Magazin Loyal
Juli 2014


Im Bermudadreieck der Rüstungsbeschaffung

von Otfried Nassauer und Dr. Hilmar Linnenkamp


Eines ist sicher: Das Beschaffungswesen  für  Rüstungsgüter  und Waffen in Deutschland ist und hat ein Problem. Wieder einmal oder  immer  noch, vom Schützenpanzer HS 30, dem Starfighter und den U-Booten der 1960er über den Tornado der 1970er und 1980er bis hin zu Eurofighter, Euro Hawk und den Hubschraubern der Gegenwart. Noch  immer  gilt, worüber sich bereits Helmut Schmidt als Verteidigungsminister mokierte: „Bei einer Reihe von Rüstungsprojekten der Vergangenheit waren erhebliche Verzögerungen, unangenehme Kostensteigerungen und beachtliche technische Fehlleistungen aufgetreten.“   Auf den Punkt gebracht: Zu spät, zu teuer und zu schlecht.

Das war für Schmidt und seinen Rüstungsstaatssekretär Ernst Mommsen 1971 Anlass, eine grundlegende „Neuordnung des Rüstungsbereiches“ in der Bundeswehr anzugehen. Schon damals galt: Wer den Kampf mit den Titanen des Rüstungsgeschäfts wagt und nicht verliert, der schafft sich eine Empfehlung für höhere Aufgaben.

Derzeit sieht es so aus, als wolle auch Ursula von der Leyen den Stier bei den Hörnern packen: Kaum zwei Monate im Amt, lehnte sie bei der ersten Sitzung des Rüstungsrats im Februar alle ihr vorgelegten Sachstandsberichte zu Rüstungsprojekten ab. Ihre Begründung ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Viele Großprojekte halten weder Zeit- noch Finanzrahmen ein. (...) Das ist kein haltbarer Zustand.“ Helmut Schmidt lässt grüßen.

Im Beschaffungswesen der Bundeswehr soll endlich aufgeräumt werden. Ein Augiasstall sei auszumisten, suggerierte die Ministerin, entließ den zuständigen Staatssekretär Stepháne Beemelmans und kündigte an, externe Berater zu Hilfe zu holen. Nur: Werden diese dem Problem endlich auf den Grund gehen und einer Lösung auf die Spur  kommen?

Der Weg externer Hilfe ist nicht neu. Das Verteidigungsministerium  hat  bereits mehrfach Berater zu Hilfe gerufen. Doch die Experten gingen, während die Probleme blieben. Ihre Vorschläge kennt das Ministerium seit Jahren. Beratungsunternehmen bringen juristischen und betriebswirtschaftlichen Sachverstand mit. In kameralistisch organisierten  Umgebungen liefern sie meist Ideen zur Prozessoptimierung und empfehlen oft,  bürokratische Apparate zu verschlanken und Aufgaben in den privaten Sektor auszulagern. Vielfach therapieren sie jedoch nur die Symptome, vernachlässigen aber die Ursachen der Probleme.

Was also müsste anders werden? Da sind vor allem die Fragen, auf die das Ministerium möglichst fundierte Antworten sucht und die Genauigkeit,  mit  der  sie  untersucht werden können. Diese Vorgaben bestimmen wesentlich mit, ob Berater zu den Ursachen der Beschaffungsprobleme vordringen können. Einfach umzusetzen ist das offenbar nicht. Schon die Rahmenbedingungen  des  aktuellen Beratungsvertrags  lassen Zweifel aufkommen, dass es diesmal besser wird. Nach der Vertragsunterzeichnung Ende Juni soll der Ausschreibungssieger schon im September seine Arbeitsergebnisse vorlegen, die – so vage ist das formuliert – aus einer „Risiko- und Frühwarnanalyse zentraler Rüstungsprojekte“, dem „Projektreview eines zentralen Projekts“ und „Handlungsempfehlungen  für  Management und Organisationsentwicklung“ bestehen sollen. Das kommt einer Herkulesaufgabe innerhalb von 90 Tagen gleich.
 
Der Auftrag sieht vor, 15 unterschiedliche Großprojekte und eines dieser Vorhaben bis ins Detail zu analysieren sowie das Beschaffungswesen der Bundeswehr samt dessen Management- und Organisationsstrukturen zu überprüfen und in allen drei Bereichen Verbesserungsvorschläge vorzulegen. Eine Verlängerungsmöglichkeit sieht die Ausschreibung nicht vor. Höflich ausgedrückt: Dieser Terminplan ist mehr  als  sportlich.  Weniger  höflich  formuliert: Er ist so gestaltet, dass möglichst wenig Problematisches entdeckt und untersucht werden kann. Hinzu kommt: Die analytische Arbeit soll während der jährlichen Haupturlaubszeit geleistet werden. Dass den Beratern alle für eine gründliche Arbeit notwendigen Ansprechpartner und Dokumente im Verteidigungsministerium und in der Bundeswehr zur Verfügung stehen werden, darf ebensowenig als wahrscheinlich gelten wie dass das Ministerium für alle relevanten Mitarbeiter eine Urlaubssperre angewiesen hat.

Zu den fundamentalen Problemen des militärischen Beschaffungswesens gehört schon die  Entstehungsgeschichte  vieler  großer Rüstungsprojekte. Wer ergreift aus welchen Motiven die Initiative dazu, dass sie begonnen werden? So manches milliardenschwere Großprojekt entstand nicht, weil die Bundeswehr gerade dieses Waffensystem zwingend und vorrangig brauchte. Es wurde begonnen, weil es die Politik zur Priorität gemacht hat.

Die Hubschrauberprojekte Tiger und NH90 wurden beispielsweise in den 1980er Jahren initiiert, weil der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl unbedingt die Rüstungskooperation mit Frankreich intensivieren wollte – ein außen- und europapolitisches Motiv also. Unterstützend kamen technologie-, industrie- und beschäftigungspolitische Argumente hinzu, mit denen von der nationalen bis hinunter auf die lokale Ebene eine starke Lobby für gerade diese Vorhaben mobilisiert werden konnte. Militärischer Bedarf der Bundeswehr ließ sich zwar auch begründen, gab aber nicht den Ausschlag.

Neben fachlichen Gründen – ein altes Waffensystem  muss  ersetzt  oder  eine  neue Technologie soll eingeführt werden – gibt es eine Vielzahl politischer Motive, die Entwicklungs- und Beschaffungsentscheidungen  beeinflussen.  Die  Beschaffung von Schiffen und Booten für die Marine erfolgt in  Deutschland  seit  Jahrzehnten  keineswegs nur entlang militärischer Notwendigkeiten. Sie ist eines der Instrumente, mit denen die Politik steuernd, subventionierend, abfedernd und technische Fähigkeiten sichernd in die wiederholten Krisen der Schiffbauindustrie eingreift.

Politisch motivierte Eingriffe bedeuten aber auch, dass die Politik jenseits ihrer Aufgabe demokratischer Legitimation und Kontrolle von Beschaffungsprojekten Partikularinteressen zur Wirkung bringt, die oft eine wichtige Ursache dafür sind, dass die Streitkräfte nicht rechtzeitig genau die hochwertige Ausstattung bekommen, die sie wirklich benötigen. In einem solchen Umfeld können weitere gravierende Problemursachen gut gedeihen.

Wenn der Staat Waffen bestellt, dann geht es meist nicht nur um sehr viel Geld, sondern auch um die Interessen dreier mächtiger Gruppen: der Bundeswehr mit ihren Teilstreitkräften, der zivilen Beschaffungsbürokratie und natürlich der wehrtechnischen Industrie. Die Armee will das Allerbeste, was künftige Technik bieten könnte. Sie fordert oft Lösungen mit Goldrand. Die Industrie will möglichst viel Geld verdienen und  verspricht  natürlich,  das  Geforderte zeitnah mit den gewünschten Leistungen liefern zu können. Und das zivile Beschaffungsmanagement wählt nicht nur aus, wer die Bundeswehr beliefern darf, sondern  begleitet  auch  den  vielschrittigen Prozess der Vertragsanpassungen und Vertragsänderungen. Das Bundesamt für Ausrüstung,  Informationstechnik  und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw), der Nachfolger des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB), prüft über seine Wehrtechnischen Dienststellen (WTD) zudem Qualität und Fähigkeiten der Industrieprodukte.

Da Großprojekte wie ein neues Flugzeug oder ein neuer Panzer zwischen ersten Studien, Entwicklungsbeginn und voller Einsatzfähigkeit oft drei oder gar vier Jahrzehnte benötigen, ändern sich innerhalb dieser  Zeit  häufig  nicht  nur  die  technischen  Lösungsansätze  und  Lösungsmöglichkeiten, sondern auch die militärischen Anforderungen. Der rasche technologische Fortschritt im Bereich der Elektronik ist ein Beispiel. In der Folge steigen bei vielen Projekten der Zeitbedarf, die  Kosten sowie die Zahl der Vertragsänderungen. Beim Transportflugzeug A400M bewegen wir uns beispielsweise heute jenseits von Vertragsänderung Nummer 38.

Da Beschaffungsvorhaben  vor allem dann als gute Projekte gelten, wenn von ihnen nur zu hören ist, wenn Erfolge zu melden sind, werden selbst erkannte Probleme oft lange unter der Decke gehalten. Die Ministerial- und Bundeswehrbürokratie üben  sich dann gern in der Kunst der Selbstermächtigung, also der Umgehung und Nichtbefassung der politischen Ebene. Probleme und Fehler gibt es nicht, es sei denn, sie lassen sich gar nicht mehr leugnen. Der Industrie ist das ganz recht, da ihr Ruf auf diesem Wege geschont wird, auch wenn sie nicht zeit- oder kostengerecht liefern kann, was sie versprochen hat. Alle drei Interessengruppen suchen dann  den  Kompromiss  auf  Kosten  eines Vierten, des Steuerzahlers. Dazu wird als fünfter Akteur das Parlament benötigt, das Kostensteigerungen zustimmen muss und dies in der Regel auch tut. Selten gibt es dazu eine echte Alternative – es sei denn um den Preis eines Projektabbruchs. Dann aber bekommt das Militär nichts und Arbeitsplätze  werden  gefährdet.  Der  Zahlmeister aber ist wieder derselbe: der Steuerzahler.

Lassen sich die Schwierigkeiten nicht unter der Decke halten, erklärt die Industrie Verspätungen und Kostensteigerungen mit überzogenen und nachgeschobenen Forderungen des Militärs. Das Militär seinerseits beklagt die Managementprobleme und die Eigensinnigkeit der Entscheidungen der zivilen Beschaffungsbürokratie sowie die Diskrepanz zwischen großen Versprechungen und mangelnden Leistungen der Industrie. Und das BAAINBw betont, das Militär mache es ihm mit seinen ständigen Nachforderungen und Änderungswünschen unnötig schwer, während es der Industrie an Vertragstreue mangele. Der „schwarze Peter“ verschwindet also im Bermudadreieck der beteiligten Mitspieler und ihrer Interessen.

Als wäre dies alles noch nicht genug der negativen Einflussfaktoren, kommt noch eine  weitere  Problemebene  hinzu: Die größten Beschaffungsprojekte der Bundeswehr werden in multinationaler Kooperation abgewickelt, etwa der Eurofighter, die Hubschrauber und der A400M. Das hat Folgen: Die Nationen verteidigen vorrangig die Technologie- und Arbeitsanteile  der Industrie im eigenen Land und kündigen deshalb überdimensionierte Beschaffungsplanungen an. Die internationalen Managementstrukturen dieser Projekte erlauben ihnen später im Wesentlichen nur Einblick in den eigenen, nationalen Entwicklungs- oder Produktionsanteil. So kann beispielsweise der  Bundesrechnungshof  Projekte wie den Eurofighter nicht in vollem Umfang prüfen. Transparenz sieht anders aus.

Eine  grundlegende  Reform  des  Beschaffungswesens muss deshalb auf und an mehreren Problemstellungen gleichzeitig ausgerichtet werden. Die eine einzige Lösung, die für alle Probleme passt, kann es kaum geben. Da sind zum einen nationale Vorhaben wie der Schützenpanzer Puma oder die Fregatte 125, bei denen alle wesentlichen Stellschrauben deutscher Einflussnahme unterliegen. Zum anderen gibt es multinationale Projekte wie den A400M, bei denen das nicht der Fall ist. Zudem folgt die Projektabwicklung Management- und Beschaffungsvorgaben aus  unterschiedlichen Jahrzehnten. Die Probleme laufender Projekte in den Griff zu bekommen und die Aufgabe, ähnliche Probleme bei künftigen Projekten zu verhindern, sind also ebenfalls zwei Paar Schuhe und bedürfen ebenfalls unterschiedlicher Lösungen, weil in die Strukturen vertraglich vereinbarter Projekte nur noch begrenzt eingegriffen werden kann. Konsequenz: Solange die Strukturen eines gründlich reformierten Beschaffungswesens nicht feststehen, sollten keine neuen Großprojekte in Angriff genommen werden.

Auf längere Sicht wird zudem der Anteil multinationaler Projekte auch in den größeren  europäischen Staaten wie Deutschland  zunehmen und nicht auf Großprojekte beschränkt bleiben. Bei sinkendem nationalem  Bedarf  können  immer  mehr  Güter nur noch in internationaler Kooperation wirtschaftlich  beschafft  werden. Multinationale Einsätze lassen die Bedeutung von Interoperabilität und Ausstattung mit gleichartigen logistischen Anforderungen steigen. Es gibt also eine Vielzahl von Faktoren, die die Entstehung eines europäischen Rüstungsmarktes fördern und letztlich unausweichlich machen werden. Beratung, die die Gleichzeitigkeit der nationalen und der internationalen Dimension des Problems nicht beachtet, dürfte kaum das Geld wert sein, das sie kostet. Ähnliches gilt für eine Beratung, die wesentliche Unterschiede nationalstaatlicher Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Vorhaben unberücksichtigt lässt. Beratungsvorschläge für nationale Projekte werden leichter zu realisieren sein als für multinationale.

Erhebliche  Zweifel,  ob  die  jetzt beauftragte erneute externe  Beratungsleistung diesen Problemen auf den Grund gehen und hilfreiche Vorschläge für die schon lange überfällige grundlegende Reform des Beschaffungswesens liefern kann, sind deshalb nicht nur aufgrund  des  Zeit-  und  Ressourcenansatzes angebracht. Sie resultieren auch aus den inhaltlichen Aufgabenstellungen für die Berater. Besonders deutlich wird das im Blick auf die Aufgabe, nur einen detaillierten „Projektreview eines zentralen Projekts“ vorzunehmen. Wird ein nationales oder ein multinationales Beschaffungsprogramm dafür ausgewählt? Von der Antwort auf diese Frage hängt nicht nur ab, welche Probleme die Berater in den Blick bekommen, sondern auch, wie vollständig der Informationszugang sein kann, der ihnen zur Analyse zur Verfügung steht.

Bei multinationalen Programmen wie dem A400M sind die Möglichkeiten, tiefere Einblicke zu bekommen, eher beschränkt. Andererseits werden die Ratschläge der Berater zu einem multinationalen Projekt auf die anders gelagerte Problematik nationaler Projekte kaum in vollem Umfang anwendbar sein und umgekehrt.

Es ist eine zentrale Aufgabe der Leitung des Verteidigungsministeriums, bürokratische Selbstermächtigung zu begrenzen, die eine politische Kontrolle der Rüstungsbeschaffung zu umgehen trachtet. Bei nationalen Projekten ließe sich das durch ein qualifiziertes, zentrales Controlling leisten. Bei internationalen Projekten aber wäre das schwieriger, wenn nicht unmöglich. Die zunehmende Zusammenarbeit europäischer Regierungen bei Militärprojekten steigert zudem die Risiken von Intransparenz. Beratungsergebnisse, die aufzeigen, wie dieses Problem gelöst, die Entscheidungshoheit der Politik gesichert und die notwendige Transparenz garantiert werden können, sind jedoch bereits aufgrund der Aufgabenstellung an die Berater kaum zu erwarten. Zugleich wäre es aber eine wichtige Fragestellung an externe Berater, die konsequent im Blick auf die notwendigen grundlegenden Reformen des Beschaffungswesens arbeiten sollen.

Sinnvoll wäre darüber hinaus eine externe Beratung zu einem eingangs erwähnten Aspekt der Beschaffungsproblematik. Politische Vorgaben und industriepolitisch motivierte Forderungen wie zum Beispiel das Zusammengehen mit einem bestimmten Partnerland  oder  bevorzugten  Industriebetrieben können einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass das Projektergebnis später, teurer und weniger leistungsfähig geliefert wird als wünschenswert. Es bedarf also wirksamer Vorschläge für eine Beschränkung der Möglichkeiten zur Einflussnahme der  Politik auf anstehende Beschaffungsprozesse.

Welche Berater auch immer zu Rate gezogen werden – je präziser die Aufgaben von der Politik formuliert werden, desto größer ist die Chance, umsetzbare Vorschläge zu erhalten. Das ist nicht geschehen. Damit droht ein Beratungsergebnis, das dem Ergebnis vieler Beschaffungsmaßnahmen ähnelt: Es kommt zu spät, wird zu teuer und leistet nicht, was es leisten sollte.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS

Dr, Hilmar Linnenkamp war von 2001 bis 2004 im BMVg Unterabteilungsleiter für Internationale Rüstungsangelegenheiten, danach Stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Europäischen Verteidigungsagentur in Brüssel. Seit 2009 berät er die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der SWP in Berlin.