Die Kosovo-Falle Für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre, so war vor dem NATO-Gipfel in Washington zu vernehmen, solle die die neue NATO-Strategie, das wichtigste Dokument des Jubiläumsgipfels, Gültigkeit haben. Damit wird es wohl nichts. Das neue Kerndokument der Allianz war bereits in weiten Teilen von der Wirklichkeit überholt, als die Tinte der Unterzeichner in Washington trocknete. Der Militär-Einsatz der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien - wegen Kosovo - ist die Ursache dieser Entwicklung. Dies gilt, ganz gleich, ob der Kosovo-Einsatz der NATO nun der Prüfstein oder der Präzedenzfall für die neue NATO-Strategie gewesen sein sollte. Es gilt auch unabhängig davon, ob das Ergebnis dieses Krieg als Erfolg beurteilt wird oder nicht. Die neue Strategie des Bündnisses bildet nicht - wie geplant - den krönenden Abschluß einer zukunftssichernden Transformation der Allianz. Sie beschreibt das Selbstverständnis der NATO vor dem Kosovo-Krieg und vor einer umfassenden neuen Diskussion über das Selbstverständnis, die Aufgaben und die internen Machtverhältnisse in der NATO. Drei Beispiele machen dies deutlich. Erstens: Kein Wort des neuen Strategischen Konzeptes ist explizit dem für die absehbare Zukunft wichtigsten Einsatzgebiet der NATO und der Strategie des Bündnisses für diese Region gewidmet - dem Balkan. Auf Jahre wird die NATO hier mit wesentlichen Teilen ihrer schnell verfügbaren, militärischen Kräfte gebunden sein. Zweitens: Die neue NATO-Strategie reflektiert nicht, daß die Allianz, um erfolgreich gegen das Jugoslawien Milosevichs operieren zu können, nahezu allen Staaten auf dem Balkan Sicherheitsgarantien gegeben hat, die von jenen des Artikels V des NATO-Vertrages, also des Kerns der militärischen Bündnis- und Beistandsverpflichtung, selbst durch einen ausgewiesenen Experten - wie den NATO-Generalsekretär, Javier Solana - nicht mehr zu unterscheiden sind. Selbstverständlich sei diese Sicherheitsgarantie "exakt diesselbe, die für die NATO-Staaten gilt" Der Unterschied sei "äußerst gering", so Solana anläßlich seiner Pressekonferenz am 12. April 1999. Auch wenn Artikel V des NATO Vertrages nicht angewandt werden könne, so komme die Granatie der innerhalb der NATO "sehr nahe". Von diesen Sicherheitsgarantien wird die Allianz kaum ohne erheblichen politischen Glaubwürdigkeitsverlust zurücktreten können. Sie prädestinieren somit die künftige Diskussion über die Erweiterung der NATO. Die Südosterweiterung der Allianz hat - ohne daß dies explizit politisch beschlossen worden sei - de facto Vorrang vor der weiteren Osterweiterung der NATO erhalten. Damit verändert sich zugleich die Aufgabenstellung der Allianz. Sie wird sich der Aufgabe der Stabilisierung des Balkans stellen müssen, will sie nicht gänzlich scheitern. Drittens: Nie zuvor hat die NATO anläßlich eines Gipfels zwei Kerndokumente ähnlich widersprüchlicher Zielsetzung verabschiedet wie in Washington. Das Konzept der "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindentität" unter Führung und politischer Ägide der NATO, welches das neue Strategische Konzept der Allianz reflektiert, ist mitnichten jenes Konzept einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das im Kommunique des NATO-Gipfels und während des Kölner Gipfels der Europäischen Union anvisiert wird. Die neue NATO-Strategie reflektiert ein veraltetes Konzept europäischer Sicherheit. Die EU-Staaten haben sich - im Lichte ihrer Erfahrungen mit der NATO im Kosovo-Krieg - für einen neuen Ansatz entschieden, von dem sie mehr Unabhängigkeit, Gleichberechtigung und Mitsprache im Kontext der NATO und gegenüber den USA erwarten. Die Europäische Union soll mit über die Zeitachse wachsenden, von Washington eigenständigen, militärischen Handlungsmöglichkeiten ausgestattet werden. Dies impliziert - auf längere Sicht - die Notwendigkeit einer erneuten umfassenden Klärung des transatlantischen Verhältnisses. Wann und in welchem Umfang diese Defizite zu einem strategischen Umsteuern auch der öffentlich deklarierten Politik der NATO-Staaten führen werden, kann im Einzelnen kaum vorhergesagt werden. Der Unwägbarkeiten - vor allem bei der weiteren Entwicklung auf dem Balkan - sind zu viele. Die unter großem Zeitdruck gefundene diplomatische Lösung des Kosovo-Konfliktes enthält wesentliche Schwachstellen, deren potentiell destablisierende, negative Konsequenzen jederzeit zum Tragen kommen können, nicht aber zwangsweise müssen. Eine erneute oder weitere militärische Eskalation ist dabei keinesfalls ausgeschlossen. Die ungewisse Zukunft Montenegros und das künftige Verhalten der UCK sind dafür nur zwei Beispiele. Die Autonomie des Kosovos soll im Kontext der Bundesrepublik Jugoslawien realisiert werden. Noch im Vertragsentwurf von Rambouillet sollte sie im Kontext Serbiens verwirklicht werden. Die Neuverortung der kosovarischen Autonomie erfordert somit - ganz nebenbei - künftig eine Neustrukturierung der Bundesrepublik Jugoslawien und ihrer Organe und stellt damit die relativ privilegierte Rolle der Republik Montenegro im jugoslawischen Staatsverbund in Frage. Parallel dazu haben die westlichen Staaten angekündigt, zunächst nur den Kosovo und Montengro, nicht aber das Serbien Milosevichs von der Wiederaufbauhilfe profitieren zu lassen. Diese Kombination kann als indirekte Aufforderung an Montenegro interpretiert werden, sich von der Bundesrepublik Jugoslawien loszusagen und diese durch Austritt aufzulösen - erste Überlegungen, mittels eines Referendums in Montenegro diesen Weg zu gehen sind bereits laut geworden. Die Stationierung zusätzlicher Truppen der Bundesrepublik Jugoslawien in Montenegro ist ein deutliches Signal, daß ein weiterer militärischer Konflikt nicht ausgeschlossen werden kann. Die Angriffe der NATO haben die serbisch-jugoslawische Armee militärisch keinesfalls handlungsunfähig gemacht. Ungewiß ist auch, ob die UCK dauerhaft mit der NATO kooperiert. Sie hat die völlige Unabhängigkeit des Kosovos als politisches Ziel ebensowenig aufgegeben wie den Aufbau eines großalbanischen Staates - mit allen damit verbundenen Konsequenzen für die Stabilität Mazedoniens und vor allem auch der albanischen Regierung in Tirana. Unklar ist, ob die UCK demilitarsiert oder volständig entwaffnet und aufgelöst werden soll. Unklar bleibt damit, ob sie als bewaffnete Kraft künftig handlungsfähig bleibt - innerhalb oder außerhalb des Kosovos. Dieser Risiken ist sich die NATO durchaus zum Teil bewußt. Der Versuch, über einen Stabilitätspakt für Südosteuropa die Perspektive einer längerfristigen Heranführung aller Balkan-Staaten an Europäische Union und NATO aufzuzeigen, zeugt von diesem Bewußtsein. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die für ein solches Vorhaben erforderlichen, riesigen finanziellen Ressourcen auch über den erforderlichen langen Zeitraum aufgebracht und in den westlichen Industriestaaten als Geberländern innenpolitisch legitimiert werden können. Diese Frage stellt sich vor allem der Europäischen Union. Aber auch das Verhalten Washingtons dürfte kritisch beäugt werden. Hier wird die Option auf den künftigen NATO-Beitritt der Balkan-Staaten zum Lackmustest. Scheitert eine dieser Perspektiven aus Sicht der regional Betroffenen, so ist eine erhebliche destabilisierende Wirkung zu erwarten. Die Nichteinhaltung der Versprechen könnte gar mit erneutem Krieg bestraft werden. Als äußerst riskant kann sich deshalb auch die Umkehrung des traditionellen Beschlußverfahrens des UN-Sicherheitsrates im Blick auf die Zukunft der Militärmission im Kosovo erweisen. Das UN-Mandat der Mission wird Jahr für Jahr unverändert fortgeführt, es sei denn, der Sicherheitsrat beschließe einstimmig etwas anderes. Eine Änderung des Mandates oder ein Abzug der internationalen Verbände aus dem Kosovo - Europäische Staaten stellen deren überwiegenden Anteil - bedarf also der Zustimumung aller Sicherheitsratsmitglieder und aller Vetomächte. Die NATO hat sich zu einer Gefangenen ihrer eigenen Kosovo-Politik gemacht. Sie ist zum Bleiben bis zum Erfolg verdammt, will sie nicht einen vollständigen Glaubwürdigkeits- und Gesichtsverlust riskieren. Auch die Einsicht in diese Problematik - und die Perspektive einer keineswegs sicher kalkulierbaren Reaktion der USA für den Fall, daß es zum Schwur komme - dürfte dazu beigetragen haben, daß die Europäische Union über eine eigenständige Militär- und Sicherheitspolitik neu nachdenkt. Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping sprach am vergangenen Montag in Bonn von der Notwendigkeit die europäisch-amerikanischen Beziehungen "neu aus(zu)balancieren". Europa müsse bereit und fähig sein, auf der Grundlage "wirklicher" Gleichberechtigung mit den USA zu handeln. Sieht man einmal davon ab, daß dies implizit das Zugeständnis bzw. die Sicht beinhaltet, daß Europa in der NATO derzeit alles andere als "wirklich" gleichberechtigt ist, so deutet sich die Perspektive einer Transformation auf zwei Ebenen an: Die Europäische Union muß politisch mit einer Stimme sprechen. Und sie muß in die Lage versetzt werden, gemeinsam und ohne die Hilfe der USA bzw. der NATO im Krisenfall miltärisch zu handeln. Zumindest für den Fall daß Washington dauerhaft einer Politik des Unilateralismus frönt, die den Interessen der Mitglieder der Europäischen Union schadet.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
|