Magazin Loyal
Mai 2014


Ein neuer Kalter Krieg

von Otfried Nassauer


Russland hat sich die Krim einverleibt. Nach dem politischen Umsturz in Kiew gibt es in der Ukraine weitere separatistische Bestrebungen, die von Moskau unterstützt, wenn nicht sogar initiiert werden. Doch wem nützt das?

Russland hat auf der Krim Tatsachen geschaffen und will die strategisch bedeutsame Halbinsel auf Dauer behalten. Bislang war die Krim Teil der Ukraine und Moskau durfte dort auf Basis eines bilateralen Vertrages seine Schwarzmeerflotte stationieren. Der Standort garantiert den strategisch bedeutenden Zugang zum Mittelmeer, in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Mit seinem Vorgehen hat Moskau das Budapester Abkommen gebrochen. In dieser Vereinbarung garantierten Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine 1994 die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen. Im Gegenzug trat die Ukraine dem Atomwaffensperrvertrag bei.

Der Westen reagierte darauf mit harscher Kritik, ersten Sanktionen und vielen scharfen Worten. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bezeichnete das Vorgehen Moskaus als  „flagranten Bruch der internationalen Verpflichtungen Russlands“. Russlands Angriff sei „die schwerste Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation.“ Im Umgang mit Russland könne es jetzt kein „business as usual“ mehr geben.
 
Diese Schärfe ist nicht unproblematisch, denn auch die USA und die Nato sind in der jüngeren Vergangenheit – Irak und Kosovo – in ähnlich klare Konflikte mit dem Völkerrecht geraten wie Russland derzeit mit seinem Vorgehen auf der Krim. Das Gewaltniveau bei diesen westlichen Interventionen lag jedoch ungleich höher.

Die westlichen Reaktionen zeigen jedoch, dass starken Worten nicht ebenso starke Taten folgen müssen: Die Nato beschloss, Awacs-Aufklärungsflugzeuge nach Polen zu schicken und beauftragte ihre militärischen Stäbe, Vorschläge für eine stärkere Präsenz an den östlichen Außengrenzen zu erarbeiten. Deren Umsetzung bedarf weiterer politischer Beschlüsse. Realisiert wurden dagegen bislang vor allem bilateral-nationale Maßnahmen. Die USA haben acht zusätzliche Abfangjäger vom Typ F-15C nach Litauen verlegt, zeigen in Polen mit F-16-Flugzeugen Präsenz und verlegen Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Sie signalisieren,  Washington werde seine Bündnisverpflichtungen ernst nehmen.

Die Nato agiert etwas zurückhaltender als einige ihrer Mitglieder. Sie will keinen Zweifel aufkommen lassen, dass sie das Bündnisterritorium schützen würde, den Konflikt aber militärisch auch nicht weiter anheizen,  auch  nicht  sämtliche  Gesprächsbrücken nach Moskau abbrechen oder gar sicherheitsrelevante militärische Zusagen an die Ukraine machen. Dies ist ein Balanceakt, denn zugleich will die Nato der Ukraine umfassend Rückendeckung geben, damit Russland sich nicht ermuntert wird, weitere Landesteile aufzunehmen.

Der Nato-Rat beschloss, die zivile und militärische Zusammenarbeit mit Russland vorläufig einzustellen. Die Kommunikationskanäle des Nato-Russland-Rates bleiben jedoch bestehen. Sprecher deuteten zudem mögliche Ausnahmen für Kooperationsprojekte an, von denen auch die Nato stark profitiert, etwa die gemeinsame Bekämpfung des Drogenhandels und der Proliferation, die Belieferung Afghanistans mit russischen Hubschraubern oder die Nutzung des russischen Luftraums für den Abzug aus Afghanistan. Entschieden ist vergleichsweise wenig. Klar  ist nur, dass das Thema „Überprüfung der Beziehung zu Russland“ die kommenden Monate dominieren wird. Wird  Russland also wieder dauerhaft Gegner oder gar Feind?
 
Im Herbst steht der nächste Nato-Gipfel an.  Im Dezember 2014 endet der Kampfeinsatz in Afghanistan. Danach droht dem Bündnis eine erneute Debatte  über  seine Daseinsberechtigung und Aufgaben. In dieser Situation ist die Krise in der Ukraine auch ein Geschenk für die Allianz, das diese gerne angenommen hat. Es offeriert ein weitgehend  konsensfähiges  Rational  für die Zukunft der Nato. Weil Russland nicht Partner sein will, bleibt es ein potenzieller Gegner. Die Bündnisverteidigung erhält neue Relevanz und ist weiterhin die Hauptaufgabe der Allianz.

Das ergänzt sich gut mit den Interessen zweier Gruppen in der Nato. Zum einen sehen jene Staaten, die früher Teil des Warschauer Paktes oder gar der Sowjetunion waren,  in  Russland  einen bedrohlichen Nachbarn. Sie fordern seit Jahren deutliche Zeichen der westlichen Bündnispartner,  dass  das  Versprechen  der  Kollektivverteidigung auch und gerade für sie gilt. Eventualfallplanungen für den Krisenfall wie „Eagle Guardian“ für Polen und das Baltikum werden in den osteuropäischen Nato-Staaten als unzureichend erachtet. Sie wünschen sich, dass die Nato irgendwann keinerlei Rücksicht mehr auf russische Befindlichkeiten nimmt und an vorderster östlicher Front militärisch Präsenz zeigt.

Damit würde die Allianz ihre politisch verbindlichen Zusagen an Moskau brechen, die sie im Rahmen der deutschen Einheit, der Nato-Osterweiterungen und der Nato-Russland-Gründungsakte gemacht hat. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski wünscht sich die dauerhafte Stationierung von zwei schweren Brigaden der Nato in Polen. Aus US-amerikanischer und britischer Sicht bietet der Konflikt ebenfalls Chancen für eine längerfristige Absicherung der eigenen Interessen. Beide Länder hoffen, den Primat der Nato in der europäischen Sicherheitspolitik gegenüber der Europäischen Union auf längere Sicht absichern und Tendenzen zu einer größeren Eigenständigkeit der EU eindämmen zu können.

Die Krise schwächt derweil jene, die wie Deutschland für eine strategische, wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland eintreten und langfristig selbst eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit nicht ausschließen wollen. Andererseits: Solange es das wichtigste Ziel ist, die Sicherheit Europas vor und nicht mit Russland zu gestalten, solange bleibt die Nato mit großer Wahrscheinlichkeit das vorrangige Instrument der Sicherheitspolitik in Europa.

Wenn  der  Konflikt  mit  Moskau  und  der Disput über den Umgang mit Russland virulent bleiben und es ihnen gelingt, die sicherheitspolitischen Handlungsmöglichkeiten der Europäischen Union begrenzt zu halten, dann können Washington und London zudem weiter die Widersprüche im Kreis der Kontinentaleuropäer nutzen und jeweils mit den Ländern kooperieren, deren Positionen mit ihren Interessen am besten harmonieren. „Teile, herrsche und halte Dir die Option offen, gemeinsames Handeln in Europa im Bedarfsfall mit Hilfe dieser Nationen zu blockieren“ – so könnte das angelsächsische Leitmotiv lauten.

Hilfreich wäre aus dieser Sicht eine erneute Erweiterung der Nato, etwa um Georgien oder die Ukraine. Sie garantierte nicht nur die Führungsrolle Washingtons in Europa, sondern auch die Vielfalt europäischer  Sichtweisen  und  Interessenlagen innerhalb der Allianz. Eine Nato, in der sich die Europäer nicht einig sind, nützt nicht nur den Gegnern des Westens, sondern auch den USA und den europaskeptischen Briten.

Und noch eine Hoffnung in Brüssel und Washington erhält mit der Konfrontation mit Russland neue Nahrung: Europa könnte gezwungen sein, wieder mehr Geld für seine Streitkräfte auszugeben. Nato-Generalsekretär  Rasmussen  machte  das  jüngst mit der Aussage deutlich: „Ich denke, das war ein Weckruf (...). Es ist notwendig, den Trend  sinkender  Verteidigungsausgaben umzukehren. Wir können einfach nicht mit tiefen Einschnitten bei den Verteidigungshaushalten weitermachen und zugleich glauben, dass wir fähig bleiben, eine effektive kollektive Verteidigung vorzuhalten.“ Vor allem in Europa soll mehr Geld fürs Militär ausgegeben werden, die Nato den Bereitschaftsgrad ihrer Reaktionskräfte erhöhen und somit Russland möglichst deutliche Signale senden, im Ernstfall auch zu militärischem Handeln bereit zu sein.

Rasmussens Ruf nach höheren Verteidigungsausgaben findet Zustimmung in Washington.
Die US-Regierung drängt seit geraumer Zeit auf eine größere Lastenteilung mit Europa, weil sich die USA militärisch stärker in Asien engagieren wollen. Auch die wehrtechnische Industrie auf beiden Seiten des Atlantiks wäre für neue Absatzmöglichkeiten dankbar, die sich zwangsläufig ergäben, wenn sich das Verhältnis zu Russland dauerhaft verschlechtern sollte. Bislang strittige Projekte wie die geplante Nato-Raketenabwehr könnten leichter umsetzbar werden. Die Konzerne Lockheed und MBDA hoffen beispielsweise, dass nun trotz des Ausstiegs der USA das Luft- und Raketenabwehrsystem „Meads“ doch noch reanimiert werden kann.

Mit einer strategisch durchdachten Überarbeitung der militärischen Erfordernisse kollektiver Verteidigung durch die Nato haben  solche Überlegungen allerdings kaum etwas zu tun. Es handelt sich eher um populistische oder klientelorientierte Schnellschüsse. Volker Kauder, der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sagt mit Recht, dass die Krise in der Ukraine auf die Rüstungsprojekte der Bundeswehr „null Einfluss“ habe. Entscheidender wird sein, was der Nato-Gipfel im Herbst beschließt und welche Ziele sich das Bündnis für die Zukunft setzt. Viel wird davon abhängen, wie sich die aktuelle Lage in der Ukraine und an deren östlicher Grenze weiter entwickelt.

Die Landesteile  dort,  eine  politische  Hochburg des geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, sind mit ihrer Schwer- und Rüstungsindustrie bis heute bedeutende Handelspartner Russlands. Die Ostukraine ist in der neuen Regierung in Kiew unterrepräsentiert. Der Ruf nach Autonomie oder gar Unabhängigkeit wird laut und weder Kiew noch Moskau bemühen sich derzeit ernsthaft um eine Beruhigung der Lage. Im Gegenteil: Beide Seiten heizen den Konflikt weiter an. Russland hat vorgeblich zu Manöverzwecken Truppen nahe der ukrainischen Grenze verteilt, die westlichen Militärs zufolge stark genug wären, um die östliche und südliche Ukraine in wenigen Tagen zu besetzen.

Kiew verstärkt seine militärische Präsenz im Osten, integriert radikale, nationalistische Schlägertrupps aus dem „Rechten Sektor“ in die neu geschaffene Nationalgarde statt sie zu entwaffnen und entsendet ausgerechnet die Nationalgarde in die östlichen Landesteile. Zudem warnt es immer schriller vor einem drohenden russischen Einmarsch, der die Spaltung der Ukraine zum Ziel habe.  Um den Westen zu Solidarität und praktischer Unterstützung zu bewegen, ist der neuen Regierung in Kiew jede alarmistische Analyse recht. So argumentierte zum Beispiel der Militärexperte Oleksiy Kolomiyers vom Zentrum für Europa- und Transatlantische Studien kürzlich im NDR: „Der Plan Putins ist es, nach der Krim Bulgarien, dann Serbien und dann Bosnien-Herzegowina einzunehmen. Das ist die Südrichtung. Im Norden will er die Besetzung Lettlands, die Destabilisierung Finnlands und  danach  Grönland  und  Spitzbergen. Wir sind davon überzeugt, dass ein solcher Plan existiert. Und ich habe keinen Zweifel, dass dieser Plan auch umgesetzt wird.“

Die Nato-Generale dürften solche Reminiszenzen an die Operationsrichtungen des Kalten Krieges angesichts der realen, nach wie vor vergleichsweise beschränkten Fähigkeiten der russischen Streitkräfte eher belächeln. Lauthals widersprechen werden sie ihnen aber nicht. Sie helfen, den öffentlichen Diskurs auf die Wiederbelebung der Nato als Verteidigungsbündnis gegen Russland zu fokussieren. In Brüssel ist man sich allerdings in der Tat nicht sicher, wie weit Wladimir Putin zugehen bereit wäre. Kaum jemand in der Nato hält es für sinnvoll,  wegen  der  Krim  oder  der  Ostukraine einen Krieg vom Zaun zu brechen.

Auch die Regierung in Kiew will die Krim-Problematik in realistischer Einsicht in ihre politischen und militärischen Möglichkeiten wohl erst einmal nur vor den Internationalen Gerichtshof bringen. Sieht Moskau also davon ab, sich weitere Teile der Ukraine einzuverleiben, so würden die Nato-Russland-Beziehungen zwar lange frostig bleiben, aber ein dauerhaft feindliches Verhältnis folgte nicht unbedingt daraus.

Eine Regierung Putin und eine Nato, denen  beiden  eine  Schwächephase  droht, können mittels der Ukraine-Krise den Status quo und den Erhalt ihres Einflusses absichern. Der Preis wäre ein dreifacher. Erstens: In Russland unterbleibt die notwendige wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung, Putin richtet sein Land  gezwungenermaßen  stärker  nach Asien aus. Zweitens: Die dringliche Vertiefung der Integration und die Stärkung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union werden erneut vertagt, weil sich Europa über seine Außen- und Sicherheitspolitik uneins ist. Drittens: Der Ukraine bleibt nur das Schicksal eines wirtschaftlich schwachen, instabilen Zwischeneuropas, um dessen Zukunft inner- und außerhalb des Landes weiter gerungen wird.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS