Januar 1999
Friedensforum 1/99

 Mind the Gap - Buy American!

 von Otfried Nassauer

 

 Die Autoren einer Studie aus der amerikanischen sicherheitspoliti­schen Denkfabrik RAND enttarnten sich als Nutzer der Londoner U-Bahn. "Mind the Gap" überschrieben sie im vergangenen Jahr einen brisanten Bericht, der Vorschläge für die amerikanische Posi­tion während der Überprüfung der NATO-Strategie macht. Er enthält auch detaillierte Gedanken über die Zukunft der transatlanti­schen Beziehungen und über die für künftige Out-of-Area-Einsätze nötigen militärischen Fähigkeiten der NATO-Staaten.

 Der Ausgangspunkt: Schon im Golfkrieg 1990/91 wurde deutlich, daß die militärischen Fähigkeiten der USA und der europäischen NATO-Staaten bei einem Einsatz fern der Heimat weit auseinanderklaffen. Seither hat sich der Abstand eher vergrößert. In Zukunft bestehe die Gefahr, daß die Streitkräfte der Europäer aus Sicht amerikanischer Militärs zwar noch bei kleineren Peacekeeping-Einsätzen sinnvoll mitmachen können, bei größeren Kriegen auf weit entfernten Schauplätzen aber nicht einmal mehr ernsthaft für Hilfsdienste im Gefecht zu gebrauchen sind. Messerscharf schlußfolgern die Autoren auf Gefahr im Verzug: Mind the Gap - laßt den transatlantischen Abstand nicht zu groß werden. Denn: Was hilft es, wenn die europäischen Staaten für die Verteidigung des NATO-Territoriums gut gerüstete, große Streitkräfte unterhalten, die Wahrscheinlichkeit eines solchen Konfliktes aber gen Null ten­diert? Und was hilft es, wenn die NATO in Europa als Bündnis zur Verteidigung der NATO-Staaten betrachtet wird, nicht aber als Allianz zur weltweiten Durchsetzung der Interessen der NATO-Staaten gegen konkurrie­rende Regionalmächte und zur Bekämpfung der Besitzer von Massen­vernichtungswaffen gesehen wird. Dies sind aus amerikanischer Sicht jene militärischen Aufga­ben, die künftig am wahrscheinlichsten zu einem militärischen Eingreifen führen können. Werde hier nicht Abhilfe geschaffen, so werde in den USA die Bereitschaft sinken, die gemeinsamen Interessen der NATO-Staaten stellvertretend für Europa auf der ganzen Welt durch­zusetzen, folgern die Autoren. Die Präsenz der US-Truppen in Eu­ropa dürfte in Frage gestellt werden. Die transatlantischen Bezie­hungen geraten in ernste Gefahr.

 Die Logik entbehrt nicht einer gewissen Süffisanz: Der Rückzug der USA in die Isolation und Konzentration auf die eigenen nationalen Interessen ist nur zu vermeiden, wenn die europäischen Staaten sich darauf einlassen, die nationalen Interessen der USA als ihre eigenen anzuerkennen und gemeinsam mit den USA durchzusetzen. Dazu müssen sich die Europäer auf die von den USA geforderte Veränderung der NATO einlassen und die Aufgabenstellung des Bündnisses deutlich hin zu weltweiter Interessensdurchsetzung und kollektiven Interventionen verschieben. Kollektive Umsetzung der amerikanischen Interessen durch die NATO, so lautet der Ausweg.

 Auch umgekehrt wird ein Schuh aus dieser Logik: Die Konzentration der Europäer auf die europäische Sicherheit, ihr Unwillen ihre Streit­kräfte fit für weltweite Interventionen zu machen, beruht auf der Annahme, daß die USA schon für die europäischen Interessen welt­weit ge­radestehen werden. Tun sie das, so ziehen die USA nicht nur die Risiken der Intervention selbst auf sich, sondern auch die Folgebedrohungen einer solchen Politik, also Risiken wie terroristische Angriffe oder Drohungen mit Massenvernichtungswaffen. Europa kann sich vor solchen Gefahren sicherer fühlen als die USA und hält deshalb eine eigene Politik weltweiter Interventionsfähigkeit zwecks Bekämpfung solcher Risiken für weniger dringlich. Die Autoren der Studie: "Für die Europäer bedeutet Verteidigung Vertei­digung von Grenzen; Machtprojektion hat einen Unterton von 'offensiver Kriegführung', selbst dann, wenn eigene Interessen an­gegriffen wurden und verteidigt werden sollen. Vereinfacht: Die Europäer haben es versäumt, ihrer Öffentlichkeit klarzumachen, daß Machtprojektion die neue Begründung für nationale Verteidigung sein muß."

 Konsequenterweise werden eher traditionelle Lösungsvorschläge von den Autoren der Studie abgelehnt. Eine Aufgabenteilung - die Euro­päer sorgen für die Masse der Streitkräfte zur kollektiven Vertei­digung des Bündnisses, die USA für flexible, weltweit einsetzbare militärische Strukturen - kommt für sie ebensowenig in Frage wie eine Verlangsamung des technischen Modernisierungstempos der US-Streitkräfte. Im Gegenteil: Sie plädieren für eine Beschleunigung der Ausrüstung der US-Streitkräfte mit Waffensystemen neuer Tech­nologie. Die Revolution in militärischen Angelegenheiten, die Re­volution in Military Affairs, die die Streitkräfte der USA zur stärksten konventionellen Militärmacht auf Erden hat werden las­sen, muß ungebremst vorangetrieben werden. Mind the gap! - Widen the Gap!

 Worum geht es? Die Revolution in militärischen Angelegenheiten ist eines der jüngeren Marketing-Schlagworte, mit denen die rüstungs­politische Elite in den Vereinigten Staaten Kampagnen zur Beschaf­fung neuer Rüstungsgüter und zur Erweiterung ihrer Märkte durch­führt. Im Kern geht es um die systematische Nutzung und Vernetzung der Informations- und Kommunikationstechnik, leistungsfähiger Aufklärungssysteme sowie modernster, präzisionsgesteuerter Waffentechnik, um die militärische Effizienz zu steigern und strategische Vorteile zu gewinnen. Ziel ist es, für jede Einheit und jedes Waffensystem - irgendwo auf dem Gefechtsfeld - über intelligente Sensoren sowie Computer- und Kommunikationsnetzwerke in Echtzeit alle Informationen bereitzustellen, die die militärische Lage präzise abbilden. Der Gegner soll jederzeit und überall, auch tief in seinem eigenen Hinterland, mit intelligenten, selbstzielsuchenden Waffen bekämpfbar sein. Dies stellt eigene Überlegenheit her, macht Kriege gewinnbar, minimiert die eigenen Verluste und damit die innenpolitische Opposition gegen solche Einsätze.

 Die Autoren wollen erreichen, daß Europäer und USA in Zukunft gemeinsam effektive Interventionseinsätze zur Durchsetzung ihrer Interessen durchführen können. Ihr Ziel ist es, die NATO in eine Allianz zur Verteidigung gemeinsamer Interessen mit der Fähigkeit zu weltweiter Machtprojektion umzubauen. Ihr Ziel ist es dagegen nicht, Europa gleichgewichtige militärische Fähigkeiten zu den USA aufbauen zu lassen oder die Europäische Rüstungsindustrie wettbewerbsfähiger zu machen. Vielmehr geht es ihnen darum, daß Europa auch künftig unter Führung der USA noch gemeinsam militärisch handeln kann. Über die NATO sollen die Europäer einerseits in die zukunftsträchtige militärtechnologische und doktrinäre Entwicklung einbezogen werden und andererseits veranlaßt werden, einen substantiellen großen Teil der weltweiten technischen Infrastruktur mitfinanzieren.

 Im Bündnis sollen sie gemeinsam mit den USA eine Vorstellung davon entwickeln, wie entlang der von USA vorgezeichneten Doktrin-Entwicklungen und technischen Standards künftige militärische Operationen durchgeführt werden. Sie sollen lernen, daß weniger mehr sein kann, daß erheblich kleinere, aber modernere Streitkräfte nach US-Standards einen größeren Beitrag zu den künftigen NATO-Aufgaben darstellen als die heute vorhandenen Kräfte. Beispiel Bundeswehr: Sieben Divisionsäquivalente offeriert sie der NATO heute, drei an den Prinzipien der Revolution in militärischen Angelegenheiten ausgerichtete, flexibel einsetzbare Divisionen halten die Autoren für sinnvoller. Und sie sollen ihre Streitkräfte und Einsatzdoktrinen modernisieren, sowie gemeinsam mit den USA jenes Netzwerk und System der Systeme schaffen, mit dem auf dem Gefechtsfeld in Echtheit alle Auklärungsdaten bei allen Endnutzern nutzbar gemacht werden können. Die erforderlichen Technologien - so die Autoren - sollen dort gekauft werden, wo sie auf einem liberalisierten Markt am günstigsten zu beschaffen sind. Im Klartext: vor allem in den USA.

 Die Studie weist Wege, die von der Clinton-Administration be­schritten werden. In der Diskussion über eine neue NATO-Strategie verfechten die USA vehement, daß die Durchsetzung westlicher In­teressen künftig zu den Kernaufgaben der Allianz gehört. Weder geographisch noch auf Fälle, in denen ein Mandat der UNO oder der OSZE vorliegt, sollen mögliche Einsätze der Allianz außerhalb des Vertragsgebietes beschränkt werden. Die neue Strategie soll sich ausdrücklich und ausführlich zu den militärischen Fähigkeiten äu­ßern, die die NATO-Staaten künftig besitzen müssen, um gemeinsam kämpfen und intervenieren zu können. Ein Zusatzdokument soll die operativen und strategischen Anforderungen an die NATO-Streitkräfte der Zukunft beschreiben. Im Rahmen einer "Defense Capabilities Initiative" sollen die NATO-Staaten sich mit der geeigneten modernen Technik und vor allem mit jenen Systemen ausstatten, die auch die europäi­schen NATO-Staaten in die Revolution in Military Affairs einbeziehen. 

Schon beschleunigen die USA die technologische Modernisierung ihrer Streitkräfte. Dies sichert, daß auch wenn die europäischen Staaten sich auf die Forderungen der USA im Rahmen der NATO einlassen, die technologische Lücke nicht schließen können. Erstmals seit Ende des Kalten Krieges steigen die Verteidigungsausgaben der USA wieder deutlich. 110 Mrd Dollar zu­sätzlich sollen in den kommenden sechs Jahren vor allem auch in neue Rüstungstechnik investiert werden, um die schlagkräftigste konventionelle Armee der Welt noch klarer überlegen zu machen. Zum Vergleich: Schon heute ist der amerikanische Verteidigungshaushalt mehr als fünfmal so groß wie der der nächstgrößeren Militärmächte, Rußland und China. Mit 60 Mrd. Dollar im Jahr geben die Vereinigten Staaten bereits heute mehr als doppelt soviel Geld für neue Rü­stungsgüter aus wie die Bundeswehr insgesamt zur Verfügung hat. Schon heute ist der US-Verteidigungshaushalt etwa so groß wie der gesamt Bundeshaushalt. Und die nächste Revolution in den US-Streitkräften wird auch schon vorbereitet - die Revolution in Geschäftsangelegenheiten, Revolution in Business Affairs. Auf gut deutsch - eine Verwaltungsreform.

Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping schwankt. Zum einen will er das amerikanische Drängen nicht aus- und die USA vor den Kopf schlagen. Auch befürwortet er eine schlagkräftige, einsetzbare und modern ausgerüstete Bundeswehr. Auf der anderen Seite will er vermeiden, daß die Arbeit der Wehrstrukturkommission und die Größe und Zukunft der Bundeswehr präjudiziert werden. Denn klar ist: Würde die Bundeswehr im Sinne der Autoren der RAND-Studie revolutioniert, so würde sie moderner, aber auch viel kleiner. Das Ende der Wehrpflicht wäre gekommen - schon aus finanziellen Gründen. Zudem mag ihm die Warnung eines deutschen Außenministers den Ohren klingen. Zitat: "Wir dürfen Akzeptanz und Zusammenhalt in der NATO nicht gefährden, indem wir ihre Aufgaben überdehnen. Die Schlagworte Globalisierung und Verteidigung von Interessen sind hier nicht hilfreich. Sie sind geeignet, die Diskussion in die Irre zu füh­ren. Sie könnten mißverstanden werden als angebli­che Militarisierung der Außenpolitik, die niemand will", sagte Klaus Kinkel anläßlich der NATO-Außenminister-Tagung im Mai 1998.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)