Ein neuer Kalter Krieg
von Otfried Nassauer
Russland hat sich die Krim einverleibt. Nach dem politischen
Umsturz in Kiew gibt es in der Ukraine weitere separatistische
Bestrebungen, die von Moskau unterstützt, wenn nicht sogar
initiiert
werden. Doch wem nützt das?
Russland hat auf der Krim Tatsachen geschaffen und will
die strategisch bedeutsame Halbinsel auf Dauer behalten. Bislang war
die Krim Teil der Ukraine und Moskau durfte dort auf Basis eines
bilateralen Vertrages seine Schwarzmeerflotte stationieren. Der
Standort garantiert den strategisch bedeutenden Zugang zum Mittelmeer,
in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Mit seinem Vorgehen hat Moskau
das Budapester Abkommen gebrochen. In dieser Vereinbarung garantierten
Russland, die USA und Großbritannien der Ukraine 1994 die
Unverletzlichkeit ihrer Grenzen. Im Gegenzug trat die Ukraine dem
Atomwaffensperrvertrag bei.
Der Westen reagierte darauf mit harscher Kritik, ersten Sanktionen und
vielen scharfen Worten. Nato-Generalsekretär Anders Fogh
Rasmussen bezeichnete das Vorgehen Moskaus als
„flagranten Bruch der internationalen Verpflichtungen
Russlands“. Russlands Angriff sei „die schwerste
Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer
Generation.“ Im Umgang mit Russland könne es jetzt
kein „business as usual“ mehr geben.
Diese Schärfe ist nicht unproblematisch, denn auch die USA und
die Nato sind in der jüngeren Vergangenheit – Irak
und Kosovo – in ähnlich klare Konflikte mit dem
Völkerrecht geraten wie Russland derzeit mit seinem Vorgehen
auf der Krim. Das Gewaltniveau bei diesen westlichen Interventionen lag
jedoch ungleich höher.
Die westlichen Reaktionen zeigen jedoch, dass starken Worten nicht
ebenso starke Taten folgen müssen: Die Nato beschloss,
Awacs-Aufklärungsflugzeuge nach Polen zu schicken und
beauftragte ihre militärischen Stäbe,
Vorschläge für eine stärkere
Präsenz an den östlichen Außengrenzen zu
erarbeiten. Deren Umsetzung bedarf weiterer politischer
Beschlüsse. Realisiert wurden dagegen bislang vor allem
bilateral-nationale Maßnahmen. Die USA haben acht
zusätzliche Abfangjäger vom Typ F-15C nach Litauen
verlegt, zeigen in Polen mit F-16-Flugzeugen Präsenz und
verlegen Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Sie signalisieren,
Washington werde seine Bündnisverpflichtungen ernst nehmen.
Die Nato agiert etwas zurückhaltender als einige ihrer
Mitglieder. Sie will keinen Zweifel aufkommen lassen, dass sie das
Bündnisterritorium schützen würde, den
Konflikt aber militärisch auch nicht weiter
anheizen, auch nicht
sämtliche Gesprächsbrücken nach
Moskau abbrechen oder gar sicherheitsrelevante militärische
Zusagen an die Ukraine machen. Dies ist ein Balanceakt, denn zugleich
will die Nato der Ukraine umfassend Rückendeckung geben, damit
Russland sich nicht ermuntert wird, weitere Landesteile aufzunehmen.
Der Nato-Rat beschloss, die zivile und militärische
Zusammenarbeit mit Russland vorläufig einzustellen. Die
Kommunikationskanäle des Nato-Russland-Rates bleiben jedoch
bestehen. Sprecher deuteten zudem mögliche Ausnahmen
für Kooperationsprojekte an, von denen auch die Nato stark
profitiert, etwa die gemeinsame Bekämpfung des Drogenhandels
und der Proliferation, die Belieferung Afghanistans mit russischen
Hubschraubern oder die Nutzung des russischen Luftraums für
den Abzug aus Afghanistan. Entschieden ist vergleichsweise wenig.
Klar ist nur, dass das Thema
„Überprüfung der Beziehung zu
Russland“ die kommenden Monate dominieren wird.
Wird Russland also wieder dauerhaft Gegner oder gar Feind?
Im Herbst steht der nächste Nato-Gipfel an. Im
Dezember 2014 endet der Kampfeinsatz in Afghanistan. Danach droht dem
Bündnis eine erneute Debatte über
seine Daseinsberechtigung und Aufgaben. In dieser Situation ist die
Krise in der Ukraine auch ein Geschenk für die Allianz, das
diese gerne angenommen hat. Es offeriert ein weitgehend
konsensfähiges Rational für die
Zukunft der Nato. Weil Russland nicht Partner sein will, bleibt es ein
potenzieller Gegner. Die Bündnisverteidigung erhält
neue Relevanz und ist weiterhin die Hauptaufgabe der Allianz.
Das ergänzt sich gut mit den Interessen zweier Gruppen in der
Nato. Zum einen sehen jene Staaten, die früher Teil des
Warschauer Paktes oder gar der Sowjetunion waren,
in Russland einen bedrohlichen Nachbarn. Sie
fordern seit Jahren deutliche Zeichen der westlichen
Bündnispartner, dass das
Versprechen der Kollektivverteidigung auch und
gerade für sie gilt. Eventualfallplanungen für den
Krisenfall wie „Eagle Guardian“ für Polen
und das Baltikum werden in den osteuropäischen Nato-Staaten
als unzureichend erachtet. Sie wünschen sich, dass die Nato
irgendwann keinerlei Rücksicht mehr auf russische
Befindlichkeiten nimmt und an vorderster östlicher Front
militärisch Präsenz zeigt.
Damit würde die Allianz ihre politisch verbindlichen Zusagen
an Moskau brechen, die sie im Rahmen der deutschen Einheit, der
Nato-Osterweiterungen und der Nato-Russland-Gründungsakte
gemacht hat. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski
wünscht sich die dauerhafte Stationierung von zwei schweren
Brigaden der Nato in Polen. Aus US-amerikanischer und britischer Sicht
bietet der Konflikt ebenfalls Chancen für eine
längerfristige Absicherung der eigenen Interessen. Beide
Länder hoffen, den Primat der Nato in der
europäischen Sicherheitspolitik gegenüber der
Europäischen Union auf längere Sicht absichern und
Tendenzen zu einer größeren
Eigenständigkeit der EU eindämmen zu können.
Die Krise schwächt derweil jene, die wie Deutschland
für eine strategische, wirtschaftliche und politische
Kooperation mit Russland eintreten und langfristig selbst eine
sicherheitspolitische Zusammenarbeit nicht ausschließen
wollen. Andererseits: Solange es das wichtigste Ziel ist, die
Sicherheit Europas vor und nicht mit Russland zu gestalten, solange
bleibt die Nato mit großer Wahrscheinlichkeit das vorrangige
Instrument der Sicherheitspolitik in Europa.
Wenn der Konflikt mit
Moskau und der Disput über den Umgang mit
Russland virulent bleiben und es ihnen gelingt, die
sicherheitspolitischen Handlungsmöglichkeiten der
Europäischen Union begrenzt zu halten, dann können
Washington und London zudem weiter die Widersprüche im Kreis
der Kontinentaleuropäer nutzen und jeweils mit den
Ländern kooperieren, deren Positionen mit ihren Interessen am
besten harmonieren. „Teile, herrsche und halte Dir die Option
offen, gemeinsames Handeln in Europa im Bedarfsfall mit Hilfe dieser
Nationen zu blockieren“ – so könnte das
angelsächsische Leitmotiv lauten.
Hilfreich wäre aus dieser Sicht eine erneute Erweiterung der
Nato, etwa um Georgien oder die Ukraine. Sie garantierte nicht nur die
Führungsrolle Washingtons in Europa, sondern auch die Vielfalt
europäischer Sichtweisen und
Interessenlagen innerhalb der Allianz. Eine Nato, in der sich die
Europäer nicht einig sind, nützt nicht nur den
Gegnern des Westens, sondern auch den USA und den europaskeptischen
Briten.
Und noch eine Hoffnung in Brüssel und Washington
erhält mit der Konfrontation mit Russland neue Nahrung: Europa
könnte gezwungen sein, wieder mehr Geld für seine
Streitkräfte auszugeben.
Nato-Generalsekretär Rasmussen
machte das jüngst mit der Aussage
deutlich: „Ich denke, das war ein Weckruf (...). Es ist
notwendig, den Trend sinkender
Verteidigungsausgaben umzukehren. Wir können einfach nicht mit
tiefen Einschnitten bei den Verteidigungshaushalten weitermachen und
zugleich glauben, dass wir fähig bleiben, eine effektive
kollektive Verteidigung vorzuhalten.“ Vor allem in Europa
soll mehr Geld fürs Militär ausgegeben werden, die
Nato den Bereitschaftsgrad ihrer Reaktionskräfte
erhöhen und somit Russland möglichst deutliche
Signale senden, im Ernstfall auch zu militärischem Handeln
bereit zu sein.
Rasmussens Ruf nach höheren Verteidigungsausgaben findet
Zustimmung in Washington.
Die US-Regierung drängt seit geraumer Zeit auf eine
größere Lastenteilung mit Europa, weil sich die USA
militärisch stärker in Asien engagieren wollen. Auch
die wehrtechnische Industrie auf beiden Seiten des Atlantiks
wäre für neue Absatzmöglichkeiten dankbar,
die sich zwangsläufig ergäben, wenn sich das
Verhältnis zu Russland dauerhaft verschlechtern sollte.
Bislang strittige Projekte wie die geplante Nato-Raketenabwehr
könnten leichter umsetzbar werden. Die Konzerne Lockheed und
MBDA hoffen beispielsweise, dass nun trotz des Ausstiegs der USA das
Luft- und Raketenabwehrsystem „Meads“ doch noch
reanimiert werden kann.
Mit einer strategisch durchdachten Überarbeitung der
militärischen Erfordernisse kollektiver Verteidigung durch die
Nato haben solche Überlegungen allerdings kaum etwas
zu tun. Es handelt sich eher um populistische oder klientelorientierte
Schnellschüsse. Volker Kauder, der Vorsitzende der
CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sagt mit Recht, dass die Krise in der
Ukraine auf die Rüstungsprojekte der Bundeswehr
„null Einfluss“ habe. Entscheidender wird sein, was
der Nato-Gipfel im Herbst beschließt und welche Ziele sich
das Bündnis für die Zukunft setzt. Viel wird davon
abhängen, wie sich die aktuelle Lage in der Ukraine und an
deren östlicher Grenze weiter entwickelt.
Die Landesteile dort, eine
politische Hochburg des geflohenen Präsidenten
Wiktor Janukowitsch, sind mit ihrer Schwer- und
Rüstungsindustrie bis heute bedeutende Handelspartner
Russlands. Die Ostukraine ist in der neuen Regierung in Kiew
unterrepräsentiert. Der Ruf nach Autonomie oder gar
Unabhängigkeit wird laut und weder Kiew noch Moskau
bemühen sich derzeit ernsthaft um eine Beruhigung der Lage. Im
Gegenteil: Beide Seiten heizen den Konflikt weiter an. Russland hat
vorgeblich zu Manöverzwecken Truppen nahe der ukrainischen
Grenze verteilt, die westlichen Militärs zufolge stark genug
wären, um die östliche und südliche Ukraine
in wenigen Tagen zu besetzen.
Kiew verstärkt seine militärische Präsenz im
Osten, integriert radikale, nationalistische Schlägertrupps
aus dem „Rechten Sektor“ in die neu geschaffene
Nationalgarde statt sie zu entwaffnen und entsendet ausgerechnet die
Nationalgarde in die östlichen Landesteile. Zudem warnt es
immer schriller vor einem drohenden russischen Einmarsch, der die
Spaltung der Ukraine zum Ziel habe. Um den Westen zu
Solidarität und praktischer Unterstützung zu bewegen,
ist der neuen Regierung in Kiew jede alarmistische Analyse recht. So
argumentierte zum Beispiel der Militärexperte Oleksiy
Kolomiyers vom Zentrum für Europa- und Transatlantische
Studien kürzlich im NDR: „Der Plan Putins ist es,
nach der Krim Bulgarien, dann Serbien und dann Bosnien-Herzegowina
einzunehmen. Das ist die Südrichtung. Im Norden will er die
Besetzung Lettlands, die Destabilisierung Finnlands und
danach Grönland und Spitzbergen.
Wir sind davon überzeugt, dass ein solcher Plan existiert. Und
ich habe keinen Zweifel, dass dieser Plan auch umgesetzt
wird.“
Die Nato-Generale dürften solche Reminiszenzen an die
Operationsrichtungen des Kalten Krieges angesichts der realen, nach wie
vor vergleichsweise beschränkten Fähigkeiten der
russischen Streitkräfte eher belächeln. Lauthals
widersprechen werden sie ihnen aber nicht. Sie helfen, den
öffentlichen Diskurs auf die Wiederbelebung der Nato als
Verteidigungsbündnis gegen Russland zu fokussieren. In
Brüssel ist man sich allerdings in der Tat nicht sicher, wie
weit Wladimir Putin zugehen bereit wäre. Kaum jemand in der
Nato hält es für sinnvoll, wegen
der Krim oder der Ostukraine
einen Krieg vom Zaun zu brechen.
Auch die Regierung in Kiew will die Krim-Problematik in realistischer
Einsicht in ihre politischen und militärischen
Möglichkeiten wohl erst einmal nur vor den Internationalen
Gerichtshof bringen. Sieht Moskau also davon ab, sich weitere Teile der
Ukraine einzuverleiben, so würden die
Nato-Russland-Beziehungen zwar lange frostig bleiben, aber ein
dauerhaft feindliches Verhältnis folgte nicht unbedingt
daraus.
Eine Regierung Putin und eine Nato, denen beiden
eine Schwächephase droht, können
mittels der Ukraine-Krise den Status quo und den Erhalt ihres
Einflusses absichern. Der Preis wäre ein dreifacher. Erstens:
In Russland unterbleibt die notwendige wirtschaftliche und
gesellschaftliche Modernisierung, Putin richtet sein Land
gezwungenermaßen stärker nach
Asien aus. Zweitens: Die dringliche Vertiefung der Integration und die
Stärkung der Handlungsfähigkeit der
Europäischen Union werden erneut vertagt, weil sich Europa
über seine Außen- und Sicherheitspolitik uneins ist.
Drittens: Der Ukraine bleibt nur das Schicksal eines wirtschaftlich
schwachen, instabilen Zwischeneuropas, um dessen Zukunft inner- und
außerhalb des Landes weiter gerungen wird.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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