Dezember 2003
Friedensforum 5/03

Neue (Militär-)Strategien
Strategie und Praxis der US-Kriegführung


Gerhard Piper

Als neuer US-Verteidigungsminister erließ Donald Rumsfeld im Sommer 2001 seine Richtlinien für den Einsatz der Streitkräfte (Guidelines for Use of Force), in denen es u.a. hieß: "Wenn die USA Gewalt anwenden, dann sollte die Aufgabe durchführbar sein, zu vertretbaren Risiken. (...) Wenn sich ein Kampfeinsatz lohnt, sollten sich die USA und ihre Koalitionspartner darüber im Klaren sein, dass dies Menschenleben fordern kann." Jetzt, zwei Jahre später, stehen 130.000 US-Soldaten als Besatzungstruppe im Irak und fragen sich, ob sich ihr Kampfeinsatz lohnt, ihre Aufgabe überhaupt durchführbar ist und was "vertretbare Risiken" sind.

Nachdem während des Golfkrieges 115 US-Soldaten getötet und 551 verletzt wurden, starben seit dem offiziellen Kriegsende am 1. Mai weitere 290 GIs und 1150 wurden verletzt. Der Krieg ist außer Kontrolle, die Kosten explodieren und in den USA selbst wächst allmählich der Widerstand gegen die Militärpolitik der neokonservativen Bushisten. Schon macht "das böse V-Wort" die Runde: Vietnam.

Gemäß seiner Kriegsstrategie wollte der Pentagonchef "Shock and Shiver" verbreiten, nun muss Rumsfeld geschockt und mit Schaudern die stündlichen Hiobsbotschaften aus Bagdad über neue Guerillaanschläge zur Kenntnis nehmen. Von Selbstzweifeln geplagt, verschickte der Minister am 16. Oktober 2003 ein vertrauliches Memorandum an vier ausgewählte hohe Pentagonbedienstete: "Gewinnen oder verlieren wir den weltweiten Krieg gegen den Terror? (...) Es ist nicht möglich das Verteidigungsministerium schnell genug umzustellen für einen erfolgreichen Kampf im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus; könnte eine Alternative darin bestehen, eine neue Behörde zu entwerfen, entweder innerhalb oder außerhalb des Verteidigungsministeriums?" Nachdem die Terroristen vom 11. September das Pentagon nur ankratzten, droht Rumsfeld damit, ihm einen Schlag von Innen zu versetzen.

Dabei hatten sich die US-Neocons ihre Weltherrschaft so schön vorgestellt und das amerikanische Paradies auf den Namen "Pax Americana" getauft: "Amerikas globale Vorherrschaft ist in ihrer Ausdehnung und in ihrer Art einzigartig. Sie ist eine Hegemonie neuen Typs", hatte Professor Zbigniew Brzezinski 1999 versprochen. Und Militärstratege Stephen Rose von der Universität Harvard pflichtete ihm 2002 bei: "Überall in der Welt besitzen wir die militärische Dominanz. Unsere Militärausgaben übertreffen jene der nächsten sechs oder sieben Mächte zusammengenommen (...). Wir, und nur wir, formen und führen Militärkoalitionen in den Krieg. Wir benutzen unsere militärische Dominanz, um in die inneren Angelegenheiten anderer Länder zu intervenieren. (...) Maximale Gewalt kann und sollte aus psychologischen Gründen so schnell wie möglich eingesetzt werden, um zu demonstrieren, dass bestraft wird, wer das Empire herausfordert." Diese Drohung richtete sich nicht nur gegen die üblichen Verdächtigen (Schurkenstaaten, gescheiterte Staaten, Terroristen), sondern auch die vermeintlichen Verbündeten der USA, so sie denn zu einer konkurrierenden Macht aufsteigen würden. Dementsprechend forderten die US-Strategen eine "full spectrum dominance".

Den Gipfel der gegenwärtigen US-Strategieentwicklung markiert die National Security Strategy über "antizipierende Selbstverteidigung" vom 20. September2002: "Die Vereinigten Staaten werden sich kontinuierlich um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bemühen, aber wir werden nicht zögern, notfalls allein zu handeln und unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen, indem wir präventiv gegen die Terroristen vorgehen und sie davon abhalten, unserem Volk und unserem Land Schaden zuzufügen." Auch auf die Atomwaffen wurde die neue US-Präventivkriegsstrategie ausgeweitet: Nachdem der US-Generalstab bereits im Dezember 1995 gefordert hatte, die atomare Zielplanung auf Schwellenländer auszudehnen, wurde dies unter Präsident Bill Clinton im November 1997 zur offiziellen US-Politik und unter Präsident George Bush mit der Präsidentendirektive National Security Presidential Directive 17 vom 14. September 2002 bestätigt: "Die Vereinigten Staaten werden weiterhin deutlich machen, dass sie sich das Recht vorbehalten, um mit überwältigender Macht, einschließlich dem möglichen Einsatz nuklearer Waffen, auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen die USA, unsere Streitkräfte in Übersee und unsere Freunde und Alliierte zu reagieren." Dabei wird auch ein atomarer Erstschlag nicht mehr ausgeschlossen: Dies hatte der US-Generalstab bereits im Februar 1996 mit seiner Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations gefordert. Während Präsident Bill Clinton diese Initiative der Militärs noch ablehnte, nahm sein Amtsnachfolger George Bush am 1. Juni 2002 die Forderung auf.

Mit der gleichen Bestimmtheit, mit der die US-Regierung früher die Sowjetunion als "evil empire" ausgemacht hatte, verfolgt sie heute die Schwellenländer, deren ABC-Waffenbeschaffungsprogramme am weitesten vorangekommen sind, als "axis of evil". Der Nuclear Posture Review vom 8. Januar 2002 nannte neben Russland und China auch fünf weitere Staaten (Libyen, Syrien, Irak, Iran und Nordkorea). In seiner Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002 attackierte Präsident Bush namentlich drei Länder (Irak, Iran und Nordkorea). Laut der National Strategy to Combat Weapons of Mass Destruction vom Dezember 2002 zählen vier Länder (Libyen, Syrien, Iran und Nordkorea) zu den potentiellen Zielgebieten. Über sechzig Kriegspläne hat das Pentagon für die verschiedenen Einsatzgebiete und Szenarien bereit liegen.

Mit dem Strategiewandel wuchs die Bereitschaft, die neue Linie in die Praxis umzusetzen rapide: Der vermeintlich schwache Irak sollte zum Testgebiet und könnte nun zu deren Grab werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die USA die zur Realisierung der Bush-Doktrin notwendige Aufrüstung (Langstrecken-Präzisionsgeschosse, Raketenabwehr, Cyperwar) finanzieren können. Der US-Rechnungshof rechnet mit jährlichen Kosten in Höhe von 426 Milliarden Dollar, um die Streitkräfte für zukünftige Rapid Decisive Operations (RDA) auszurüsten. Außerdem fehlt den US-Streitkräften nach wie vor geeignete Munition, um die ABC-Bunker von potentiellen Gegnern zuverlässig und ohne Umweltschäden zu zerstören. Konventionelle Bomben können nicht tief genug in den Erdboden eindringen, atomare Bomben würden zuviel radioaktiven Fallout produzieren. Nun plant die Bush-Regierung den Bau von Mini-Atombomben. Ende Mai 2003 beschloss der US-Kongreß mit dem Warner-Amendment, dass die Entwicklung und Produktion von Mini-Nukes nicht mehrgrundsätzlich verboten ist, sie würde aber einen entsprechenden Parlamentsbeschluss voraussetzen. Zunächst bewilligte der Kongress 6 Mio. $ für erste Technologiestudien einer Mini-Nuke und weitere 15 Millionen $ zur Entwicklung einer weiteren Atomwaffe, die vor der Explosion in den Erdboden eindringen und Bunkeranlagen zerstören soll. Dieser Robust Nuclear Earth Penetrator (RNEP) soll bis zum Jahr 2006 fertiggestellt sein. Sollte der Kongress der Entwicklung neuer Atomwaffen in den kommenden Jahrenzustimmen, müsste die US-Regierung diese auf dem Übungsgelände in Nevada testen und damit ihr Atomteststopp-Moratorium von 1992 aufheben. Dann könnten auch andere Länder die Entwicklung neuer Nuklearsprengkörper wieder aufnehmen.

 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).