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aus dem Jahr 1997
Friedensforum /97 |
Die Osterweiterung der NATO
Ein Fahrplan in die Krise?
von Otfried Nassauer
"Clinton bittet Deutschland's Kohl um Hilfe", titelt die
Washington Times am 7. Januar 1997. Und in der Tat: Helmut Kohl ist ein Schwergewicht und
dieser Tage sicher auch ein politisches. Dem Bundeskanzler wird aufgrund der deutschen
Interessenslage und aufgrund seiner exzellenten Beziehungen zum russischen Präsidenten
Boris Jelzin zugetraut, das größte und vielleicht riskanteste außenpolitische Vorhaben
der Clinton-Ära politisch abzusichern, die Erweiterung der NATO nach Osten.
Bei diesem Vorhaben hat sich die NATO selbst unter Zeitdruck gesetzt
und zum Erfolg verdammt. 1993 lancierte der deutsche Verteidigungsminister, Volker Rühe,
die Idee einer NATO-Osterweiterung - das deutsche Interesse, nicht länger das östlichste
Land des Westens zu sein im Hinterkopf. Kurz darauf warnte US-Präsident Clinton noch:
"Warum sollen wir jetzt eine neue Trennline durch Europa ziehen, halt nur ein wenig
weiter östlich? Warum sollten wir jetzt etwas tun, das die bestmögliche Zukunft Europas
verbauen könnte?" "Die Partnerschaft für den Frieden" (PfP) wurde
geboren. Heute, nur vier Jahre später sollen nun Nägel mit Köpfen gemacht werden: Ein
Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs wird im Juli 1997 in Madrid entscheiden, mit
welchen Staaten aus Mittel-, Südost- und Osteuropa die westliche Militärallianz zuerst
über einen Beitritt zur NATO sprechen wird. Polen, die Tschechische Republik und
vielleicht Ungarn gelten als die sichersten Kandidaten; möglich sind aber auch Gespräche
mit Slowenien, der Slowakei oder Rumänien. Zudem wäre es kaum verwunderlich, wenn das
bislang neutrale Österreich plötzlich und schnell zu einem vorrangigen Kandidaten
avancieren würde. Rechtzeitig zum fünfzig-jährigen Bestehen der NATO im Jahre 1999
sollen die Beitrittsverhandlungen mit den Kandidaten abgeschlossen und erste Beitritte
beschlossen sein. Gefeiert wird im April 1999 bereits im erweiterten Kreis - so die
Vorstellung.
Und Rußland? In der Tat: Die NATO befindet sich auf einem riskanten
Kurs Richtung Rußland. Die Erweiterung der NATO ist dafür nicht das einzige Symptom,
aber das markanteste. Die politische Elite Rußlands, auch deren pro-westlichste
Exponenten, steht der Erweiterung der NATO skeptisch, wenn nicht gar äußerst feindselig
gegenüber.
Wichtige Duma-Abgeordnete, hochrangige Militärs und Mitglieder der
Administration überboten sich dabei in der Diskussion gegenseitig an Schärfe. Eine
NATO-Erweiterung stelle für Rußland eine Bedrohung dar und beweise, daß die Allianz
nicht Kooperation, sondern Konfrontation wolle. Rußland müsse darauf mit allen zur
Verfügung stehenden Mitteln reagieren. Die Vorschläge dafür reichen vom politischen
Protest, über wirtschaftliche Sanktionen wie z.B. Sanktionen gegen in Rußland tätige
westliche Firmen oder eine Beendigung der Rohstoff- und Energielieferungen nach Westen bis
hin zu sicherheitspolitischen Maßnahmen. Rußland könne auf die NATO-Erweiterung auch
mit einer Reaktivierung der militärischen Zusammenarbeit mit anderen GUS-Staaten
reagieren. Einzelne Stimmen, so der General und ehemalige Sicherheitsberater Jelzins,
Lebed, nahmen auch das Wort Krieg in den Mund.
Selbst Boris Jelzin greift auf scharfes Geschütz zurück und bietet
Weißrußland eine Neuvereinigung beider Staaten an. Damit weist er indirekt auf die
Möglichkeit hin, Rußland könne im Falle einer Erweiterung der NATO Nuklearwaffen an den
Grenzen Polens stationieren. Er droht mit der Möglichkeit die militärische Kooperation
zwischen den Staaten der GUS zu intensivieren.
Das Vorhaben "NATO-Erweiterung" strahlt auf viele Aspekte der
Beziehungen zwischen Rußland und den westlichen Industriestaaten aus: Drei weitere große
Problembereiche im Verhältnis zwischen der NATO und Rußland spitzen sich zu, bedürfen
der Lösung. Sie wurden und werden russischerseits eng mit dem zentralen Problem der
NATO-Erweiterung verknüpft und haben das Zeug zum gordischen Knoten. Zu ihrer
Verdeutlichung soll die russische Sichtweise dargestellt werden:
Erstens die Zukunft der nuklearen Abrüstung: Die außen- und
sicherheitspolitische Elite Russlands zeigt zur Zeit keinerlei Neigung, den
START-II-Vertrag zu ratifizieren. Dieser Vertrag verpflichtet Rußland und die USA, die
Zahl ihrer aktiven strategichen Atomwaffen bis zum Jahre 2003 auf jeweils 3.000 - 3.500
Sprengköpfe zu reduzieren. Aus russischer Sicht ist der Vertrag zum einseitigen Nachteil
Rußlands. Rußland müsse unsinnigerweise erhebliche Geldmittel aufwenden, um die
vertraglich erlaubten Zahlen atomarer Sprengköpfe mittelfristig auf den zugelassenen
Trägersystemen stationieren zu können. Es müsse bis zu 600 neue Interkontinentalraketen
bauen. Zudem sei das strategische Nuklearpotential Rußlands künftig zu erheblichen
Teilen durch modernsten konventionelle Präzisionswaffen der NATO bedroht. Den USA erlaube
der Vertrag darüberhinaus ungleich günstigere Voraussetzungen, aus START-II wieder
auszubrechen.
Der Vertrag könne nur ratifiziert werden, wenn die USA sich an die
traditionelle, enge Auslegung des ABM-Vertrages halten und für die zuvor genannten
Probleme, z.B. im Rahmen deutlich niedrigerer Obergrenzen (z.B. 1.800-2.000 oder noch
weniger Sprengköpfe) eine für Rußland zufriedenstellende Lösung gefunden werde.
Andernfalls sei es für Rußland günstiger, den Vertrag gar nicht zu ratifizieren und die
stärksten vorhandenen Atomwaffen, die schweren SS-18 Raketen mit je 10 Sprengköpfen
weiter in Dienst zu halten, die bei einer Ratifizierung zerstört werden müßten.
Zudem: Die Erweiterung der NATO nach Osten werde der westlichen
Militärallianz die Möglichkeit geben, zumindest in Krise oder Krieg ihre taktischen
Atomwaffen so nahe an die russischen Westgrenzen zu verlegen, daß aus diesen im Prinzip
Waffen mit für Rußland strategischem Bedrohungspotential würden.
Zweitens die Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle: Der
KSE-Vertrag ist das letzte Kind des Kalten Krieges. Unterzeichnet im Juli 1990 legt er
gleiche zahlenmäßige Obergrenzen für konventionelle Großwaffensysteme in Ost und West
fest. In letzter Minute wurde im Vertragstext aus den Militärbündnissen NATO und
Warschauer Pakt Staatengruppen gleicher Zusammensetzung. Heute existiert der Warschauer
Pakt nicht mehr; die Sowjetunion ist aufgelöst; die ehemaligen Bündispartner der
Sowjetunion wollen der NATO beitreten. - Eine deutlich veränderte politisch-geographische
Landkarte.
Aus russischer Sicht bedarf der KSE-Vertrag deshalb einer
grundsätzlichen Überarbeitung, damit er den veränderten Realitäten nach dem Ende des
Kalten Krieges angepaßt werden kann. Rußland will nicht hinnehmen, daß die
Waffenpotentiale der neuen NATO-Mitglieder weiter bei der "östlichen"
Staatengruppe mitzählen, mithin bei Rußland. Die NATO bekäme - so russische
Generalstäbler und Politiker - dadurch einen rechnerisch zulässigen Stärkevorteil von
vier zu eins, genug für einen erfolgversprechenden konventionellen Angriff. Zudem
erfordere die veränderte Geographie neue Festlegungen, wieviele Waffen wo stationiert
werden dürfen. Der für Rußland krisenträchtigste Bereich, der Süden des eigenen
Landes, erlaube nach der alten Flankenregelung völlig unzureichende Obergrenzen. Gebe es
in diesen Fragen keine tragfähigen Lösungen, so werde Rußland gezwungen sein, den
taktischen Nuklearwaffen - analog zu den NATO-Vorstellungen der siebziger und achtziger
Jahre - eine erheblich größere Bedeutung für die Kriegführung beizumessen. Eine neue
Generation taktischer Atomwaffen müsse dann die konventionelle Überlegenheit des Westens
ausgleichen.
Und letztlich das künftige Verhältnis der NATO zu Rußland: Immer
wieder hat die NATO Rußland eine strategische Partnerschaft und damit ein
Sonderverhältnis angeboten, bei dem die Allianz nicht müde wurde zu betonen, daß
Rußland ein größerer politischer Einfluß auf die Politik der NATO zugestanden werden
solle, als den anderen mittel- und osteuropäischen Staaten. Doch in der Praxis ist man
bislang nicht allzuweit gekommen. Immer wieder verzögerte sich der russische Beitritt zum
Programm "Partnerschaft für den Frieden"; die geplanten Gespräche über die
Gestaltung des Verhältnisses zwischen Rußland und NATO sind - zumindest soweit
öffentlich sichtbar - auf dem Niveau von Tagesordnungsdebatten steckengeblieben. Die
Prioritäten werden unterschiedlich gesetzt. Während Rußland zunächst die Konturen
einer Sicherheitsarchitektur für das Europa des 21. Jahrhunderts konzipieren will und
dabei die Rolle der NATO deutlich zu reduzieren sucht, wollen die NATO-Staaten unter
Führung der USA ihre Allianz Schritt für Schritt zum Kernelement eben dieser
Sicherheitsordnung ausgestalten. Rußland soll konsultiert werden, aber kein echtes
Mitbestimmungsrecht erhalten. Dies schließe Kooperation mit Rußland - wie im Falle
Bosnien - nicht aus, mache sie aber weder zur Regel, geschweige denn zur Pflicht. Eine
Sicherheitsarchitektur unter Einschluß Rußlands wird abgelehnt.
Alle diese russischen Sorgen, Vorwürfe, Wünsche und Überlegungen
werden aus ein und derselben Grundüberlegung gespeist. Rußland erwartet die Einlösung
des Versprechens auf strategische Partnerschaft, gemacht vom ehemaligen amerikanischen
Präsidenten George Bush, d.h. die Behandlung als gleichberechtigter Partner seitens der
USA. Rußland will weiterhin als Supermacht behandelt werden
Russische Politiker und Sicherheitsexperten kritisieren deshalb, die
praktische Politik des Westens laufe auf das glatte Gegenteil des Versprechens
strategischer Partnerschaft hinaus: Die Ausnutzung der gegenwärtigen politischen,
wirtschaftlichen und militärischen Schwäche Rußlands zum einseitigen Vorteil des
Westens. Sicherheitspolitik, Rüstungsplanung, Strategieveränderungen und selbst
Rüstungskontrollvorschläge und -maßnahmen des Westens orientierten sich einseitig an
den nationalen Interessen der NATO-Staaten, nicht aber an den legitimen
Sicherheitsinteressen Rußlands. Selbst sinnvolle und wünschenswerte
Kooperationsprogramme - wie z.B. das Nunn-Lugar-Programm zur Verhinderung der nuklearen
Proliferation und Förderung der atomaren Abrüstung - seien davon betroffen. Viel weniger
Geld als zugesagt, sei bislang geflossen weil Rußland nicht bereit sei, einseitig
Geheiminformationen preiszugeben. Die Veröffentlichungen westlicher Politiker und
Experten, die den Westen als Sieger des Kalten Krieges darstellen und - wie in den USA
üblich - dessen Ende auf das Jahr 1991, also den Zusammenbruch der Sowjetunion und nicht
auf jenen des Warschauer Paktes datieren, werden als Beleg erachtet.
Die NATO gibt sich trotzdem alledem selbstsicher. Rußland werde
letztlich die NATO-Erweiterung hinnehmen müssen. Rußland wisse selbst, daß es weder die
politischen, noch die wirtschaftlichen, geschweige denn die militärischen Mittel besitze,
die Ausdehnung der NATO zu verhindern. Die politische Aufgabe bestehe vor allem darin,
Rußland zu verdeutlichen, daß Stabilität an seinen Westgrenzen - geschaffen durch die
NATO - auch für Rußland besser sei als ein von wirtschaftlichen Krisen und politischen
Umbrüchen destabilisiertes Mittelosteuropa.
Zugleich werden erste Möglichkeiten für westliche Zugeständnisse
angedeutet. Die NATO geht davon aus, Rußland werde letztlich die Erweiterung des
Bündnisses akzeptieren, wenn der politische Preis für den Kompromiss akzeptabel sei.
Rußland soll 1997 in den Kreis der führenden Industriestaaten, G-7, aufgenommen werden.
Der scheidende amerikanische Verteidigungsminister Perry deutet die Möglichkeit an, durch
ein Rahmenabkommen noch vor der russischen Ratifizierung von START-II, die Grundzüge
eines START-III Abkommens festzulegen. Die westlichen Staaten haben mit Rußland eine neue
Flankenregelung im KSE-Abkommen gefunden und willigten in Gespräche über eine
Veränderung des KSE-Abkommens ein. Sie wollen dabei aber bislang auf den Kern der
russischen Wünsche - eine Neukonzeption des Abkommens aufgrund der aktuellen politischen
Geographie - nicht eingehen. Der NATO-Rat verkündet, unter den gegebenen Umständen gebe
es keine Gründe und keinerlei Absicht, Atomwaffen künftig auf dem Territorium der neuen
NATO-Mitglieder zu stationieren. Für die absehbare Zukunft gebe es auch keine
vorhersehbaren Umstände, daß diese Politik überdacht werden könnte. Trotzdem soll
keine, dem 2+4-Vertrag entsprechende, rechtlich bindende Vereinbarung getroffen werden -
im Gegenteil: Versuche der Ukraine, eine Resolution in Unterstützung einer
nuklearwaffenfreien Zone in Mittelosteuropa einzubringen, stießen bereits im Vorfeld auf
heftiges Sperrfeuer vor allem der USA. Die Option soll offengehalten werden, in diesen
Ländern in Krisen oder während eines Krieges Nuklearwaffen zu stationieren. Und
schließlich: Erneut folgt das Angebot "strategischer Partnerschaft" zwischen
der NATO und Rußland. Mit Rußland solle eine "Charta" ausgearbeitet werden,
die - bezogen auf die europäische Sicherheit - nach Angaben aus dem US-Außenministerium
drei Ebenen der Zusammenarbeit vorsehen soll: Gegenseitige Information, Kooperation in
Fällen, in denen ein gemeinsames Vorgehen nicht möglich ist und schließlich Kooperation
in Fällen, in denen auch ein gemeinsames Vorgehen wie in Bosnien denkbar ist. Rußland
solle mitreden können und gehört werden, aber Beschlüsse und praktische Politik der
NATO nicht verhindern können. Für die russische Sicht greift die NATO damit weiter zu
kurz; Rußland wird kein Platz am Tisch zugestanden; es wird nicht Bestandteil des Kerns
einer künftigen sicherheitspolitischen Architektur, sondern bleibt Außenseiter, der
angehört werden soll, damit aber nicht notwendigerweise gehört werden muß.
Nach den Vorstellungen der NATO wird in den nächsten Jahren auf vielen
Ebenen parallel verhandelt. Bis zum NATO-Gipfel im Juli soll die innere Reform der
Struktur und Ausrichtung der NATO weitgehend abgeschlossen sein; die Auswahl der
Kandidaten für Beitrittsgespräche soll erfolgt sein; mit Rußland will man sich über
eine Charta der Zusammenarbeit zu 17, zumindest aber über den Weg zu und die wichtigsten
Gegenstände einer solchen Charta geeinigt haben. Dann folgen die Beitrittsverhandlungen
auf der einen Seite und - realistisch betrachtet - die Gespräche über die Ausgestaltung
des Verhältnisses zwischen Rußland und NATO. Dafür gibt es knapp zwei Jahre Zeit. In
diesen soll parallel aber ohne Zwang zu einem Ergebnis zu kommen unter Mandat der OSZE
eine Überarbeitung des KSE-Abkommens durch die Mitgliedsstaaten erarbeitet werden.
Ebenfalls parallel könnte zwischen den USA und Rußland bilateral Einigung über einen
START-3-Vertrag gesucht werden.
Offen bleibt, ob der seitens der NATO gewählte Ansatz geeignet ist,
die anstehenden Probleme zu lösen. Wird intensiv an der Osterweiterung der NATO und
weniger intensiv an der Ausgestaltung des Verhältnisses zu Rußland gearbeitet, so ist
mit einer kooperativen Suche nach einer stabilen europäischen Sicherheitsordnung kaum zu
rechnen.
Zweieinhalb Jahre bleiben dem westlichen Bündnis, für die Zukunft
Europas zentrale Entscheidungen zu fällen. Es gilt zu wählen, ob die künftige
europäische Sicherheitsstruktur von der politischen Grundstruktur her auf das Entstehen
eines System kollektiver Sicherheit oder die Fortführung eines Systems kollektiver
Verteidigung ausgerichtet werden soll. Von dieser Grundentscheidung - die auch den
künftigen Handlungsspielraum Rußlands bestimmen wird - werden kurzfristig die
Lösungsoptionen für die Sach- und Detailprobleme bestimmt werden. Langfristig hängt von
ihr ab, ob die künftige Sicherheitsstruktur für Europa deutlicher von Kooperation oder
von Konkurrenz bestimmt sein wird. Entschieden wird, ob neue Trennungslinien durch Europa
gezogen werden. Entschieden wird, ob Sicherheit mit oder gegen Rußland gestaltet werden
soll.
Die Entwicklungen der letzten Jahre stimmen wenig hoffnungsfroh: Dem
Aus- und Umbau der NATO wurde Vorrang vor dem Aus- und Umbau der OSZE gegeben. Der Umbau
der NATO selbst wies nach einigen ersten Ansätzen der Öffnung auch für die
politischeren Fragestellungen kollektiver Sicherheit in den letzten drei Jahren eine
Reorientierung an und Neukonzentration auf die Konzeption einer erweiterten kollektiven
Verteidigung aus. Kollektiv verteidigen wird das Bündnis künftig nicht nur die
Territorien seiner Mitglieder, sondern auch deren weiterreichende politische und
wirtschaftliche Interessen - und sei es durch sogenannte
"friedensunterstützende" Militäreinsätze. Die NATO hat ihren geographischen
Zuständigkeitsbereich erweitert; sie hat ihren traditionellen Aufgabenbereich der
kollektiven Verteidigung um neue Aufgaben wie die Proliferationsverhinderung und
sogenannte friedensunterstützende Maßnahmen erweitert; sie hat auf der Suche nach
künftiger Daseinsberechtigung Aufgabenbereiche, die während des Kalten Krieges
erfolgreich von UNO und KSZE (OSZE) wahrgenommen wurden, von diesen Organisationen
übernommen bzw. diese verdrängt.
Auch in der westlichen sicherheitspolitischen Debatte über die
mittlerweile zur "Öffnung" umbenannte Erweiterung der NATO regt sich breiter
Widerspruch. Nicht nur linke und liberale Friedensforscher warnen vor diesem Schritt. Auch
konservative Politiker und Wissenschaftler, z.B. aus der Hans Seidel-Stiftung oder der
regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik warnen vor übertriebener Eile, stellen
die Frage: "Warum jetzt?" und: "Warum die Priorität auf die Erweiterung
der NATO legen?" Dieses Bild zeigt sich in fast allen NATO-Staaten.
Alternativen lassen sich in der Tat denken: Die Aussicht auf
NATO-Erweiterung als Mittel und Weg, in die Gemeinschaft der Staaten des
"christlichen Abendlands" bzw. der "westlichen Wertegemeinschaft"
aufgenommen zu werden, verleitet die Kandidaten für eine Mitgliedschaft zu falschen
Akzentsetzungen. Wenn Ungarn und Polen eine deutliche Erhöhung ihrer Militärausgaben
planen, weil die Anpassung an die westliche Militärtechnik und Infrastruktur teure
Investitionen erfordern, dann ist zu fragen, ob dies angesichts der wirtschaftlichen
Probleme beider Länder die richtige Prioritätensetzung darstellt. Selbst im
"reichen" Österreich wird angenommen, daß eine NATO-Mitgliedschaft eine
Verdoppelung der gegenwärtigen Militärausgaben erforderlich machen werde.
Politischer Vorrang für eine frühzeitige Erweiterung der
Europäischen Union dagegen würde dem Ziel der Stabilisierung der mittelosteuropäischen
Staaten wahrscheinlich weit dienlicher sein. Zugleich wäre dies ein ebenso deutliches
Zeichen der Zugehörigkeit zum "Westen" wie die Mitgliedschaft in der NATO,
wirtschaftlich gar mit weit umfangreicheren, verbindlichen Transfers verknüpft als durch
eine NATO-Mitgliedschaft je zu erwarten. Rußland würde einen solchen Schritt kaum
ähnlich bedrohlich einschätzen wie die Erweiterung der NATO. Ein sicherheitspolitisches
Vakuum, das befürchtete "Zwischeneuropa", würde kaum dabei entstehen. Für die
neutralen EU-Mitglieder Österreich, Finnland oder Schweden bestehen ja auch keine
"Zwischeneuropa-Befürchtungen" und niemand nimmt ernsthaft an, die anderen
EU-Mitglieder würden bei einer etwaigen militärischen Bedrohung dieser Staaten die
Hände im eigenen Schoß falten.
Diese Prioritätensetzung würde es auch erlauben, die Einbindung
Rußlands in die künftige europäische Sicherheitsarchitektur parallel und auf
verschiedenen Ebenen weiter zu verfolgen: Ein Ausbau der OSZE, die Gestaltung der
Beziehungen zwischen Rußland und NATO und nicht zuletzt kooperative Bemühungen, den zu
weitgehendem Stillstand gekommenen Prozeß der Abrüstung in Europa mit neuem Schwung zu
beleben und damit vertrauensbildend zu wirken - all das braucht Zeit, nicht aber
Zeitdruck.
ist freier Journalist und leitet das Berliner
Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
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