Ziellose Erweiterung
Ulf Terlinden
Der Zeitplan der NATO sieht für
die Zeit nach der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns, die in den nächsten Wochen
bevorsteht, eine Auswertung dieser ersten Erweiterungsrunde vor. Auf deren Grundlage soll
über die zukünftigen Schritte der Erweiterung entschieden werden. Wie diese aussehen
werden, ist noch nicht absehbar, aber es spricht vieles dafür, dass die Allianz sich eine
offizielle Denkpause verordnen sollte. Denn nicht nur eine neuerliche Erweiterung, sondern
schon die Fortschreibung ihrer Politik der "offenen Tür" belastet das
angeschlagene Verhältnis zu Russland, unabhängig davon, ob von ihr Gebrauch gemacht
wird.
Die NATO ist in Sachen Erweiterung, ebenso wie in vielen anderen Fragen, die das Ende der
alten Ost-West-Konfrontation mit sich brachte, tief gespalten. Diesseits wie jenseits des
Atlantik ist der politische Diskurs von der Frage nach der zukünftigen
"europäischen Sicherheitsarchitektur" geprägt. Welche Rolle soll die NATO
darin spielen, und wie wird Russland in diese Struktur eingebunden?
In der Diskussion grob zu unterscheiden sind zwei Lager: Das eine will die NATO vor allem
als System kollektiver territorialer Verteidigung (potentiell auch gegen Russland)
erhalten und unter dieser Maßgabe ausbauen; das andere Lager strebt einen sukzessiven
Umbau der Allianz zu einem Instrument weltweiter Interessensdurchsetzung an, der neben der
kollektiven Territorialverteidigung auch den Sicherheitsinteressen Russlands durch
zusätzliche Elemente kooperativer oder kollektiver Sicherheit Rechnung tragen kann, oder
bei Bedarf auch in Konfrontation zu Russland gehen kann.
Die erste Erweiterungsrunde wurde möglich, weil eine Koalition aus
beiden Lagern innerhalb der USA und unter ihrer Führung auch in der NATO zustande kam,
für die Polen, Ungarn und die Tschechische Republik den kleinsten gemeinsamen Nenner
bildete: Für die Vertreter des ersten Lagers waren die Beitritte Teil einer notwendigen
Re-Legitimierung der NATO. Drei der Staaten, die in das Bündnis aufgenommen werden
wollen, liegen nun nicht mehr zwischen der Ostgrenze der NATO und Russland, sondern nehmen
Teil an der "kollektiven Verteidigung". Die NATO gewinnt an Bündnisgebiet und
damit an Gewicht in Europa. Zugleich bedeutet die Aufnahme dieser neuen Mitgliedsstaaten
ein überschaubares Risiko für die NATO und eine Vergrößerung um nur drei Kandidaten
ließ sich in den Parlamenten der NATO-Mitgliedsstaaten politisch leicht durchsetzen.
Das zweite Lager betrachtet die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik
als einen Baustein des Wandels. Sie muss mit verstärkter Kooperation mit Russland
verbunden sein. Zugleich muss die NATO durch eine politische Reform reif für Aufgaben
kollektiver und kooperativer Sicherheit gemacht werden, also bei "Peacekeeping",
"Peace-Enforcement" und Out-of-area-Interventionen federführend sein.
Vieles spricht derzeit gegen einen raschen neuerlichen Schulterschluss der beiden Lager.
Ein politisches Endziel der NATO-Erweiterung ist nicht bekannt. Ein einfacher
Minimalkonsens über den nächsten Schritt, wie er bei der ersten Runde zustande kam, ist
jetzt nicht mehr möglich, denn wie im Folgenden zu sehen sein wird, hätte fast jeder
nächste Schritt Konsequenzen, die ein Teil der Befürworter der ersten Runde ablehnt.
Dissens und Konzeptlosigkeit
Deshalb muss die pauschale Politik der "offenen Tür", die Russland in
fortwährender Unsicherheit über die zukünftige politische Entwicklung in seiner
direkten Nachbarschaft hält, als ein Ausdruck des transatlantischen Dissenses und der
Konzeptlosigkeit angesehen werden.
Bisher konnten die zwei genannten Lager im Rahmen der Erweiterungsdiskussion relativ
ungestört koexistieren. Nahezu alle möglichen Optionen einer neuen Erweiterungsrunde
stellen die NATO nun jedoch vor eine Reihe von "Gretchenfragen":
Seit langem drängen Norwegen und Dänemark darauf, dass die drei baltischen Staaten in
die NATO aufgenommen werden. Wegen der fehlenden "strategischen Tiefe" und der
Lage des Baltikums zwischen Russland, Weißrussland und der Ostsee gibt es aber
Vorbehalte, die territoriale Verteidigungsgarantie des Bündnisses in diese Richtung
auszudehnen. Das Baltikum sei militärisch nicht glaubwürdig zu verteidigen, so das
Argument. Die USA haben versucht, die Balten (auch jene, die als Immigranten in den USA
leben und wählen) durch die Unterzeichnung einer bilateralen Charta mit den drei
Aspiranten zu beruhigen. Die USA
stellen den baltischen Staaten einen Beitritt in Aussicht, ohne einen Zeitpunkt zu nennen.
Zugleich haben die Amerikaner ihre Hoffnung geäußert, dass Estland, Lettland und Litauen
mit der Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt getröstet werden könnten - ein Schritt,
von dem die USA politisch profitieren würden, ohne einen Cent zu bezahlen.
Entscheidend ist aber, dass Russland ernste Konsequenzen für den Fall
angekündigt hat, dass die baltischen Staaten in die NATO aufgenommen würden. Durch ihre
frühere Zugehörigkeit zur Sowjetunion liegen die drei Ostsee-Anrainer im russischen
"Tabu-Bereich" einer möglichen NATO-Erweiterung. Eine solche
Konfrontation kann weder im Interesse der Vertreter kollektiver Sicherheit, noch im
Interesse des anderen NATO-Lagers sein. Denn wer kollektive Verteidigung in der NATO
organisieren will, muss ihre Handlungsfähigkeit erhalten.
Pulverfass Balkan
An der Süd-Ostflanke der NATO heißen die Kandidaten Slowenien, Rumänien, Bulgarien,
Mazedonien und Moldawien, sowie später vielleicht Albanien. Alle liegen auf dem Balkan,
der weithin als gefährliches Pulverfass wahrgenommen wird.
Während Italien gerne seinen Nachbarn Slowenien in der NATO vertreten sehen möchte,
befürworten die Franzosen einen Beitritt Rumäniens. Klar ist aber, dass mit der Aufnahme
von Aspiranten aus dieser Sechsergruppe eindeutig eine verstärkte Verwicklung der NATO in
die bestehenden und zukünftigen Konflikte der Region verknüpft wäre. Die NATO würde
sich damit auf die Stabilisierung des Balkans als eine ihrer wichtigen Aufgaben einlassen.
Mit diesem Vorgehen wären zwar eindeutige Vorteile verbunden - Schaffung einer klaren
Außengrenze der NATO, Landanschluss Ungarns, "Eindämmung" der
Jugoslawienkonflikte - doch fraglich ist, ob die NATO-Staaten dort substantielle
militärische Kräfte auf Jahre binden wollen. Eine Süd-Ost-Erweiterung brächte
möglicherweise nur hohe Kosten und magere militärpolitische Vorteile mit sich. Die NATO
wäre fest in der Region gebunden und vor allem die USA verlören ein Stück
Flexibilität, für den Fall, dass ihnen gerade mal wieder jemand an einem anderen Ort der
Welt auf der Nase herumtanzt. Auch würde eine Erweiterung der NATO auf bis zu 24
Mitglieder vielleicht ihre Handlungsfähigkeit einschränken, da alle Entscheidungen im
Bündnis konsensual getroffen werden müssen.
Zudem gibt es Bedenken wegen der russischen Reaktion auf eine so großangelegte
Erweiterung. Die Kooperationsbereitschaft Moskaus, die für eine Stabilisierung des
Balkans nützlich wäre, könnte gefährdet sein, da mit Applaus aus der russischen
Hauptstadt nicht gerechnet werden kann, wenn die NATO sich um alle Staaten des ehemaligen
Warschauer Paktes (außer den Nachfolgestaaten der Sowjetunion) erweitert.
Eine Süd-Ost-Erweiterung der NATO ist möglich, aber sie wäre mit erheblichen
Verpflichtungen und Folgen verbunden, die die verschiedenen Lager nur widerstrebend in
Kauf nehmen würden.
Als konsensfähiger Schritt wäre die Aufnahme Sloweniens oder
eventuell auch der Slowakei denkbar, die beide eine Landverbindung zwischen Ungarn und der
NATO schaffen würden. Denkbar wäre auch ein Beitritt der heute noch neutralen Staaten
Schweden, Österreich und Finnland. Sie wären fast allen NATO-Mitgliedern willkommen.
Zugleich brächte eine solche Erweiterung die Allianz aber auch in einen
Erklärungsnotstand: Es wäre noch schwerer, den anderen Aspiranten aus dem früheren
Warschauer Pakt die Mitgliedschaft zu verweigern.
Ein mehr oder weniger verdecktes Beitrittsinteresse gibt es auch in der Ukraine. Bisher
scheint es aber utopisch, dass ihr ein Beitrittsangebot in der nahen Zukunft gemacht wird.
Die Möglichkeit, auch Russland bei Interesse den Beitritt zur Allianz zu
ermöglichen, wird von fast allen NATO-Staaten für die absehbare Zukunft ausgeschlossen.
NATO-Russland-Verhältnis
NATO-extern sind vor allem die Beziehungen zu Russland für den Erweiterungskurs der
Allianz relevant. Letztlich waren daher alle bisherigen institutionellen Neuerungen von
dem halbherzigen Bemühen geprägt, die Enttäuschung Russlands über die Osterweiterung
vorläufig aufzufangen bzw. abzumildern.
Dies zeigte besonders der "Ständige Gemeinsame Rat" zwischen der NATO und
Russland sehr deutlich. Anfangs wurde das Gremium optimistisch als möglicher Brückenkopf
zum Aufbau von Mechanismen kooperativer Sicherheit angesehen, weil sein Gründungsdokument
Konsultationen und Kooperation zu fast allen Aspekten der europäischen Sicherheit
zulässt und nur den
engeren Bereich der kollektiven Verteidigung der NATO ausschließt. Diese Möglichkeiten
sind bisher nur teilweise genutzt worden, weil der Westen nicht den erforderlichen
politischen Willen aufbrachte, um Russland ernsthaft an Diskurs und Gestaltung
europäischer Sicherheitsarchitektur teilhaben zu lassen. Russland fehlte der Mut zu einem
offenen sicherheitspolitischen Dialog, der ggf. auch die Preisgabe militärischer
Geheimnisse erfordern kann, wenn dies vertrauensbildend wirkt.
Während der Rat seine Arbeit aufnahm, begann die NATO ihre Beitrittsverhandlungen mit den
ersten drei Beitrittskandidaten. Auf russischer Seite scheint dieser Schritt mittlerweile
als unvermeidbar hingenommen worden zu sein. Gleichzeitig hofft man jedoch, die NATO
könnte nun von weiteren Erweiterungsrunden absehen. Diese Bereitschaft zeigt die Allianz
bisher jedoch nicht.
Russland werden im Streit um die künftige Ausdehnung der NATO nur kleine Zugeständnisse
gemacht. Als europäisches Land anerkannt und in gemeinsame Sicherheitsstrukturen
eingebunden wird die russische Föderation dagegen nicht. Die Vertreter der kollektiven
Verteidigung versuchen Sicherheitspolitik in Europa ohne oder im Zweifel gegen Russland zu
machen - eine Politik, deren Ziele leicht zu erreichen und deren Ergebnisse schwer
umkehrbar sind. Die Vertreter der kooperativen Sicherheit wollen Russland zunächst bei
zweitrangigen Themen einbinden, solange dies anderen "Modernisierungszielen" der
NATO nicht im Wege steht.
Die "Politik der offenen Tür" verfolgt die NATO derweil
weiter. Sie ist für die nötige Vertrauensbildung kontraproduktiv, selbst wenn sie eine
zeitlang keine tatsächlichen Beitritte nach sich ziehen sollte. Langfristig droht sie auf
diese Weise den Ansätzen
kooperativer Sicherheit den Boden zu entziehen.
Stattdessen sollte der "Ständige Gemeinsame Rat" genutzt werden, um ein
gemeinsames Verständnis der NATO und Russlands über die beiderseitigen Beziehungen und
die NATO-Osterweiterung zu erreichen. Dabei muss die NATO Russland entweder eine
ernsthafte Beitrittsperspektive eröffnen, oder von neuen Schritten der Osterweiterung
absehen, um der Entwicklung des NATO-Russland-Verhältnisses klaren Vorrang zu geben. Nur
so wäre zu vermeiden, dass auf Jahrzehnte die Diskussion um künftige NATO-Erweiterungen
das NATO-Russland-Verhältnis vergiftet oder gar in erneute Konfrontation umkippen lässt.
Ulf Terlinden ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter bei BITS und studiert Politik an der FU Berlin.
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