Kehrt marsch!
von Otfried Nassauer
Wer traf die Entscheidung, den Eindruck erwecken zu wollen, es
habe keine zivilen Opfer beim Luftangriff in Kunduz gegeben? Und schlimmer
noch: An dieser Darstellung auch festzuhalten, als gegenteilige Informationen
vorlagen? Über eine "Kommunikationspanne" und deren politische
Konsequenzen.
Chaostage in Berlin. In wenig mehr als 24 Stunden traten zurück:
ein Minister, der nicht mehr anders konnte – Franz Josef Jung. Ein Verteidigungsstaatssekretär,
der nicht mehr anders durfte – Peter Wichert. Und der oberste Soldat der
Bundeswehr, der Generalinspekteur, der nicht mehr anders wollte – Wolfgang
Schneiderhan. Drei Rücktritte in so kurzer Zeit – das hat wahrlich
Seltenheitswert. Doch was war der Anlass? Offiziell “Informationspannen”
im Verteidigungsministerium bei der Auswertung eines fatalen, von der
Bundeswehr angeordneten Luftangriffs am 4. September nahe Kunduz. Dem
Angriff fielen nach NATO-Angaben bis zu 142 Menschen, Aufständische
und Zivilisten, zum Opfer. Einfacher gesagt: Zwei Minister glauben, man
habe sie zu spät oder unvollständig informiert. Das habe sie
zu nicht haltbaren Aussagen verleitet und mache die Rücktritte erforderlich.
Ein Argument aus den Tiefen der Trickkiste des Primats der Politik.
Nicht der Luftangriff, dessen Zulässigkeit und die zivilen Opfer
sind Gegenstand der Debatte und Grund der Demissionen, sondern die schnöde
Frage, wer wem wann welche Akte nicht auf den Tisch gelegt hat und damit
die vertrauensvolle Zusammenarbeit zerstörte. Wer so argumentiert,
lässt tief blicken, dass es ihm um seine eigene weiße Weste
geht.
Beginnen wir mit dem Kollateralschaden der Präzisionsbombe, die
die Bild-Zeitung auf das Verteidigungsministerium abwarf, dem Rücktritt
des Generalinspekteurs: “Melden macht frei.” Das beherzigt jeder Uniformträger.
Kaum vorstellbar ist es deshalb, dass der Generalinspekteur der politischen
Leitung des Ministeriums zentrale Informationen oder neue Berichte zu
dem Luftangriff vorenthielt. Weder am 4. und 5. September, als erste Warnungen
einliefen, die zivile Opfer für möglich hielten, noch am 15.
September, als das bundeswehrgeführte Regionalkommando Nord in Masar-i-Sharif
ausführlich und schriftlich berichtete, dass es wahrscheinlich zivile
Opfer gab. Wichtige Dokumente gibt der Generalinspekteur unverzüglich
an die politische Leitung weiter. Im Normalfall ist ein Staatssekretär
sein Ansprechpartner, in wichtigen Fällen wird auch an den Minister
gemeldet. Am 15. September war nur Verteidigungsstaatssekretär Wichert
im Hause. Minister Jung machte der Schwarzwälder Rüstungsschmiede
Heckler & Koch eine Wahlkampfaufwartung. Schneiderhan und andere Generale
haben Minister Jung wiederholt gewarnt, zivile Opfer auszuschließen.
Der aber schlug die Warnungen in den Wind. Zunächst leugnete er,
den Bericht aus Masar zu kennen. Dann gab er zu, ihn für eine Untersuchung
der NATO freigegeben zu haben. Nun will er ihn nicht gelesen haben. Vielleicht
ein wenig näher an der Wahrheit.
Politische Entscheidungen während des Wahlkampfs
Entscheidender ist eine andere Frage: Wer traf die Entscheidung, den
Eindruck zu wecken, es habe es keine zivilen Opfer gegeben, und an dieser
Darstellung auch festzuhalten, als gegenteilige Informationen vorlagen?
Das war eine Entscheidung der politischen Leitung des Ministeriums, die
diese sich – während des laufenden Wahlkampfes – sicher nicht abnehmen
ließ. Minister Jung und Staatssekretär Wichert verantworten
sie. Der Generalinspekteur musste sie mittragen, auch wenn er sie nicht
teilte. Zudem musste er seiner Fürsorgepflicht für die beteiligten
Bundeswehrsoldaten gerecht werden. Dass die Entscheidung, möglichst
wenig zu sagen, auf der politischen Ebene fiel, wurde auch deutlich, als
der Generalinspekteur für das Ministerium zum Untersuchungsbericht
der NATO Stellung nahm. Er bewertete die Entscheidung für den Luftangriff
als “militärisch angemessen”, äußerte sich aber zur Frage
der Zulässigkeit des Angriffs nicht. Fragen ließ Schneiderhan
nicht wie geplant zu, da ihm die politische Leitung das Beantworten weiterer
Fragen untersagt hatte.
Die Vorgänge sagen viel über die Arbeit im BMVg des Franz Josef
Jung. Unter ihm wurde das Haus wiederholt zu einem Ort der Wirklichkeitsleugnung
und Vertuschung, oft genug zum Entwicklungslabor orwellschen Newspeaks
und zu einem Hort der Aufklärungsverhinderung. Jungs sprachliche
Beschönigungen der Lage in Afghanistan sind Legende. Die Arbeit seines
Pressesprechers Thomas Raabe und dessen Stellvertreters, Kapitän
zur See Christian Dienst, kann getrost als Presseabwehrarbeit gewertet
werden. Das Ministerium praktizierte regelmäßig Pressearbeit
als PR und Öffentlichkeitsarbeit als OpInfo – Newspeak für psychologische
Kriegführung. Transparenz – ein Fremdwort.
Schweres Erbe
Für den neuen Minister zu Guttenberg ist das ein schweres Erbe.
Er trat mit dem Anspruch größtmöglicher Transparenz an
und ahnt nun, dass die unter seinem Vorgänger praktizierte Vertuschungsmentalität
ihm bereits das erste Kuckucksei ins Nest gelegt hat. Er hatte nach Lektüre
des NATO-Berichtes gesagt: “Wenn das Ganze fehlerfrei vonstattengegangen
wäre, komme ich auch zu dem Schluss, dass der Luftschlag hätte
stattfinden müssen.” Nun muss er diese Bewertung wohl revidieren.
Trotz der drei Rücktritte soll es einen Untersuchungsausschuss zu
dem umstrittenen Luftangriff geben. Das ist gut so. Es ist dem Ereignis
angemessen und der Opfer würdig. Der Ausschuss bietet die Chance
zu echter Sachaufklärung, da die Hauptverantwortlichen bereits zurückgetreten
sind. Diese muss jetzt genutzt werden. Nicht nur, um die Details des tödlichen
Luftangriffs bei Kunduz aufzuarbeiten und zu untersuchen, welche Fehler
dabei und während der Aufarbeitung des Vorfalls gemacht wurden. Sondern
auch, um herauszufinden, ob das Klima des Verschweigens und die aufklärungsfeindliche
Haltung des BMVgs unter Franz Josef Jung noch an anderer Stelle Tretminen
hinterlassen haben, die explodieren könnten. Im Blick auf den Afghanistaneinsatz
und seine Bewertung oder bei der Bundeswehrreform könnte das gut
der Fall sein. Wenn die politische Führung kommende Probleme nicht
sehen will, “gibt” es bekanntlich immer weniger Probleme. Viel Arbeit
also für den Untersuchungsausschuss.

ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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