Freitag
18. März 2011


Das eigennützige Versprechen

von Otfried Nassauer

Da ist er wieder, der hässliche Streit darüber, ob sich die internationale Gemeinschaft in die inneren Angelegenheiten eines Staates einmischen darf. Ob es eine Verpflichtung zum Schutz, eine responsibility to protect (R2P) gibt, wenn Völkermord oder Massenvertreibungen drohen oder Diktatoren ihre Bevölkerung niedermetzeln. Die aktuelle Frage: Soll es also eine Flugverbotszone über Libyen geben um zu verhindern, dass die Rebellen des nordafrikanischen Landes den Angriffen der Luftwaffe von Diktator Muammar al-Gaddafi schutzlos ausgeliefert sind? Sie selbst haben diese Zone gefordert und zugleich eine Intervention von westlichen Bodentruppen abgelehnt.

Sie USA, die NATO und die EU – sie alle zögern. Sie verfügen zwar über die notwendigen militärischen Mittel. Aber soll westliches Militär der arabischen Revolution in Libyen zum Erfolg verhelfen? Reicht eine Flugverbotszone dafür aus? Seit Tagen sind eher die Truppen Gaddafis denn die Rebellen auf dem Vormarsch. Sind die Rebellen geschlagen, wenn der erste Jet zu ihrem Schutz aufsteigt?

Die Diskussion ist nicht einfach. Es geht nicht nur um die Frage, ob eine Flugverbotszone eingerichtet werden sollte oder nicht. Es geht um Grundsätzliches. Das Völkerrecht und die UN-Charta kennen das Recht zur Einmischung in die inneren Angelegenheit eines Staates seit 1945 nicht mehr. Zu Zeiten des Völkerbundes existierte es noch. Staaten durften Minderheiten in anderen Staaten notfalls mit militärischer Gewalt schützen, sogar ein Protektorat auf dem Territorium eines anderen Staates errichten. Doch 1938 nutzte Adolf Hitler – das Deutsche Reich war nicht Mitglied des Völkerbundes – das Protektoratskonstrukt, um Böhmen und Mähren zu annektieren. Daran erinnerten sich die Gründungsväter der UNO und schrieben eine Charta, die keinem Staat das Recht gibt, aus vorgeblich humanitären Gründen in einem anderen Staat zu intervenieren.


Völkerrecht im Werden

Diese Sicht überdauerte den Kalten Krieg nur wenige Jahre. Ruanda und die Balkankonflikte warfen die Frage auf, ob ein Eingreifen nicht doch legitim sein könnte, wenn Völkermord oder massive Vertreibungen drohen. Im Krieg um das Kosovo argumentierte die NATO so und begründete ihren Alleingang mit der Handlungsunfähigkeit der UNO. Im Nachgang des illegalen, aber für legitim gehaltenen Krieges entstand – maßgeblich von deutschen Politikern mitformuliert – das Projekt einer aus den Menschenrechten abgeleiteten, humanitär begründeten R2P, wenn massive Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen oder Völkermord drohen. Völkerrecht sei das zwar noch nicht, aber Völkerrecht im Werden, argumentieren die Befürworter seither. Der UN-Gipfel 2005 habe dafür den Weg frei gemacht.

Mit Libyen wird nun ein neues Kapitel im Streit um dieses Konstrukt aufgeschlagen. Die R2P könnte erstmals als Grundlage genutzt werden, um eine Flugverbotszone zu rechtfertigen. Die Arabische Liga ist mehrheitlich dafür. Der Sicherheitsrat diskutiert noch. Die Argumente aber, die in den westlichen Staaten dazu ausgetauscht werden, entlarven die Bigotterie vieler Regierungen, die sich mit der R2P identifizieren. Sie entlarven aber auch die grundsätzlichen Probleme des Konzepts.

Es gibt Menschen, die ein militärisches Eingreifen zum Schutz der libyschen Opposition wollen und bereit sind, die Konsequenzen zu verantworten. Dany Cohn-Bendit ist so einer. Für den EU-Grünen geht es in Libyen um eine Grundsatzentscheidung wie 1936 – damals während des spanischen Bürgerkriegs: Die Republik gegen Francos Totalitarismus. Ein Versagen Europas, der Republik, der Freiheit, zu Hilfe zu kommen, darf es aus seiner Sicht nicht wieder geben. Cohn-Bendit glaubt, eine Flugverbotszone wäre dazu ausreichend. Doch würde man ihn fragen, ob er, wenn das nicht reicht, einen Militärschlag gegen den Diktator in Betracht zöge – er würde aus Überzeugung wohl ja sagen. Das Ziel ist der Sturz Gaddafis. Ob man seine Meinung teilt oder nicht: Cohn-Bendit ist bedeutend ehrlicher als viele andere. Die R2P ist ihm Verpflichtung, koste es was es wolle.


Möglichst wenig Konsequenzen

Das kann man über manch andere Akteure nicht sagen: Die Bundesregierung, die EU und die NATO, sie alle halten sich die Möglichkeit offen, ein militärisches Eingreifen mit der R2P zu rechtfertigen. Im Zentrum ihrer Argumente stehen aber die Kautelen, die Bedenken, die Voraussetzungen. Ja, wir stehen bereit, entschieden zu handeln – wenn es ein Mandat der UNO gibt, die Arabische Liga uns darum bittet, die arabischen Nachbarn mitwirken, der Eindruck vermieden wird, es gehe um ein Eingreifen des Westens. Die Latte liegt hoch, wird an der größtmöglichen Fallhöhe ausgerichtet. Starke Worte, stärkste Drohungen, Signale äußerster Handlungsbereitschaft – und möglichst wenig praktische Konsequenzen.

Hinzu kommen sachliche Bedenken, zum Beispiel aus dem Militär. Berechtigte Fragen werden aufgeworfen: Sollen wir das Risiko wirklich eingehen? Für eine Flugverbotszone über einem Land der Größe Libyens braucht man viele Kampfflugzeuge, eine ausreichende Infrastruktur, um die Operationen ausführen zu können, Flugzeugträger, fliegende Tankstellen. Man braucht Spezialkräfte, um Piloten zu retten, deren Maschinen abstürzen. Und man muss eine präventive Zerstörung der libyschen Flugabwehr oder auch der libyschen Luftwaffe in Betracht ziehen.

Libyen ist weder der Balkan noch der Irak, die Voraussetzungen sind ungünstiger, die Entfernungen viel größer. All das sind rationale Argumente, die unabhängig von der R2P ins Feld geführt werden können. Argumente, die von Politikern und Diplomaten allerdings aufgegriffen werden, um zu argumentieren: Wir können der Verpflichtung zu schützen noch nicht nachkommen.

„Einspruch, Euer Ehren“ argumentiert da der pensionierte General der US-Luftwaffe, Merril McPeak: Wenn die Zone die Gebiete der Rebellen schützen solle, dann sei sie leicht umsetzbar. Libyen sei schließlich eine drittklassige Militärmacht. Wenn man sich gegen Libyen nicht durchsetzen könne, dann müsse man sich fragen, ob all die Milliarden, die in westliche Militärapparate gesteckt werden, nicht anderweitig besser angelegt wären. McPeak hat die Flugverbotszone im Irak mitorganisiert. Seine Argumente legen die taktische Art offen, mit der das R2P-Argument durch Politik und Diplomatie genutzt wird.


Eine Form der Machtpolitik

Westliche Diplomatie und Politik wollen sich die Option nicht verbauen, künftige Intervention mit der R2P zu begründen. Genutzt werden soll und kann sie aber nur, wenn es ein hinreichend starkes Interesse gibt, sie zu nutzen. Wenn es Länder gibt, die bereit sind, Waffen und Soldaten bereitzustellen. Also nicht in jedem Fall, wenn schwerste Menschenrechtsverletzungen vorliegen oder Völkermord droht. Im Falle Libyens gibt es offenbar derzeit kein hinreichendes Interesse.

Vor allem aber fehlt es Europa und den USA auch an einem klar definierten, erreichbaren, rechtmäßigen Ziel für ein Eingreifen. Das zeigt ein kleiner Gegencheck: Was würde der Westen machen, wenn eine Flugverbotszone kaum Wirkung zeigt? Wenn es weiterhin Berichte über Massaker an der Zivilbevölkerung gäbe? Käme es dann zu Angriffen auf die Bodentruppen Gaddafis? Würde versucht, Gaddafi mit militärischen Mitteln zu stürzen? Die abschüssige Bahn hin zu einer umfassenden und möglicherweise langen Intervention ist das Menetekel an der Wand. Davor und vor einem weiteren afghanistan-artigen Konflikt schreckt der Westen zurück.

Das aber zeigt: Das gesamte Konstrukt der R2P scheitert, wenn die Verpflichtung zum Schützen nicht wahrgenommen wird, obwohl das möglich wäre. Ist die R2P lediglich eine weitere Möglichkeit, opportune Interventionen zu legitimieren, so kann sie nicht die Glaubwürdigkeit gewinnen, die Voraussetzung für ihre universelle Anerkennung wäre. Im Gegenteil: Damit delegitimiert sich das Konzept selbst als weitere Form der Machtpolitik. Der Fall Libyen legt diese gravierende Schwachstelle offen. Konsequent wäre es, das Konzept fallen zu lassen.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS