Freitag
25. August 2000
Potemkins tragischer Stolz


Der Untergang der Kursk
Otfried Nassauer

Was bleibt, sind nur einige wenige, dürre Fakten: Am Samstag, den 12. August 2000, ist das russische Atom-U-Boot "Kursk" nach einem schweren Unglück binnen nur weniger Minuten schwer beschädigt auf den Grund der Barentsee gesunken. 118 Menschen wurden in den Tod gerissen. Koordinaten und Wassertiefe sind bekannt. Das zumindest steht fest.

Die Begleitumstände der Katastrophe dagegen lassen einerseits Trauer und Mitgefühl sowie andererseits zynische Nachfragen zu: Was wurde da eigentlich gespielt? "Die Jagd nach Roter Oktober - Teil 2"? Ein neuer James Bond? Wer hat sich die Spielfilmrechte an diesem Ereignis gesichert, wer die Akteure instruiert? So jedenfalls mutet das Umfeld des tragischen Geschehens an.

Der Untergang der Kursk hinterläßt Fragen über Fragen. Was hat die Katastrophe verursacht? Der Zusammenstoß mit einem anderen Schiff oder U-Boot? Aus dem In- oder Ausland? Ein Unfall mit der Munition an Bord der Kursk? Eine Kombination aus beidem? Eine alte Mine aus dem zweiten Weltkrieg oder ein russischer Torpedoirrläufer? Zehn Tage nach dem Unglück gibt es mehr Spekulationen denn Fakten.

Warum gab die russische Marine den Verlust der Kursk erst zwei Tage später bekannt? Warum nahm Rußland westliche Hiflsangebote erst am fünften Tag nach der Havarie an? Warum gab es soviele widersprüchliche und widersprüchlichste Meldungen zu Hergang des Unglücks, Schadensausmaß, Überlebenschancen der Besatzung und Problemen bei den russischen Bergungsversuchen? Warum schließlich die Verzögerungen, als die westlichen Helfer vorort waren? Warum dauerte es weitere 12 Stunden, bis die russische Marine das Seegebiet über der Unglücksstelle geräumt hatte? Warum die unterschiedlichen Aussagen darüber, ob die verbliebene Rettungsluke zu öffnen sei oder nicht? Lediglich Chaos bei den Rettungsversuchen und der Pressearbeit, die übliche Geheimniskrämerei, gezielte Desinformation, untaugliche Versuche, Fehler zu vertuschen oder von allem etwas?

Tatsache ist: Der Stolz Rußlands, die Marine, hat sich mit Händen und Füßen und bis zuletzt gegen die Einbeziehung westlicher Experten gewehrt, um ihre Geheimnisse und ihren Mythos zu wahren. Die U-Boote der Oskar-11 Klasse gehören zu den modernsten Rußlands, bergen etliche, noch geheime Beweise russischer Ingenieurskunst und manches schützenswerte (waffen)technologische Geheimnis. Noch auf Jahre müssen sie das Rückgrat der russischen Flotte sein; Geld für neue Schiffe fehlt auf absehbare Zeit.

Die russische Marine ist seit Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Chronisch unterfinanziert, von Ersatzteil- und Ausbildungsmängeln bis hin zur Seeuntauglichkeit geplagt. Belege dafür sind nicht Mangelware, sondern tägliche Normalität: Mitte der neunziger Jahre löste die Marine ihre Tiefseetaucher-Einheit bei der Nordmeerflotte auf, die sie jetzt so dringlich gebraucht hätte. Die modernsten russischen Rettungsschiffe blieben während der Kursk-Havarien im Hafen, da ihnen Ersatzteile im Wert von wenigen Hundert oder Tausend Mark fehlten. Mehrfach rückte russischeMarine in den vergangen Jahren zu Lande aus - ihr Gegner waren die örtlichen E-Werke. Sie hatten aufgrund unbezahlter Rechnungen einfach den Strom abgestellt der aber durfte nicht ausfallen, weil er zum Betrieb der Notkühlung für die U-Bootreaktoren in den russischen Häfen unentbehrlich ist.

Allerdings: Gerade auch der Zustand der eigenen Schwäche gehört zu den schützenswerten Geheimnissen der russischen Marine. Sie gleicht in vielen lebenswichtigen Bereichen inzwischen einem potemkinschen Dorf. Die Nordflotte kann sich glücklich schätzen, wenn sie in der lage ist ein oder zwei ihrer strateigschen Raketen-U-Boote auf See zu schicken. Die technischen und organisatorischen Mängel der russischen Rettungsversuche machten den schlechten Zustand der Flotte ebenfalls überdeutlich. Ein schwerer Munitionsunfall an Bord der Kursk als Unfallursache - auch dies liegt vollständig im Bereich des Möglichen.

Mit ihrer Geheimniskrämerei stehen die russischen Admiräle aber nicht allein. U-Bootfahrer aus aller Herren Länder neigen oft zu fast paranoid anmutender Geheimhaltung. Um U-Boote ranken sich Gerüchte, Geschichten, Mythen als seien es US0s, tauchende zweieiige Zwillinge von UFOs. Die USA z.B. geben nicht einmal öffentlich Auskunft darüber, wo sich ihre U-Boote jeweils gerade befinden - auch nicht, wenn eine solche Auskunft Gerüchten über eine tödliche Kollision - wie im Falle der Kursk - begründet den Boden entziehen könnten. Letztlich kann deshalb eine Kollision als Unfallursache zur Zeit nicht gesichert ausgeschlossen werden.

Tatsache ist: Russische und westliche U-Boote haben auch nach dem Ende des Kalten Krieges ihre langjährige Praxis unterseeischer Verfolgungsjagden nicht aufgegeben. Wann immer eines der letzten, fahrtüchtigen russischen U-Boote seinen Heimathafen verläßt, warten die westlichen Häscher schon auf die Gelegenheit zu praxisnahmen Training. Dies birgt die Gefahr unterseeischer Zusammenstöße zuletzt kollidierten Amerikaner und Russen 1993. Es ist kaum vorstellbar, daß sich ausgerechnet bei einem der selten gewordenen und lange angekündigten Großmanöver der russischen Marine keine westlichen Verfolger an die Fersen der russischen U-Boote hefteten. Zwei Tage nach dem Unglück waren nach Angaben der US Navy rund die Hälfte aller US-U-Boote, 25 Schiffe, auf See, 14 davon in ihrem Einsatzgebiet, angeblich nur zwei in der Barentsee. Sie sollen - so die wiederholte Auskunft - mit dem Geschehen nichts zu tun gehabt haben, ebenso wie die britische U-Boot-Flotte.

Und dann die innenpolitische Seite der Katastrophe: Ist Wladimir Putin Rußlands neuer starker oder schwacher Mann? Die Präsident - so die Kritik - habe zu spät, zu kaltherzig und unverantwortlich reagiert. Wird seine Autorität dauerhaft leiden und seine Bemühungen Rußland aus der Dauerkrise zu befreien gefährden?

Vieles spricht dafür, daß Rußlands rostender Stolz, die Marine, auch den Präsidenten und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Wladimir Putin zunächst nicht umfassend über das Ausmaß oder die eigene Unfähigkeit zum Umgang mit der Katastrophe informierte. Vielleicht, weil sie fürchtete, beim derzeitigen innerrussischen Poker um die begrenzten Ressourcen des Verteidigungshaushaltes künftig mit schlechteren Karten dazustehen. Vielleicht, weil sie aus Boris Jelzins Zeiten schlußfolgerte: Keine Nachricht für den Zaren ist besser als eine schlechte Nachricht.

In zweierlei Hinsicht wird die nahe Zukunft aufschlußreich. Weiche Konsequenzen zieht der Kreml aus den Vorgängen um die Kursk? Innen- wie außenpolitisch. Innenpolitisch: Nimmt Putin den Untergang der Kursk sowie die Streitigkeiten zwischen Generalsstabschef Kwaschnin und Verteidigungsminister Sergejew über die Militärreform zum Anlaß für ein machtpolitisches Revirement in den Streitkräften zu sorgen? Beginnt er nach den erfolgreichen Auseinandersetzungen mit Oligarchen und Föderationsrat den Machtkampf mit einer dritten etablierten Säule des staatspolitischen Erbes, das ihm Boris Jelzin hinterließ? Und außenpolitisch: Ist Wiadimir Putin bereit, mit einem Kernelement russischer Symbolik zu brechen, der Vorstellung, daß Rußland auch weiterhin in der Lage ist, jedwede Problematik und Katastrophe autark - sozusagen mit Bordmitteln - zu beherrschen?

Konsequenzen für das militärische Führungspersonal dürfen als äußert wahrscheinlich gelten. Ihr Umfang bleibt abzuwarten. Konsequenzen in der Außenpolitik, in der Zusammenarbeit mit dem Westen insbesondere im Hinblick auf die enormen Gefahren, die von Rußlands nuklearem Erbe des Kalten Krieges ausgehen, wären wünschenswert. Käme es zu letzteren und würde Rußland die Kooperation mit dem Westen endlich ernsthaft angehen, dann wäre aber auch von den westlichen Industriestaaten der NATO und der EU ein veränderter Umgang mit Rußland erforderlich.

Seit Jahren existieren sinnvolle Programme wie das amerikanische"Cooperative Threat Reduction Program", die oft deshalb nicht recht von der Stelle kommen, weil sie von großem, gegenseitigem Mißtrauen geprägt sind. In Rußland herrscht die Wahrnehmung vor, der Westen betrachte die Programme als Mittel, Rußland einseitig abzurüsten oder auszuspionieren. Im Westen herrscht die Meinung vor, die russischen Militärs und insbesondere auch die Admiräle der von unglaublichen atomaren Erblasten geplagten Nordflotte nutzten die Zusammenarbeit lediglich, um schnell und billig an viel Geld zu kommen, daß ihnen der russische Staat nicht mehr zur Verfügung stellen kann. Konsequenterweise bleiben die Ergebnisse der Kooperation weit hinter dem Möglichen und vor allem Nötigen zurück. Würde dies anders, würde hier eine Lehre aus dem Unfall der Kursk gezogen, dann wäre bereits viel erreicht. Die Europäische Union arbeitet derzeit mit Rußland an der Entwicklung eines solchen Gemeinschaftsprogramms. Es könnte als erstes von einer solchen Veränderung profitieren.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).