Auf dem Holzweg
von Otfried Nassauer
Der 25.November rückt näher. An diesem Tag soll die Internationalen
Atomenergiebehörde beurteilen, ob der Iran ein zulässiges, friedliches Atomprogramm
verfolgt oder ein unzulässiges Waffenprogramm. Seit Monaten bekundet Israel seine
Bereitschaft, die iranischen Atomanlagen notfalls präventiv zu zerstören. Der Iran droht
seinerseits, die israelische Atomanlage in Dimona anzugreifen. Seit der Irak als Bedrohung
Israels ausgedient hat, rückt Teheran an seine Stelle. Das ist unabhängig von den
realen Absichten des Irans kaum Zufall.
Anfang 2003 erhielt Israels Ministerpräsident Ariel Scharon einen brisanten Bericht.
Das "Projekt Daniel", eine hochrangige Gruppe ehemaliger Militärs,
Geheimdienstler und Nuklearexperten aus Israel und den USA, überreichte ihm Empfehlungen
zu "Israels strategischer Zukunft". Die hatten es in sich. Israel, so empfahl
das Dokument, müsse alles tun, um arabische oder islamische Staaten wie den Iran und
nicht-staatliche Akteure wie Terrorgruppen am Erwerb von Massenvernichtungswaffen zu
hindern. "Dies könnte zweckdienliche präemptive konventionelle Schläge beinhalten,
die sich gegen feindliche Zentren der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Kontrolle und
Stationierung von Massenvernichtungswaffen" richten. Als "antizipierende
Selbstverteidigung" sei dies mit internationalem Recht ebenso vereinbar wie mit der
Nationalen Sicherheitsstrategie der USA. Was für die Weltmacht USA Recht sei, müsse für
das kleine, existenzbedrohte Israel billig sein. Israel könne nicht überleben, falls es
nicht zudem eine glaubwürdige nukleare Abschreckung und ein mehrschichtiges
Raketenabwehrsystem unterhalte. Dazu gehöre eine nukleare Zweitschlagsfähigkeit, mit der
etwa 15 Bevölkerungszentren in Ländern wie Libyen oder dem Iran bedroht werden könnten.
Vorrangiges Ziel sei es, nukleare Waffen nie einsetzen zu müssen
"Abschreckung ex ante, nicht Vergeltung ex post", im Nachhinein.
Das Argument ist trickreich: Es verknüpft die Verteidigung des Existenzrechts Israels
mit der aus der Völkerrechtspraxis abgeleiteten "antizipierenden
Selbstverteidigung". Ein Staat, dem ein (existenzgefährdender) Angriff unmittelbar
und offensichtlich droht, darf mit seiner völkerrechtlich legitimen Selbstverteidigung
bereits beginnen, bevor er real angegriffen wird. Präemption ist legitim. Doch dann folgt
die entscheidende, unerklärte Erweiterung der Definition der antizipierenden
Selbstverteidigung: Zu ihr zählen auch Schläge gegen "feindliche Zentren der
Entwicklung [und] Herstellung von Massenvernichtungswaffen", also Anlagen, von denen
zwar eine mögliche zukünftige Bedrohung ausgeht, nicht aber eine akute. Hier greift das
Recht zur Präemption nicht. Es handelt sich um rechtswidrige Präventivschläge,
insbesondere dann, wenn der gegnerische Staat noch gar nicht über
Massenvernichtungswaffen verfügt. Gerade darum geht es den Autoren des Projekt Daniel.
Sie insinuieren, der präventive Angriff auf den irakischen Reaktor Osirak sei präemptiv
und völkerrechtlich legitim gewesen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Irak schon 1981
ein militärisches Nuklearprogramm verfolgte oder nicht.
Impliziert wird so auch eine neue Variante der Begin-Doktrin: Israel könne in keinem
arabischen bzw. islamischen (Iran) Staat ein Nuklear(waffen)programm dulden. De facto wird
damit allen arabischen bzw. islamischen Staaten das Recht auf die friedliche Nutzung der
Nuklearenergie abgesprochen. Es gibt kein arabisches oder islamisches Land, in dem ein
Nuklearprogramm aus israelischer Sicht nicht in den Verdacht des Strebens nach der Bombe
kommen würde. Das Nachwort von "Projekt Daniel", verfasst nach dem Irakkrieg,
nennt denn auch nicht nur den Iran, sondern auch Ägypten, Syrien oder den Sudan.
So verständlich die Furcht israelischer Sicherheitsexperten vor
Massenvernichtungswaffen in moslemischem Händen auch ist, so deutlich wird auch deren
Funktion, Israels Machtpolitik und ein potentielles Agieren außerhalb völkerrechtlicher
Normen zu rechtfertigen. Zu fragen ist allerdings, ob eine solche Politik auf Dauer im
Interesse Israels sein kann. Sollte Israel als Nichtmitglied des Atomwaffensperrvertrages
wirklich versuchen, die Geschäftsgrundlage für das wichtigste internationale
Nichtverbreitungsinstrument einseitig zu ändern? Sollte Israel wirklich allein auf das
Recht des militärisch Stärkeren setzen und damit auf das Völkerrecht und die UNO als
Garanten seines Existenzrechts verzichten? Das wäre wohl nur eines: Kurzsichtig. Eine
solche Politik des Unilateralismus und der Stärke funktioniert nur in Konstellationen, in
denen sich Israels Regierung quasi bedingungsloser Unterstützung aus den USA sicher sein
kann also solange, wie George W. Bush und die neokonservativen Hardliner
Washingtons vorgeben, die Eckpunkte einer neuen Weltordnung quasi im Alleingang bestimmen
zu können. Das aber ist nur bis zu den Wahlen sicher.

ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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