Juedische Allgemeine
04. November 2004


Auf dem Holzweg

von Otfried Nassauer

Der 25.November rückt näher. An diesem Tag soll die Internationalen Atomenergiebehörde beurteilen, ob der Iran ein zulässiges, friedliches Atomprogramm verfolgt oder ein unzulässiges Waffenprogramm. Seit Monaten bekundet Israel seine Bereitschaft, die iranischen Atomanlagen notfalls präventiv zu zerstören. Der Iran droht seinerseits, die israelische Atomanlage in Dimona anzugreifen. Seit der Irak als Bedrohung Israels ausgedient hat, rückt Teheran an seine Stelle. Das ist – unabhängig von den realen Absichten des Irans – kaum Zufall.

Anfang 2003 erhielt Israels Ministerpräsident Ariel Scharon einen brisanten Bericht. Das "Projekt Daniel", eine hochrangige Gruppe ehemaliger Militärs, Geheimdienstler und Nuklearexperten aus Israel und den USA, überreichte ihm Empfehlungen zu "Israels strategischer Zukunft". Die hatten es in sich. Israel, so empfahl das Dokument, müsse alles tun, um arabische oder islamische Staaten wie den Iran und nicht-staatliche Akteure wie Terrorgruppen am Erwerb von Massenvernichtungswaffen zu hindern. "Dies könnte zweckdienliche präemptive konventionelle Schläge beinhalten, die sich gegen feindliche Zentren der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Kontrolle und Stationierung von Massenvernichtungswaffen" richten. Als "antizipierende Selbstverteidigung" sei dies mit internationalem Recht ebenso vereinbar wie mit der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA. Was für die Weltmacht USA Recht sei, müsse für das kleine, existenzbedrohte Israel billig sein. Israel könne nicht überleben, falls es nicht zudem eine glaubwürdige nukleare Abschreckung und ein mehrschichtiges Raketenabwehrsystem unterhalte. Dazu gehöre eine nukleare Zweitschlagsfähigkeit, mit der etwa 15 Bevölkerungszentren in Ländern wie Libyen oder dem Iran bedroht werden könnten. Vorrangiges Ziel sei es, nukleare Waffen nie einsetzen zu müssen – "Abschreckung ex ante, nicht Vergeltung ex post", im Nachhinein.

Das Argument ist trickreich: Es verknüpft die Verteidigung des Existenzrechts Israels mit der aus der Völkerrechtspraxis abgeleiteten "antizipierenden Selbstverteidigung". Ein Staat, dem ein (existenzgefährdender) Angriff unmittelbar und offensichtlich droht, darf mit seiner völkerrechtlich legitimen Selbstverteidigung bereits beginnen, bevor er real angegriffen wird. Präemption ist legitim. Doch dann folgt die entscheidende, unerklärte Erweiterung der Definition der antizipierenden Selbstverteidigung: Zu ihr zählen auch Schläge gegen "feindliche Zentren der Entwicklung [und] Herstellung von Massenvernichtungswaffen", also Anlagen, von denen zwar eine mögliche zukünftige Bedrohung ausgeht, nicht aber eine akute. Hier greift das Recht zur Präemption nicht. Es handelt sich um rechtswidrige Präventivschläge, insbesondere dann, wenn der gegnerische Staat noch gar nicht über Massenvernichtungswaffen verfügt. Gerade darum geht es den Autoren des Projekt Daniel. Sie insinuieren, der präventive Angriff auf den irakischen Reaktor Osirak sei präemptiv und völkerrechtlich legitim gewesen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Irak schon 1981 ein militärisches Nuklearprogramm verfolgte oder nicht.

Impliziert wird so auch eine neue Variante der Begin-Doktrin: Israel könne in keinem arabischen bzw. islamischen (Iran) Staat ein Nuklear(waffen)programm dulden. De facto wird damit allen arabischen bzw. islamischen Staaten das Recht auf die friedliche Nutzung der Nuklearenergie abgesprochen. Es gibt kein arabisches oder islamisches Land, in dem ein Nuklearprogramm aus israelischer Sicht nicht in den Verdacht des Strebens nach der Bombe kommen würde. Das Nachwort von "Projekt Daniel", verfasst nach dem Irakkrieg, nennt denn auch nicht nur den Iran, sondern auch Ägypten, Syrien oder den Sudan.

So verständlich die Furcht israelischer Sicherheitsexperten vor Massenvernichtungswaffen in moslemischem Händen auch ist, so deutlich wird auch deren Funktion, Israels Machtpolitik und ein potentielles Agieren außerhalb völkerrechtlicher Normen zu rechtfertigen. Zu fragen ist allerdings, ob eine solche Politik auf Dauer im Interesse Israels sein kann. Sollte Israel als Nichtmitglied des Atomwaffensperrvertrages wirklich versuchen, die Geschäftsgrundlage für das wichtigste internationale Nichtverbreitungsinstrument einseitig zu ändern? Sollte Israel wirklich allein auf das Recht des militärisch Stärkeren setzen und damit auf das Völkerrecht und die UNO als Garanten seines Existenzrechts verzichten? Das wäre wohl nur eines: Kurzsichtig. Eine solche Politik des Unilateralismus und der Stärke funktioniert nur in Konstellationen, in denen sich Israels Regierung quasi bedingungsloser Unterstützung aus den USA sicher sein kann – also solange, wie George W. Bush und die neokonservativen Hardliner Washingtons vorgeben, die Eckpunkte einer neuen Weltordnung quasi im Alleingang bestimmen zu können. Das aber ist nur bis zu den Wahlen sicher.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS