Neues Deutschland
15.September 2001

Die Spur von Osama bin Laden
Al-Qaida - Netzwerk verschiedener moslemischer Splittergruppen

Gerhard Piper

Selbst Israels Ex-Geheimdienstchef Carmi Gillon hat gestern die führende Rolle Osama bin Ladens bei den jüngsten Terrorangriffen in Zweifel gestellt und vor »überhasteten Schlussfolgerungen« gewarnt. Doch USA-Außenminister Colin Powell nannte ihn erstmals den »Hauptverdächtigen«.  

Osama Mohammed bin Laden, der Führer der moslemischen Extremistengruppe Al-Qaida, soll am Tag nach den Anschlägen gegenüber der pakistanischen Zeitung AUSAF eingestanden haben, dass die Terroristen zwar nicht in seinem Auftrag gehandelt, aber seine Unterstützung gehabt hätten. Es blieb unklar, was er mit »Unterstützung« meinte. Der saudiarabische Multimillionär und ehemalige Agent des USA-Geheimdienstes CIA sei erst kürzlich zum Militärchef der afghanischen Taleban aufgestiegen, wie das russische Außenministerium meldete.

Bereits am 23. Februar 1993 hatten seine Gefolgsleute einen Bombenanschlag auf das World Trade Center verübt – damals waren sechs Tote zu beklagen. Der Attentäter Ramzi Yousef erklärte später, man habe eigentlich 250000 Menschen umbringen wollen, als man eine »Autobombe« im Tiefgeschoss des Gebäudes hochjagte. Zwei Jahre später war Ramzi Yousef auch an dem gescheiterten Versuch beteiligt, über dem Pazifik ein Dutzend US-Passagierflugzeuge zu entführen. Bin Laden wird außerdem für den doppelten Terroranschlag auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania verantwortlich gemacht, bei dem am 7. August 1998 224 Menschen starben.

Al-Qaida wurde bereits 1988 als Dachorganisation verschiedener Splittergruppen gegründet und ist heute in rund vierzig Staaten präsent. Nachdem zwischen Dezember 2000 und April diesen Jahres mehrere Mitglieder in Frankfurt, London und Mailand unter dem Verdacht festgenommen wurden, sie hätten einen Sprengstoffanschlag auf das Europaparlament in Strasbourg geplant, gab es wiederholt Meldungen über einen unmittelbar bevorstehenden großen Anschlag dieser Terrororganisation. Am 6. April 2001 zum Beispiel schloss die US-Regierung für mehrere Tage ihre Botschaften in Ekuador, Uruguay und Paraguay, wobei unklar blieb, ob die Drohungen von der Al Quaida oder der kolumbianischen Guerillaorganisation FARC kamen. Zwei Monate später wurde in der spanischen Touristenmetropole Alicante der Algerier Bensakhria festgenommen und dann an die französische Justiz ausgeliefert. Er gilt als »Europa-Chef« der Al-Qaida und lebte bis Anfang des Jahres in Berlin.

Anfang Juni schließlich die nächste Alarmmeldung – Osama bin Laden, der im Vorjahr eine religiöse »Fatwa« gegen die USA verkündet hat, soll auf einem Videoband gedroht haben: »Es ist an der Zeit, Amerika und Israel anzugreifen, wo es ihnen am meisten wehtut.« Zwar behaupteten die Taleban, das Band sei eine Fälschung. Aber wenige Tage später berichtete Bakri Attrani, Korrespondent eines arabischen Fernsehsenders in London, er habe gerade Osama bin Laden in Afghanistan besucht und erfahren, dass dieser »innerhalb der nächsten zwei Wochen einen schweren Anschlag auf die weltweiten Interessen der USA und Israels verüben wolle«. Daraufhin erließ das Washingtoner Außenministerium am 22. Juni eine Warnung an alle US-Botschaften.

Als die US-Streitkräfte im Persischen Golf in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurden, provozierte dies wiederum die iranischen, die aus Angst vor einem Angriff ihrerseits ihren Bereitschaftsstatus erhöhten. Schon am dritten Juli drohte Staatssekretär Richard Armitage im Falle eines Anschlags der Taliban mit einer Vergeltungsaktion. Anschließend gab es die Geheimdienstinformation, Osama bin Ladens Gruppe wolle einen Selbstmordanschlag auf den G8-Gipfel am 20. Juli in Genua verüben. Der Leiter der CIA-Dependance in Rom warnte die italienische Regierung gar vor einem Angriff mit chemischen oder biologischen Waffen. Die zog daraufhin zahlreiche Sicherheitskräfte in Genua zusammen, auf dem Flughafen wurden Flugabwehrraketen vom Typ Spada stationiert und 300 Leichensäcke bereitgelegt.

Am ersten Septemberwochende gab es dann in Saudi-Arabien einen interessanten Personalwechsel, dessen Bedeutung im Zusammenhang mit den Terroranschlägen bisher nicht bestimmbar ist: König Fahd entließ den Chef des Geheimdienstes Prinz Turki Al Faisal und ersetzte ihn durch Prinz Nawaf Bin Abdul Aziz. Der Informationsdienst »Middle East Newsline« meldete, Turki habe zu starke Sympathien für die Taleban gehabt und die Aufklärung von Terroranschlägen des letzten Jahres nicht genug forciert.

Der US-Regierung war durchaus bewusst, dass sie ihre Aufklärung im terroristischen Bereich verbessern musste, im Mai erteilte Präsident Georg W. Bush CIA-Direktor George Tenet eine entsprechende Weisung. Wie erst nach den Terroranschlägen öffentlich bekannt wurde, hatte es durch Quellen in Frankreich und Deutschland Hinweise auf eine bevorstehende Aktion der Al-Qaida gegeben. So nannte ein in Hannover in Abschiebehaft sitzender iranischer Asylbewerber die zweite Septemberwoche als Termin für bevorstehende Terroraktionen. BKA und das FBI haben inzwischen nach Vernehmung des Iraners dementiert, dass jener über konkrete Informationen verfügte.

Fakt ist, dass US-Nachrichtendienste alle Warnungen ignorierten. Am 11. September 2001 folgten die verheerenden Terroranschläge in New York und Washington. Das Datum war offensichtlich mit Bedacht gewählt: An einem 11. September, im Jahre 1990, hatte US-Präsident George Bush sen., der Vater des amtierenden Regierungschefs, mit einer Rede vor beiden Kammern des Kongresses seine aggressive Politik gegenüber Irak eingeleitet, die dann im Januar 1991 zum Golfkrieg führte. Verbirgt sich hinter dem schwersten Terroranschlag der Geschichte gar eine »Familienfehde« der arabischen Extremisten mit den Bushs?

Nun wird nach Vergeltung gerufen. Schon im Vorjahr hat die US-Regierung Moskau einen gemeinsamen Luftangriff gegen die afghanischen Basen der Al Qaida vorgeschlagen. Doch hier ist Besonnenheit geboten. Nicht nur aus politischen, sondern auch aus militärischen Gründen! Ohne Zweifel können die US-Streitkräfte einen umfassenden Militärschlag gegen die bin-Laden-Gruppe durchführen, aber was passiert, wenn diese dann erneut einen fürchterlichen Terroranschlag verübt? Wie die japanische Aum-Sekte, die vor ein paar Jahren den Giftgasanschlag auf die U-Bahn in Tokio verübte, steht auch Al-Qaida im Verdacht, Massenvernichtungsmittel, etwa chemische Waffen, zu besitzen. Zwar fehlen eindeutige Beweise, aber kann man entsprechende Meldungen noch einfach als Verschwörungstheorie abtun?

Das US-Außenministerium geht sogar davon aus, dass die Gruppe versucht hat, waffenfähiges Nuklearmaterial und Bauteile für Atombomben zu erwerben. So wurden am 12. Juni 2001 die beiden US-Staatsbürger Diaa Mohsen und Mohammed Rajaa Malik aus Jersey City festgenommen, weil sie einen Zündmechanismus für Nuklearwaffen erwerben wollten. Bei den Auftraggebern soll es sich um pakistanische Terroristen gehandelt haben, die Verbindung zu bin Laden haben.

Es braucht neue Formen und Anstrengungen, um den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Auch die USA haben in der Vergangenheit diesen Kampf nicht ausreichend unterstützt. So kam eine von den blockfreien Staaten angedachte UN-Konferenz ausgerechnet durch das Desinteresse Washingtons nicht zustande. Doch die Eindämmung des Terrorismus ist eine gemeinsame internationale Aufgabe, die nur langfristig zu lösen ist.

 

Gerhard Piper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).