierung des Krieges verstärkt Not, Gewalt und Unfreiheit gleichermaßen und unterbindet damit oft alle Chancen zu demokratischer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung und damit die wirksamste Prävention gegen Krieg. Die Deregulierung der internationalen Ordnung von unten, durch den Zerfall der Schwachen, schreitet fort. Auf sie mit einer Deregulierung der internationalen Ordnung von oben, durch die Starken zu antworten, vergrößert die den Konflikten zu Grunde liegenden Probleme und verknappt die Ressourcen, mit denen eine kooperative Weltordnung gestaltet, Krisen vorgebeugt und Konfliktaustragung zivilisiert werden kann. Denn: Das Recht der wenigen Starken würde gestärkt und die Schutzwirkung des Rechtes für die Schwachen würde erodieren. Für die Staaten des Nordens, insbesondere die westlichen Industriestaaten bedeutet diese Entwicklung: Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler Territorien gegen einen klassischen, staatlich geführten, militärischen Angriff von außen sind als Bedrohung auf absehbare Zukunft unwahrscheinlich. Die Bundesrepublik Deutschland ist beispielsweise von Freunden und Bündnispartnern umzingelt. Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht angesichts ihrer weit überlegenen militärischen Fähigkeiten ein klassischer militärischer Angriff durch einen Staat oder eine Staatenkoalition, der erfolgversprechend sein könnte. Frühere potentielle potente Gegner wie Rußland haben heute ein wohlverstandenes, genuines Eigeninteresse an sicherheitspolitischer Zusammenarbeit, da sie von Kooperation profitieren, unter Konkurrenzbedingungen aber nur verlieren können. Mithin konzentriert sich die Debatte über die Zukunftsaufgaben von Militär und Sicherheitspolitik in Deutschland, Europa und den industrialisierten Ländern zunehmend auf sicherheitspolitische Restrisiken. Oft werden diese fälschlicherweise als "neue Risiken" bezeichnet. Drei Kategorien solcher Restrisiken und den möglichen Kombinationen aus ihnen wird dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dies sind Risiken, die
Hinsichtlich aller drei Kategorien von Restrisiken wird oft von asymmetrischen Risiken gesprochen, da sie keine klassische Kriegsherausforderung militärischer Art, wohl aber probate Formen der gewaltförmigen Auseinandersetzung zwischen höchst ungleich gerüsteten Gegnern darstellen können. David sucht seine Chance gegen Goliath. Die sicherheitspolitische Restrisiken werden hinsichtlich ihres Potentials als akute Bedrohung unterschiedlich bewertet und gewichtet. Jenseits des Atlantiks geschieht dies unter dem Vorzeichen des Traumes von der Unverwundbarkeit und deshalb oft auf Basis einer Worst-Case-Analyse. Deshalb entsteht of der Eindruck, die Gefährdung sei vergleichbar oder gar dringlicher als die Gefährdungen während des Kalten Krieges. Ihr könne nur rechtzeitig und mit vorrangig militärischen Mitteln begegnet werden. In Europa dagegen steht die Diskussion dagegen oft unter dem Vorzeichen der Erkenntnisse aus einer gegen Ende des Kalten Krieges geführten Diskussion über die Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften. Deren Ergebnis Industriegesellschaften sind Risikogesellschaften, in denen ein vollständiger Schutz der Bevölkerung nicht möglich ist und die deshalb nicht vollständig verteidigt werden können führt zu einer anderen Bewertung des akuten Bedrohungspotentials: Es geht um Restrisiken, gegen die Vorsorge möglich ist, die aber letztlich nicht völlig ausgeschaltet werden können. Gemeinsam ist den postindustriellen Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks, daß ihnen ihre strukturelle Verwundbarkeit angesichts asymmetrischer Gewaltformen zunehmend bewußt wird. Ihnen wird deutlich, daß globale Veränderungen, von denen sie selbst wirtschaftlich und politisch profitieren, diese Restrisiken mit verursachen und verstärken. Sie müssen erkennen, daß die Risiken für ihre Sicherheit interdependent und überwiegend nicht militärisch zu bewältigen sind. Und sie müssen erkennen, daß Sicherheitsvorsorge nicht mehr allein national oder ausschließlich auf dem eigenen Territorium wahrgenommen werden kann, da globale und regionale Antworten vonnöten sind. Diese können nur erfolgversprechend praktiziert werden, wenn sie ressortübergreifend entwickelt und umgesetzt werden. Der sicherheitspolitische Lern- und Anpassungsbedarf ist in den einzelnen postindustriellen Gesellschaften unterschiedlich und unterschiedlich groß. Auch zu Zeiten des Kalten Krieges war die Bedrohungswahrnehmung in den NATO-Staaten nicht identisch, sondern nur ähnlich. Eine kooperative, multipolare Weltordnung zu gestalten, Konfliktaustragung zu zivilisieren und staatliche wie nichtstaatliche Akteure, die konstruktive Beiträge leisten können, zu entwickeln, ist nur möglich, wenn Friedenspolitik als Querschnittsaufgabe betrachtet wird, wenn alle verfügbaren Instrumente verzahnt und integriert werden. Die Ressourcenverteilung zwischen den Instrumentarien einer solchen Friedenspolitik muß überprüft und an neuen Prioritäten ausgerichtet werden. Soll kooperative Multipolarität zum Paradigma internationaler Ordnung werden, so müssen die nationalen, supranationalen (EU), multinationalen (NATO) und internationalen Instrumente (Vereinte Nationen, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Internationaler Währungsfond, Weltbank) an diese Aufgabenstellung angepaßt und gestärkt werden. Globalisierter Unsicherheit und privatisierter Gewalt kann wirksam nur mit einer multilateralen Politik für umfassende und gemeinsame Sicherheit und an Gerechtigkeit orientierten Friedensprozessen begegnet werden. Europa steht hierfür angesichts seiner historischen Erfahrung und Potentiale in besonderer Verantwortung. Der Früherkennung von (gewaltförmigen) Konflikten und der Gewaltprävention muß Vorrang vor deren Eindämmung und Einhegung zukommen. Der Gewalteindämmung und -einhegung muß Vorrang vor der Bekämpfung von Gewalt mit Gewalt, d.h. vor Interventionen zukommen. Ein möglichst breit abgestütztes multilaterales und multinationales Vorgehen muß Vorrang vor eng begrenzten Koalitionen oder gar nationalen Alleingängen haben. Die Arbeit für eine kooperative, multipolare Weltordnung schafft bessere Voraussetzungen für erfolgreiche Entwicklung, Konfliktbegrenzung und Krisenprävention als jede andere Herangehensweise. Staatliche und nicht-staatliche gesellschaftliche Kräfte müssen bei der Förderung von Demokratie, wirtschaftlicher Entwicklung, politischer Stabilität und somit bei der Gewaltprävention zusammenwirken.
4. Europäische Sicherheitspolitik Europas Beitrag zur
Friedenspolitik Europa hat ein starkes Interesse daran, aktiv und auf strategischer Ebene mitzuentscheiden wie mit Krisen und Konflikten umgegangen wird. Dieses Interesse kann nur effizient wahrgenommen werden, wenn auch auf europäischer Ebene eine Sicherheitspolitik aus einem Guß entsteht, zu der alle Instrumente des sicherheitspolitischen Handelns verzahnt und integriert werden. Es bedarf einer dreifachen Integration:
Das Interesse Europas erfordert glaubwürdige eigene Fähigkeiten und Kompetenzen, um sich in Krisen und Konflikten zu engagieren. Dazu gehören u.a. auch militärische Fähigkeiten. Sie können zur Absicherung des Engagements beim zivilen Krisenmanagement dienen, können präventiv zur Verhinderung gewaltförmiger Konflikte beitragen und notfalls zur autonomen Kriseneindämmung und beendigung eingesetzt werden. Europa kann und sollte weder die Vereinigten Staaten und deren militärische Fähigkeiten kopieren, noch sich auf Modelle der Risiko-, Lasten- und Arbeitsteilung beschränken, die eine Mitsprache über die Strategie, mit der auf künftige Krisen reagiert werden soll, nicht sicherstellen. Vielmehr müssen europäische Fähigkeiten so bemessen sein, daß sie ein begrenztes, eigenständiges Handeln Europas und zugleich einen erkennbaren, substantiellen Beitrag in der Zusammenarbeit mit den USA oder mit anderen großen Akteuren ermöglichen. Die EU muß dabei von einem erweiterten Sicherheitsbegriff und einem erweiterten Begriff der Lastenteilung ausgehen, will sie nicht selbst das Licht ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zur Lasten- und Arbeitsteilung und zum Krisenmanagement unter den Scheffel stellen. Die Europäische Sicherheitspolitik sollte darauf ausgerichtet werden, die Vorrangigkeit nicht-militärischen Krisenmanagements zu beachten, die Vereinten Nationen und die OSZE zu stärken und zu unterstützen, begrenzte Fähigkeiten zu eigenem, autonomem Krisenmanagement bereitzustellen sowie zur Kooperation mit den USA befähigt zu sein. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muß deshalb künftig die Fähigkeiten besitzen, Friedensmissionen im Rahmen der Vereinten Nationen und der OSZE ohne geographische Begrenzung zu unterstützen, Aufgaben in Kooperation mit der NATO zu erfüllen, Partner bei der Gestaltung von Weltordnung in begrenztem Umfang zu unterstützen sowie Konflikte und Krisen in Europa und den angrenzenden Regionen eigenständig und erfolgreich einzudämmen. Eine Europäische Sicherheitspolitik, die glaubwürdige Fähigkeiten besitzt, um diese Aufgaben zu erfüllen, stärkt den europäischen Pfeiler und damit das Gewicht und den Einfluß Europas in der NATO und sichert Europa die Möglichkeit, mitzuentscheiden, wie auf künftige Krisen reagiert wird. Die weitere Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in all ihren Dimensionen ist Bezugs- und Orientierungspunkt für die Weiterentwicklung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
5. Deutsche Sicherheitspolitik mit europäischer Perspektive Die Aufgabe, eine europäische Sicherheitspolitik aus einem Guß zu entwickeln, bietet Deutschland die Chance, gestaltend an der Weiterentwicklung der ESVP mitzuwirken, auf diese Einfluß zu nehmen und mit gutem Beispiel voranzugehen, wenn es heißt, in Europa bestehende und neu zu schaffende Fähigkeiten und Instrumente zur Gestaltung von Weltordnung zu integrieren und auf Wirksamkeit auszurichten. Dies gilt für alle Instrumente der Sicherheitspolitik, auch für die militärischen. Die Modernisierung der Bundeswehr, die Neuausrichtung deutscher Streitkräfte muß deshalb europäisch orientiert werden. Nur so kann die Bundesrepublik der Tatsache gerecht werden, daß ihr bei der Weiterentwicklung der ESVP eine gewichtige (aber nicht die alleinige) Führungsrolle zu fällt.
6. Die Bundeswehr ein Beitrag zur Sicherheitspolitik Einsätze der Bundeswehr müssen auf die Ziele deutscher und europäischer Sicherheitspolitik ausgerichtet sein. Sie müssen unbezweifelbar und unmittelbar zur Minimierung von Not, Gewalt und Unfreiheit beitragen und einen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung einer von kooperativer Multipolarität geprägten Weltordnung leisten. Da Sicherheit nicht mehr vorrangig militärisch zu gewährleisten ist, muß davon ausgegangen werden, daß die Bundeswehr nur eines der möglichen verschiedenen Instrumente ist, die im Kontext einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit in einer Krise zum Einsatz kommen. Da Sicherheit nicht mehr national, sondern nur noch in regionaler und internationaler Kooperation gewährleistet werden kann, wird die Bundeswehr ihren Beitrag zur Sicherheitspolitik so gut wie immer in multinationaler Zusammenarbeit erbringen. Der Zusammenarbeit in Europa kommt dabei eine wachsende Bedeutung zu. Beides muß bei der Planung der Bundeswehr der Zukunft berücksichtigt werden; zu beidem muß die Bundeswehr verstärkt befähigt werden. Die Modernisierung der Bundeswehr, die Neuausrichtung deutscher Streitkräfte auf ihre Aufgabe als ein Instrument einer ressortübergreifenden Sicherheitspolitik ist angesichts der Vielzahl und Geschwindigkeit globaler Veränderungen kein einmaliger Vorgang, sondern eine Daueraufgabe. Es bedarf einer ständigen Weiterentwicklung der Bundeswehr. Ihre Modernisierung sollte europäisch ausgerichtet werden. Das Festhalten an überkommenen Formen nationaler Sicherheitsvorsorge führt zu unnötigen Duplizierungen, zu höheren Kosten, zu Effizienzverlusten, Modernisierungsverzögerungen und zu einer abnehmenden Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit den USA und anderen Partnern. National wie europäisch sind leistungsfähigere Streitkräfte bei geringerem Mittelaufwand möglich, wenn nationale Streitkräfteplanungen europäisch ausgerichtet werden und eine europäische Streitkräfteplanung in Angriff genommen wird. Die Addition nationaler Fähigkeiten und Planungen muß durch eine integrierte, europäische Planung abgelöst werden. Die Neuausrichtung und Modernisierung der Bundeswehr bietet die Chance, daß Deutschland hier mit gutem Beispiel vorangeht. Die Bundeswehr der Zukunft ist ein Beitrag der Bundesrepublik zur Weiterentwicklung einer europäischen Sicherheitspolitik. Sie kann gezielt auf europäisch nutzbare Fähigkeiten ausgerichtet werden, Fähigkeiten, die z.B. den kleineren europäische Staaten eine Mitwirkung ermöglichen, die sie sich national nicht mehr leisten könnten.
7. Eckpunkte für eine europäisch-orientierte Modernisierung der
Bundeswehr Die Planung der Bundeswehr der Zukunft muß sich vom Nachfolgedenken bei Wehrform, Strukturen und Waffenplattformen lösen. Nicht die Frage "Welcher Panzer ersetzt den Leopard II?" oder "Welche Struktur hat die Luftwaffe im Jahr 2015?" sollte die Modernisierung der Bundeswehr leiten, sondern die Frage "Welche Fähigkeiten kann die Bundeswehr im europäischen Kontext im Jahre 2015 bereitstellen, damit sie einen angemessenen, kompetenten und einsatzorientierten Beitrag zu einer europäischen Sicherheitspolitik im Risikoumfeld des Jahres 2015 leisten kann. Wie kann dieser Beitrag heute am effektivsten und kosteneffizient auf den Weg gebracht werden?" Dies muß die Frage implizieren: "Welche Fähigkeiten besitzen die europäischen Partner und welche besitzen sie nicht oder nur in unzureichendem Maße?" Eine vorausschauende Planung für die Bundeswehr der Zukunft muß sich am künftigen Fähigkeitsbedarf europäischer Sicherheitspolitik orientieren und schon heute dazu beitragen, dort absehbare Lücken zu schließen. Dies kann durch nationale Beiträge und durch multinationale Kooperation innerhalb der Europäischen Union geschehen. Im Idealfall können mit Hilfe der Modernisierung der Bundeswehr sogar Lücken in Bereichen europäischer Fähigkeiten geschlossen werden, die zugleich Schwachstellen der NATO und der USA darstellen (z.B. mobile Führungseinrichtungen, Systeme zur Unterdrückung gegnerischer Luftabwehr, Drohnen und unbemannte Flugkörper, luftgestützte Führungssysteme, Luftbetankung etc.). Europas und Deutschlands Rolle würde durch eine solche konstruktive Duplizierung von Fähigkeiten in der NATO gestärkt. Mit anderen Worten: Die Bundeswehr bedarf einer Modernisierung rundum. Wehrform, Strukturen, Ausrüstung und Einsatzkonzepte müssen zukunftsfähig gemacht werden. Selbst die Art der Planung für die Bundeswehr der Zukunft bedarf der Innovation. Eine modernisierte auf die Weiterentwicklung der europäischen Sicherheitspolitik ausgerichtete Bundeswehr - kann auf Basis der folgenden Eckpunkte konzipiert werden:
Personal und Wehrform Die erforderlichen Umstrukturierungen der Bundeswehr müssen sozialverträglich vorgenommen werden, die berechtigten Interessen der betroffenen Soldaten sind zu wahren und den Bundeswehr-Beschäftigten dürfen keine Lasten aufgebürdet werden, die aus verzögerten politischen Entscheidungen resultieren.
Strukturen Die klassischen Teilstreitkräfte verlieren an Bedeutung. Organisationsstrukturen, die missionsbezogen Fähigkeiten bereitstellen, gewinnen an Bedeutung, ebenso wie teilstreitkraftübergreifende Strukturen, die sich in multinationale Strukturen integrieren lassen. Die Fähigkeit zu Multinationalität und Interoperabilität müssen bis auf die taktische Ebene hinunter gewährleistet werden. Die Bundeswehr muß in der Zukunft Führungs-, Konsolidierungs- und Wirkungskräfte bereitstellen. Zu den Führungskräfte gehören national und europäisch weitgehend vernetzte, deutlich verbesserte Komponenten zur Führung, Informations- und Nachrichtengewinnung, zum Informationsmanagement sowie zur Aufklärung. Diese müssen die Zusammenarbeit in der EU und der NATO aber auch mit anderen Partnern im Rahmen internationaler Operationen ermöglichen. Zur Führung gehört auch eine auftrags- und einsatzgebundene Logistik. Die Führungskräfte der Bundeswehr müssen so ausgelegt sein, daß sie die Bundeswehr in allen Einsatzarten von der einem Krieg vorbeugenden Friedensmission bis hin zu einem Kampfeinsatz unterstützen können. Sie leisten zudem jederzeit einen Beitrag zur sicherheitspolitischen Lagebeurteilung der Bundesregierung. Die Konsolidierungskräfte bestehen aus einer Vielzahl von Elementen, die in der Lage sind, zu Gewaltprävention, Krisenmanagement und Krisennachsorge wie z.B. zur Nationenbildung beizutragen. Sie sollten aus militärisch organisierten, bewaffneten polizeiähnlichen Kräften bestehen. Nichttödliche Wirksysteme gewinnen für ihre Ausstattung ebenso an Bedeutung wie modernste Ausrüstung für leichte, infanteristische Einheiten. Die Konsolidierungskräfte müssen mit nichtmilitärischen Krisenmanagementkräften zusammenwirken können. Dazu gehören beispielsweise Kräfte zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Intervention, zur Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Terrorismus, Experten aus den Bereichen Verwaltung, Soziales, Infrastruktur, Justiz, Zivilschutz, usw.. Die Fähigkeit zu einer wesentlich intensiveren Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen muß ebenfalls gegeben sein. Die Wirkungskräfte schließlich bestehen aus kleinen, vorne eingesetzten Einsatzelementen und auf Distanz wirkenden Kräften. Erstere müssen in der Lage sein, den jeweiligen Gegner aktuell aufzuklären, die aus der Distanz wirkenden Kräfte auch gegen zeitkritische Ziele zum Einsatz zu bringen und selbst begrenzte Wirkungen zu erzeugen. Die Wirkung umfaßt in Zukunft abgestufte Fähigkeiten zur Zerstörung, Lähmung, Unterbrechung einer breiten Palette von sehr unterschiedlichen Zielkategorien, die die Fähigkeit eines möglichen gegnerischen Akteurs, Krieg zu führen, ausmachen. Dem Schutz und der Abwehr von Gefahren durch Massenvernichtungswaffen aller Art muß ein besonderes Augenmerk gewidmet werden.
Haushalt
Ausbildungs-, Operations- und Einsatzkonzepte
Rüstung
Infrastruktur Auf nationaler Ebene könnte die Rationalisierung und Modernisierung der Bundeswehrinfrastruktur durch einen Ansatz unter der Überschrift "Von der Fläche in die Effizienz" gelingen. Effizienz meint Kosteneffizienz genauso wie Ausbildungs- oder Einsatzvorbereitungseffizienz. Dies impliziert, daß möglichst viele verbleibende Standorte zu wirtschaftlich tragfähigen Größenordnungen zusammengefaßt werden müssen. Dies sollte aus Kosten- und Zeitersparnisgründen an Standorten geschehen, deren Charakteristika an den Ausbildungs- oder Einsatzaufgaben der dort stationierten Verbände und Einheiten orientiert sind. Standorte der Bundeswehr sollten durch kurze Wege zu geeigneten Übungs- und Trainingseinrichtungen und hinsichtlich der Einsatzkräfte durch eine geeignete, leistungsfähige Transportinfrastruktur gekennzeichnet sein. Zu prüfen wäre beispielsweise die Zusammenfassung von Standorten in der Umgebung geeigneter, aufgabenspezifisch auszurichtender Truppenübungsplätze, um Zeit- und Kostenbedarf für Verlegungen zu Ausbildungszwecken zu reduzieren. Bei der Auswahl geeigneter Infrastruktur können (ehemalige) Liegenschaften der ausländischen Stationierungsstreitkräfte sowie Änderungen in deren Stationierungsplanung in Deutschland mit berücksichtigt werden. Eine europäisch-orientierte Modernisierung der Bundeswehr öffnet zudem den Blick für die Nutzung von Rationalsierungsmöglichkeiten im europäischen Kontext: Die Zusammenfassung von Ausbildungs-, Übungs- oder Wartungseinrichtungen für multinational genutzte Waffensysteme wäre ein erstes Beispiel dafür. Auch bei der Wahl von Ausbildungseinrichtungen für spezifische Einsatzaufgaben kommt eine multinationale Kooperation in Betracht. Sie fördert das multinationale Zusammenwirken und stärkt die Notwendigkeit der Interoperabilität. Die Modernisierung der Bundeswehr muß auch offen dafür gestaltet werden, daß andere europäische Nationen verstärkt Einrichtungen auf deutschem Boden nutzen und daß die Bundeswehr verstärkt Einrichtungen in anderen europäischen Ländern nutzt.
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ist freier
Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit
(BITS).
[1] Das vorliegende Diskussionspapier entstand als Gemeinschaftsprodukt einer kleinen Gruppe von Friedensforschern, Offizieren und politisch Engagierten beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. Otfried Nassauer verfaßte die Entwürfe und redigierte die Endfassung.
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