Ränkespiele um die Macht in Kiew
Wahlbündnisse vor dem ersten ernsthaften »Revolutionstest« in der Ukraine
von Manfred Schünemann
In Kiew geben ausländische Politiker einander derzeit wieder die Klinke in die Hand.
Das neue Interesse an der Ukraine ist nicht zufällig: Am 26. März sind Parlamentswahlen
und eine Bestätigung der »Orangenen Revolution« ist durchaus nicht sicher.
In der Bevölkerung ist die Begeisterung über die »Revolution« von Ende 2004 in
Zweifel und Ernüchterung umgeschlagen. Sorge bereitet auch die Zerstrittenheit im Lager
der einstigen Revolutionäre. In Meinungsumfragen liegt die »Volksunion Unsere Ukraine«
das Bündnis um Präsident Viktor Juschtschenko mit 12 bis 14 Prozent
abgeschlagen auf dem dritten Platz. Dem »Block Julia Timoschenko« werden 18 bis 20
Prozent vorausgesagt, doch an der Spitze liegt derzeit die Partei der Regionen unter dem
ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch mit etwa 25 Prozent. Da also keine der
Parteien mit einer eigenen Mehrheit in der Werchowna Rada rechnen kann, ist das Ringen um
Koalitionspartner zum Hauptfeld des politischen Ränkespiels geworden zumal die
stärkste Parlamentsfraktion künftig das Recht hat, den neuen Premierminister
vorzuschlagen.
»Unsere Ukraine« mit dem derzeitigen Regierungschef Juri Jechanurow als
Spitzenkandidat bemüht sich seit Wochen um eine Vereinbarung mit dem »Block Julia
Timoschenko«. Doch die populäre Timoschenko, die schon nach wenigen Monaten von
Juschtschenko als Ministerpräsidentin entlassen worden war, ist bisher nicht zum Kniefall
zu bewegen. Sie hofft auf das Zustandekommen einer Koalition mit anderen
liberal-zentristischen Parteien und Teilen des jetzigen Regierungslagers. Diese Hoffnung
scheitert bisher an ihrer Forderung, wieder das Amt der Regierungschefin zu übernehmen.
Zu groß ist bei in- und ausländischen Geldgebern die Furcht vor der Unberechenbarkeit
Timoschenkos, deren Kompetenzen als Ministerpräsidentin gemäß der geänderten
Verfassung größer wären als die des Präsidenten.
Das Juschtschenko-Lager sondiert unterdessen andere Möglichkeiten und schließt auch
ein Bündnis mit der einst als »Wahlfälscherpartei« beschimpften Partei Janukowitschs
nicht aus. Der Expremier wiederum hofft auf einen überzeugenden Wahlsieg und auf eine
Neuauflage des Bündnisses jener Parteien, die unter dem ehemaligen Präsidenten Leonid
Kutschma das Regierungslager bildeten.
Der Ausgang des Koalitionspokers ist noch völlig offen. Entscheidend könnte sein, ob
sich eine Lösung findet, dem Machtanspruch Julia Timoschenkos Genüge zu tun, ohne die
jetzige Regierungspolitik zu gefährden. Offen wird deshalb schon über eine neuerliche
Verfassungsänderung zu Gunsten der Präsidialmacht spekuliert, um Unwägbarkeiten in der
Politik des Regierungschefs auszugleichen.
Das Ringen um Parlamentsmehrheiten ist Teil der anhaltenden Auseinandersetzungen über
die innen- und außenpolitischen Orientierung der Ukraine. Die einseitige Ausrichtung nach
Westen, wie sie insbesondere von nationalistisch-konservativen Regierungskreisen betrieben
wird, hat nicht nur das Verhältnis zu Russland ernsthaft belastet, sondern auch die
Gegensätze zwischen den Regionen geschürt. Auf der Krim und in ostukrainischen Gebieten
will man Russisch wenigstens zur »regionalen Amtssprache« machen. Betriebe in diesen
Gebieten versuchen, Restriktionen im Handel mit Russland zu umgehen. Besonders aber das
Streben nach einem raschen NATO-Beitritt stößt in der Bevölkerung auf Missbehagen. Nach
Umfragen sind im Osten der Ukraine fast 80 Prozent der Bewohner gegen eine
NATO-Mitgliedschaft, im Landeszentrum mehr als die Hälfte. Selbst in der Westukraine ist
nur etwa ein Drittel der Bevölkerung für einen raschen Beitritt.
Nicht nur linke Oppositionelle glauben deshalb, dass die Zuspitzung des
ukrainisch-russischen Erdgasstreits Teil einer Kampagne mit dem Ziel war, die Ukrainer von
der Notwendigkeit eines raschen NATO-Beitritts zu überzeugen. »Dafür braucht man den
Konflikt mit Russland, je schärfer desto besser«, argwöhnt der frühere
Vizeparlamentspräsident Viktor Medwedtschuk.
Die Parlamentswahlen sind der erste ernsthafte Stimmungstest nach dem Personalwechsel
an der Staatsspitze. Mit Ausnahme der Kommunisten (denen 5 Prozent der Stimmen
zugebillligt werden) und linker Splitterparteien sind jedoch alle politischen Kräfte
mit gewissen Modifizierungen hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland an
einer Fortsetzung der gegenwärtigen Regierungspolitik interessiert. Durch ein
verändertes Wahlgesetz, das nur noch Listenwahl zulässt, und die »traditionelle«
administrative Absicherung durch Gebiets- und Kreisverwaltungen (diesmal von den
ausländischen Beobachtern gewiss wohlwollend betrachtet) werden die Wahlen zur
Stabilisierung des bestehenden politischen Systems beitragen.
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