Eine Geschichte von Enttäuschungen
Otfried Nassauer
Eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok
schien möglich. Die Ukraine-Krise zeigt, wie weit Europa davon
heute entfernt ist. Ein Verlust für beide - Europa und Russland.
Die Krise in der Ukraine und das Verhalten Moskaus haben eine lange
Vorgeschichte enttäuschter Hoffnungen Moskaus auf eine
gleichberechtigte Mitsprache bei der Ausgestaltung der
Sicherheitsarchitektur Europas. Es ist eine Geschichte gebrochener
Zusagen des Westens.
Schon während der Verhandlungen über die deutsche Einheit
fürchtete Moskau, die NATO werde sich in Zukunft nach Osten
ausdehnen. Die USA, Frankreich und die Bundesregierung bemühten
sich, diese Befürchtung politisch auszuräumen. Das geeinte
Deutschland solle der NATO angehören. Auf dem Territorium der
ehemaligen DDR werde es aber keine permanent stationierten
ausländischen Truppen geben. Weiter im Osten schon gar nicht. Der
Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russischen
Beziehungen, Gernot Erler, bestätigte dies kürzlich noch
einmal im MDR: »Da kann ich nur dazu sagen, dass das richtig ist,
dass es solche Verabredungen, auch wenn sie nicht schriftlich
festgehalten worden sind, gibt.«
Schon drei Jahre später die Wende im Westen: Bei einem Treffen der
NATO-Verteidigungsminister in Travemünde plädierte Volker
Rühe, der deutsche Verteidigungsminister, im Oktober 1993 für
eine Öffnung der NATO für ehemalige Mitglieder des Warschauer
Paktes. Gernot Erler erläutert das Motiv: »Also, Deutschland
war übrigens auch der Meinung, dass die Länder östlich
von Deutschland, die mittel-osteuropäischen Länder, Mitglied
der NATO und auch der EU werden sollten, weil das für uns
geostrategisch natürlich von Vorteil war.« Besser von
Freunden umzingelt als Frontstaat eines Militärbündnisses -
so die Logik.
Vier Jahre später stand in Madrid der Beschluss zur
Aufnahme der ersten neuen Mitglieder an: Polen, Tschechien und Ungarn.
Wenige Jahre danach folgten mit den baltischen Staaten erstmals drei
ehemalige Sowjetrepubliken sowie Slowenien und die Slowakei, danach
Staaten des Balkans. Bis heute verfolgt die NATO eine Politik der
offenen Tür, die weiteren Staaten, auch ehemaligen
Sowjetrepubliken wie Georgien oder der Ukraine, die Aussicht auf einen
künftigen NATO-Beitritt ermöglicht. Kontinuierlich
rückte die NATO den Grenzen Russlands näher.
Um die Osterweiterung für Russland akzeptabler zu machen,
wurde wenige Tage vor dem Beschluss über die erste Osterweiterung
1997 in Paris die NATO-Russland-Grundlagenakte unterzeichnet. Das
Dokument offerierte Moskau eine ständige Vertretung in
Brüssel und institutionalisierte Konsultationen mit der NATO, den
NATO-Russland-Rat. Hinzu kam die Zusage, die Nuklearwaffen der NATO und
deren Trägersysteme nicht näher an die Grenzen Russlands
heran zu verlegen.
Doch kaum war der erste Erweiterungsschritt vollzogen, machte die NATO
auf Wunsch ihrer neuen Mitglieder einen Rückzieher: Sie beschloss,
mit Moskau im NATO-Russland-Rat nur über Themen zu reden,
über die in der NATO bereits inhaltlicher Konsens herrschte. Aus
Moskauer Sicht wurde der NATO-Russland-Rat damit zu einer Institution,
die eher der Ausgrenzung, denn der Einbeziehung Russlands diente.
Ganz ähnlich bei der zweiten Osterweiterung um das Baltikum und
weitere Staaten: Die NATO versprach Russland, den NATO-Russland-Rat
aufzuwerten. Künftig sollten dort gemeinsame Entscheidungen zu
Fragen der europäischen Sicherheit vorbereitet und getroffen
werden können. Das weckte die Hoffnung, Russland könne
gleichberechtigt mitarbeiten. Wieder folgte die Enttäuschung auf
dem Fuß: Die neuen NATO-Mitglieder bestanden darauf, weiterhin
mit Moskau nur über Themen zu diskutieren, über die im Westen
bereits Konsens erzielt wurde.
Begleitet wurde diese Entwicklung von der westlichen Weigerung, eine
versprochene und bereits ausgehandelte Anpassung der Abkommen über
die konventionellen Kräfteverhältnisse in Europa (KSE/AKSE)
an die durch die Osterweiterung entstandenen neuen geografischen
Realitäten auch gültiges Vertragsrecht werden zu lassen.
Bevor das Militärpotenzial der neuen NATO-Mitglieder auf die
erlaubten Obergrenzen für die NATO und nicht mehr auf jene
Russlands angerechnet werden könne, müsse Russland
zunächst seine militärische Präsenz in Georgien und
Moldawien aufgeben, schob die NATO einseitig nach.
Wladimir Putin nutzte nach seiner Wahl zum Präsidenten Russlands
eine Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 für ein erstes
politisches Signal gegen diese Vorgehensweise. Zwei Wochen nach den
Terroranschlägen in den USA bot er dem Westen einerseits eine
weitreichende Zusammenarbeit an, zeigte sich aber gleichzeitig auch
besorgt: »Trotz allem Positiven, das in den vergangenen
Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen
effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher
ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen
Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung
mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt
ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu
bestätigen.«
Putins Mahnung zu mehr Mitsprache und Gleichberechtigung wurde
überhört. Der NATO-Russland-Rat blieb, was er war. Die USA
kündigten trotz scharfer Proteste den ABM- Vertrag. Im Streit um
die geplante US-Raketenabwehr in Europa gab es keine westlichen
Angebote, die Moskaus wichtigste Befürchtung entkräften
konnten, ein solches System könne sich letztlich auch gegen
Russland richten und dessen gesicherte nukleare
Zweitschlagfähigkeit gefährden. Der Westen zeigte auch kein
Interesse, die OSZE zu stärken oder eine System kooperativer
Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok aufzubauen.
Während der Münchener Sicherheitskonferenz 2007
kritisierte Putin dies bereits deutlich schärfer und verwies
erstmals darauf, dass Moskau auch national dafür sorgen
könne, dass seine Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben. Er kam so
wachsender innenpolitischer Kritik von Militärs und aus
nationalkonservativen Kreisen nach, die bereits seit geraumer Zeit
kritisierten, Moskau sei dem Westen gegenüber zu nachgiebig. Nur
ein Jahr später demonstrierte Putin im Georgien-Konflikt seine
Entschlossenheit, in Russlands nationalem Interesse notfalls auch
militärisch zu agieren.
Westliche Kritik wies er weitgehend mit jenen Argumenten zurück,
mit denen die NATO die Kritik Russlands an ihrem Krieg gegen Serbien um
das Kosovo zurückgewiesen hatte. Moskau machte zudem eine weitere
Ankündigung wahr: Es scherte teilweise aus seinen Verpflichtungen
zur konventionellen Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung aus.
Die NATO reagierte, in dem sie die Arbeit des NATO-Russland-Rates
zeitweilig aussetzte und damit demonstrierte, wie gering der
Stellenwert dieses Gremiums aus ihrer Sicht war.
Trotzdem folgte kurz darauf ein erneutes Kooperationsangebot aus
Moskau. Putin entwarf mit Blick auf die EU die Idee einer einer
Sicherheitsstruktur von Lissabon bis Wladiwostok und schlug im
NATO-Russland-Rat ein Abkommens vor, das für den Fall einer Krise
in Europa völkerrechtlich verbindlich Konsultationen vorsah. Von
Wikileaks veröffentlichte Depeschen der USA belegen eindrucksvoll,
wie die NATO diesen Vorschlag ignorierte und intern als durchsichtiges
taktisches Störmanöver diskreditierte.
Manche NATO-Staaten fürchteten, der Vorschlag ziele vor
allem darauf, die beabsichtigte Einbeziehung der baltischen Staaten in
die Eventualfallplanung für eine Verteidigung Polens, »Eagle
Guardian«, zu blockieren. Vier Jahre später zeigen sich in
der Ukraine- Krise die Folgen der enttäuschten Hoffnungen und
Erwartungen Moskaus. Russland demonstriert erneut seinen Willen, seine
Interessen auch gegen westliche Proteste und auf Kosten der
Zukunftsperspektiven zur Kooperation mit der NATO zu wahren. Es
erwartet sich nichts mehr von dieser Zusammenarbeit. Die Eingliederung
der Krim in die Russische Föderation verhindert unilateral, dass
eine prowestliche, teils rechtsnationale Regierung in Kiew die
Stationierungsrechte der Schwarzmeerflotte erneut zu einem Zankapfel
machen kann. Eine vollständige Integration der Ukraine in die
westlichen Institutionen NATO und EU ist aus Moskauer Sicht nicht
tolerabel, weil man selbst ohne Chance auf solche Integration ist.
(…)
Im Baltikum, in Polen oder Rumänien wünscht man sich, die
NATO werde endlich keine Rücksicht mehr auf russische
Befindlichkeiten nehmen und an vorderster Front dauerhaft
militärische Präsenz zeigen. Manche spekulieren bereits
darauf, die NATO werde weitere politisch verbindliche Zusagen an Moskau
aufbrechen und eine Stationierung größerer
Kampfverbände oder gar atomarer Waffen in Ländern wie Polen
erwägen. Ausgeschlossen ist das nicht. (...)
Aus US-Sicht bietet die Perspektive einer längeren konfrontativen
Phase im Verhältnis zu Russland Chancen. In Washington darf man
hoffen, den Primat der NATO in der Sicherheitspolitik gegenüber
der EU auf längere Zeit absichern zu können. Umstrittene
Projekte wie der Aufbau einer Raketenabwehr in Europa könnten
unter solchen Rahmenbedingungen leichter durchsetzbar sein, neue
Geschäftsoptionen für die wehrtechnische Industrie der USA
entstehen. Im EU-kritischen Großbritannien findet eine solche
Entwicklung ebenfalls Befürworter. Weniger Kooperation zwischen
den großen kontinentaleuropäischen Akteuren stärkt die
Einflussmöglichkeiten jener Staaten, die nicht zu
Kontinentaleuropa gehören.
Die Krim-Krise und die Krise im Osten der Ukraine schwächen in
Europa jene, die wie Deutschland für eine langfristige,
strategische, wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland
eintreten. Der Konflikt verspricht, gleich mehrere wichtige
wirtschaftliche Konkurrenten der USA in Europa zu schädigen.
Schließlich bleiben, solange er währt,
innereuropäischen Streitigkeiten erhalten, ob man Sicherheit vor
Russland oder mit Russland anstreben soll.
Washington kann auch künftig darauf zählen, jeweils mit den
europäischen Ländern eng zu kooperieren, deren Positionen die
Interessen der USA am stärksten widerspiegeln. Die Vereinigten
Staaten behalten die Option, mit ihrer Hilfe ein einheitliches Handeln
Europas zu blockieren. Washington kann hoffen, dass die Frage einer
erneuten Erweiterung der NATO - und in deren Folge auch der EU - schon
bald wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Es kann die
Westeuropäer besser drängen, die letzten Länder des
Balkans und weitere ehemals sowjetische Republiken wie Georgien oder
die Ukraine an die NATO heranzuführen und - in der Folge - die
ökonomischen Lasten für deren Integration über die
Europäische Union zu schultern. (...)
Seit dem Ende des Kalten Krieges durchzieht eine gravierende
Fehlperzeption und eine damit einhergehende
Selbstüberschätzung das Denken Moskaus. Um dem Selbstbild der
meisten Russen von ihrem riesigen Land zu entsprechen, pflegte Moskau
trotz des Zerfalls der Sowjetunion kontinuierlich das Image, auch die
Russische Föderation sei trotz aller wirtschaftlichen Krisen noch
immer eine Weltmacht, auf deren Interessen Washington im Zweifelsfall
Rücksicht nehmen müsse. Das strategische Nuklearpotenzial
sichere Moskau diese Rolle und Washington akzeptiere mit dem
Bezeichnung Moskaus als strategischer Partner auch künftig
Russlands Rolle als global einflussreiche Macht.
Der Begriff »strategischer Partner« hat in Washington
jedoch eine ganz andere Bedeutung als in Moskau. Während er
westlich des Atlantiks durchaus eine eher taktische Funktion als
Beruhigungspille erfüllen kann, wird er in Moskau als feste Zusage
und Versprechen auf ein bilaterales Verhältnis auf Augenhöhe
interpretiert. In Washington wiederum kann er durchaus mit einer
Selbstsicht als »Sole Superpower« zusammengehen, die den
Kalten Krieg gewonnen und deshalb das primäre Recht zur Gestaltung
von Weltordnung auch gegen den Willen »strategischer
Partner« hat. Zum Beispiel, wenn es darum geht, die NATO nach
Osten zu erweitern.
In Moskau folgte aus dieser Fehlwahrnehmung dreierlei. Zum einen
glaubten viele dem Versprechen strategischer Partnerschaft und haben
deshalb erwartet, dass der Westen auf strategische Interessen Russlands
letztlich Rücksicht nehmen werde. Dies erwies sich wiederholt als
Irrglaube und verdichtete sich mit der Zeit zu der geschilderten
»Geschichte der Enttäuschungen«. Zum zweiten
verführte das Versprechen einer strategischen Partnerschaft Moskau
zu einer einseitigen Fixierung und Fokussierung auf das bilaterale
Verhältnis zu Washington.
Dies reduzierte Moskau immer wieder auf reaktive Handlungsmuster und zu
Pawlowschen Reflexen, wenn Washington mit dem Gedanken an einem Ende
der strategischen Partnerschaft spielte. Barack Obamas Bezeichnung
Russlands als »Regionalmacht« während der
Ukraine-Krise traf diesen Nerv mit besonderer Härte.
Schließlich führte die Fehlperzeption in Moskau lange zu
einer Geringschätzung und zu einer gewissen Überheblichkeit
im Umgang mit Europa, dem zweiten potenziellen Partner Russlands im
Westen. Als »strategischer Partner« der globalen
Führungsmacht USA hielt Moskau es lange für unnötig,
Europa als Partner auf Augenhöhe zu betrachten.
Strategische Beziehungen zur Europäischen Union kamen für
Russland erst Ende der 1990er Jahre in den Blick. Russland sah sich
damals als im Vergleich zur EU politisch stärkerer Partner; in der
EU war es aus wirtschaftlichen Gründen umgekehrt. Als Putin nach
der Georgien-Krise 2008 begann, ernsthaft an eine europäische
Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok zu denken, war es
bereits zu spät. Das 1999 begonnene Projekt einer
sicherheitspolitischen Integration der Europäischen Union hatte
sich am Widerstand der NATO und den inneren Widersprüchen in der
erweiterten EU festgefahren. Hoffnungen auf eine strategische
Partnerschaft zwischen der EU und Russland mit einem wirtschaftlichen
Stand- und einem sicherheitspolitischen Spielbein oder erst recht mit
einem sicherheitspolitischen Stand- und einem wirtschaftlichen
Spielbein waren deshalb unrealistisch geworden. Die Sicherheitspolitik
wurde wieder von der NATO dominiert, in der zeitweilig eine zur
Blockade fähige Minderheit und derzeit eine gestaltende Mehrheit
der Mitglieder die Sicherheit vor Russland wieder als vorrangig vor
einer Ausgestaltung europäischer Sicherheit mit Russland erachtet.
In der Ukraine-Krise wird dieser Paradigmenwechsel manifest und
zementiert. Ein Verlust ist das für beide, Europa und Russland.
Bei dem hier dokumentierten
Text handelt es sich um einen gekürzten und überarbeiteten
Auszug aus einem Beitrag für die Zeitschrift für
Sozialistische Politik und Wirtschaft – kurz: spw.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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