The European
30. November 2009


Kehrt marsch!

von Otfried Nassauer

Wer traf die Entscheidung, den Eindruck erwecken zu wollen, es habe keine zivilen Opfer beim Luftangriff in Kunduz gegeben? Und schlimmer noch: An dieser Darstellung auch festzuhalten, als gegenteilige Informationen vorlagen? Über eine "Kommunikationspanne" und deren politische Konsequenzen.

Chaostage in Berlin. In wenig mehr als 24 Stunden traten zurück: ein Minister, der nicht mehr anders konnte – Franz Josef Jung. Ein Verteidigungsstaatssekretär, der nicht mehr anders durfte – Peter Wichert. Und der oberste Soldat der Bundeswehr, der Generalinspekteur, der nicht mehr anders wollte – Wolfgang Schneiderhan. Drei Rücktritte in so kurzer Zeit – das hat wahrlich Seltenheitswert. Doch was war der Anlass? Offiziell “Informationspannen” im Verteidigungsministerium bei der Auswertung eines fatalen, von der Bundeswehr angeordneten Luftangriffs am 4. September nahe Kunduz. Dem Angriff fielen nach NATO-Angaben bis zu 142 Menschen, Aufständische und Zivilisten, zum Opfer. Einfacher gesagt: Zwei Minister glauben, man habe sie zu spät oder unvollständig informiert. Das habe sie zu nicht haltbaren Aussagen verleitet und mache die Rücktritte erforderlich. Ein Argument aus den Tiefen der Trickkiste des Primats der Politik.

Nicht der Luftangriff, dessen Zulässigkeit und die zivilen Opfer sind Gegenstand der Debatte und Grund der Demissionen, sondern die schnöde Frage, wer wem wann welche Akte nicht auf den Tisch gelegt hat und damit die vertrauensvolle Zusammenarbeit zerstörte. Wer so argumentiert, lässt tief blicken, dass es ihm um seine eigene weiße Weste geht.

Beginnen wir mit dem Kollateralschaden der Präzisionsbombe, die die Bild-Zeitung auf das Verteidigungsministerium abwarf, dem Rücktritt des Generalinspekteurs: “Melden macht frei.” Das beherzigt jeder Uniformträger. Kaum vorstellbar ist es deshalb, dass der Generalinspekteur der politischen Leitung des Ministeriums zentrale Informationen oder neue Berichte zu dem Luftangriff vorenthielt. Weder am 4. und 5. September, als erste Warnungen einliefen, die zivile Opfer für möglich hielten, noch am 15. September, als das bundeswehrgeführte Regionalkommando Nord in Masar-i-Sharif ausführlich und schriftlich berichtete, dass es wahrscheinlich zivile Opfer gab. Wichtige Dokumente gibt der Generalinspekteur unverzüglich an die politische Leitung weiter. Im Normalfall ist ein Staatssekretär sein Ansprechpartner, in wichtigen Fällen wird auch an den Minister gemeldet. Am 15. September war nur Verteidigungsstaatssekretär Wichert im Hause. Minister Jung machte der Schwarzwälder Rüstungsschmiede Heckler & Koch eine Wahlkampfaufwartung. Schneiderhan und andere Generale haben Minister Jung wiederholt gewarnt, zivile Opfer auszuschließen. Der aber schlug die Warnungen in den Wind. Zunächst leugnete er, den Bericht aus Masar zu kennen. Dann gab er zu, ihn für eine Untersuchung der NATO freigegeben zu haben. Nun will er ihn nicht gelesen haben. Vielleicht ein wenig näher an der Wahrheit.


Politische Entscheidungen während des Wahlkampfs

Entscheidender ist eine andere Frage: Wer traf die Entscheidung, den Eindruck zu wecken, es habe es keine zivilen Opfer gegeben, und an dieser Darstellung auch festzuhalten, als gegenteilige Informationen vorlagen? Das war eine Entscheidung der politischen Leitung des Ministeriums, die diese sich – während des laufenden Wahlkampfes – sicher nicht abnehmen ließ. Minister Jung und Staatssekretär Wichert verantworten sie. Der Generalinspekteur musste sie mittragen, auch wenn er sie nicht teilte. Zudem musste er seiner Fürsorgepflicht für die beteiligten Bundeswehrsoldaten gerecht werden. Dass die Entscheidung, möglichst wenig zu sagen, auf der politischen Ebene fiel, wurde auch deutlich, als der Generalinspekteur für das Ministerium zum Untersuchungsbericht der NATO Stellung nahm. Er bewertete die Entscheidung für den Luftangriff als “militärisch angemessen”, äußerte sich aber zur Frage der Zulässigkeit des Angriffs nicht. Fragen ließ Schneiderhan nicht wie geplant zu, da ihm die politische Leitung das Beantworten weiterer Fragen untersagt hatte.

Die Vorgänge sagen viel über die Arbeit im BMVg des Franz Josef Jung. Unter ihm wurde das Haus wiederholt zu einem Ort der Wirklichkeitsleugnung und Vertuschung, oft genug zum Entwicklungslabor orwellschen Newspeaks und zu einem Hort der Aufklärungsverhinderung. Jungs sprachliche Beschönigungen der Lage in Afghanistan sind Legende. Die Arbeit seines Pressesprechers Thomas Raabe und dessen Stellvertreters, Kapitän zur See Christian Dienst, kann getrost als Presseabwehrarbeit gewertet werden. Das Ministerium praktizierte regelmäßig Pressearbeit als PR und Öffentlichkeitsarbeit als OpInfo – Newspeak für psychologische Kriegführung. Transparenz – ein Fremdwort.


Schweres Erbe

Für den neuen Minister zu Guttenberg ist das ein schweres Erbe. Er trat mit dem Anspruch größtmöglicher Transparenz an und ahnt nun, dass die unter seinem Vorgänger praktizierte Vertuschungsmentalität ihm bereits das erste Kuckucksei ins Nest gelegt hat. Er hatte nach Lektüre des NATO-Berichtes gesagt: “Wenn das Ganze fehlerfrei vonstattengegangen wäre, komme ich auch zu dem Schluss, dass der Luftschlag hätte stattfinden müssen.” Nun muss er diese Bewertung wohl revidieren.

Trotz der drei Rücktritte soll es einen Untersuchungsausschuss zu dem umstrittenen Luftangriff geben. Das ist gut so. Es ist dem Ereignis angemessen und der Opfer würdig. Der Ausschuss bietet die Chance zu echter Sachaufklärung, da die Hauptverantwortlichen bereits zurückgetreten sind. Diese muss jetzt genutzt werden. Nicht nur, um die Details des tödlichen Luftangriffs bei Kunduz aufzuarbeiten und zu untersuchen, welche Fehler dabei und während der Aufarbeitung des Vorfalls gemacht wurden. Sondern auch, um herauszufinden, ob das Klima des Verschweigens und die aufklärungsfeindliche Haltung des BMVgs unter Franz Josef Jung noch an anderer Stelle Tretminen hinterlassen haben, die explodieren könnten. Im Blick auf den Afghanistaneinsatz und seine Bewertung oder bei der Bundeswehrreform könnte das gut der Fall sein. Wenn die politische Führung kommende Probleme nicht sehen will, “gibt” es bekanntlich immer weniger Probleme. Viel Arbeit also für den Untersuchungsausschuss.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS