Freitag
11.August 2000

Nur ein Streit der Generäle?

Otfried Nassauer

 

Ein harter, rauher Ton ist in Rußland nicht selten das Erkennungszeichen für eine gute Diskussion unter alten Freunden. Doch mit alter Freundschaft hatte das nichts mehr zu tun, was Igor Sergejew in den vergangenen Wochen Anatoli Kwaschnin an den Kopf warf: Eine "kriminelle Dummheit", seien dessen Vorschläge, "einfach geistesgestört". Nach russischen Maßstäben eigentlich noch keine beunruhigende Tonlage, wäre Sergejew nicht Verteidigungsminister der Russischen Föderation und Kwaschnin nicht ihr Generalstabschef. Und hätte Letzterer am 12. Juli nicht einen für weite Teile der sicherheitspolitische Elite Rußlands unerhörten Vorschlag gemacht:

Rußland, so der Generalstabschef vor dem "Kollegium", dem höchsten Gremium des Russischen Verteidigungsministeriums, solle in den kommenden Jahren die Zahl seiner landgestützten, atomaren Interkontinentalraketen drastisch reduzieren. Von 19 Divisionen der Strategischen Raketenstreitkräfte sollten 17 aufgelöst werden. Die Raketentruppen sollten ihre Rolle als eigenständige Teilstreitkraft verlieren und als Kommando weitergeführt oder gar der Luftwaffe unterstellt werden. Kwaschnin‘s Vorschlag, von dem später auch etwas weniger radikale Varianten zirkulierten, zielt darauf, die Dominanz der Nuklearstreitkräfte zu brechen und die kargen Investitionsmittel des russischen Verteidigungshaushaltes von der Beschaffung nuklearer Waffen in die Finanzierung der konventionellen Streitkräfte umzulenken. Bis 2016 will der Generalstabschef die Grundlage für eine "künftige konventionelle Abschreckungsfähigkeit" Rußlands legen.

Dies mußte einfach Widerstand hervorrufen. Der Verteidigungsminister – zuvor selbst Chef der Raketentruppen – und sein Nachfolger dort, Wladimir Jakowlew, hegten ganz andere Vorstellungen. Für sie – wie für weite Teile der sicherheitspolitischen Elite Rußlands – sind die strategischen Nuklearstreitkräfte und vor allem deren einzig wirklich effektiv einsetzbarer Teil, die strategischen Raketentruppen, die letzte Garantie dafür, daß Moskau auch künftig in der Weltpolitik Gehör findet und seine vitalen Interessen nicht einfach übergangen werden. Ihrer Aufrechterhaltung und Modernisierung kommt deshalb absoluter Vorrang zu. Weit mehr als die Hälfte des russischen Beschaffungshaushaltes fließen in die Strategischen Raketentruppen, vor allem in den Bau der neuen Interkontinentalrakete Topol-M (SS-27). Die Rolle der Raktentruppen würde – ginge es nach Sergejew und Jakowlew - weiter gestärkt, indem ihnen die atomaren Anteile der Luftwaffe und der Marine unterstellt würden.

Kaum waren Kwaschnin’s Vorschläge öffentlich, eilten viele der traditionell auf die Nuklearpolitik orientierenden russischen sicherheitspolitische Experten und Kommentatoren Sergejew zu Hilfe. Die Vorschläge des Generalstabschefs seien eine Gefahr für Rußlands Rolle in der Welt, höchst riskant, da Rußlands Abschreckung nicht länger als gesichert gelten könne und politisch brisant, da sie die rüstungskontrollpolitische Offensive ebenso wie die Opposition des russsichen Präsidenten Putin gegen die amerikanischen Raketenabwehrpläne unterminieren und unglaubwürdig machen würden.

Doch Putin griff zunächst nicht auf Seiten seines Verteidigungsministers in den Streit ein. Er bestellte die Streithähne an seinen Urlaubsort Sotchi und entließ wenig später sechs Generäle, deren Mehrheit sich hinter Sergejew gestellt hatte. Schließlich drohte er sogar damit, erstmals einen zivilen Verteidigungsminister einzusetzen. Könnten Putins erste Schritte noch als Unterstützung für Kwaschnin gewertet werden, so gilt dies sicher nicht für diese Drohung. Kwaschnin werden Ambitionen auf das Amt des Verteidigungsministers nachgesagt. Beide Generäle, ja die russische Generalität, könnte durch den Streit an Einfluß verlieren.

Dies deutet darauf, daß hinter dem Streit der Generäle weit mehr stecken könnte als der schlichte Streit um finanzielle Ressourcen und die übliche Konkurrenz der Teilstreitkräfte – eine grundlegende Entscheidung über die sicherheitspolitischen Prioritäten der Russischen Föderation. Wo liegen diese? Bei der Aufrechterhaltung strategischer Parität mit den USA – also dem Symbol dieser Parität, den Nuklearstreitkräften? Oder bei den Aufgaben der konventionellen Streitkräfte, bei der Aufrechterhaltung der territorialen Integrität der Russischen Föderation gegen Sezessionsbestrebungen wie in Tschetschenien – ob diese nun mit oder ohne äußere Unterstützung vorangetrieben werden?

Die Möglichkeit einer Neugewichtung, oder gar eines Paradigmenwechsel in der russischen Sicherheitspolitik könnte sich andeuten. Die Aufrechterhaltung der Russischen Föderation, ihr Schutz vor weiterem Zerfall gewinnt an Gewicht, wenn nicht Vorrang vor der Aufrechterhaltung bipolarer nuklearer Parität mit den USA. Wäre der Umfang dieser Gewichtsverschiebung der eigentliche Streit hinter dem Konflikt der Generäle, so müßte auch die Mehrheit der westlichen Sicherheitsexperten eine gravierende Fehleinschätzung eingestehen: Als Präsident Putin im Januar 2000 per Erlaß eine neue "Konzeption der Nationalen Sicherheit der Russsichen Föderation" und im April 2000 eine neue "Militärdoktrin" in Kraft setzte, wurde zumeist nur kritisch angemerkt, beide Dokumente beinhalteten eine Reduzierung der Schwelle für den Einsatz atomarer Waffen. Das ist eine Frage der Betrachtungsweise. Denn das eigentlich Neue an beiden Dokumente, die gegenüber den Entwürfen aus der Zeit von Putins Vorgänger Jelzin an politisch entscheidenden Stellen abgeändert wurden, ist etwas anderes: Das große Gewicht, das den Streitkräfte bei der Aufrechterhaltung der territorialen Integrität Rußlands und der Verhinderung des weiteren staatlichen Zerfalls Rußlands beigemessen wird.

Die nächste Runde des Streites steht dieser Tage an. Auf einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates in der zweiten August-Woche soll über ein Grundsatzkonzept zur Militärreform diskutiert werden. Erstmals werden dabei die längerfristigen makro-ökonomischen Indizes, die Premierminister Kasjanov als Prognose für den Zeitraum bis 2010 vorlegte, eine Grundlage sein. Sergejew und Kwaschnin sind beide Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).