Neues Deutschland
22. Juli 2006


Neuordnung im Pulverfass

von Otfried Nassauer

Im Nahen und Mittleren Osten bedarf es keiner iranischen Atomwaffe, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Drei entführte israelische Soldaten reichen vollkommen aus, um Lunte und Pulverfass zur Wirkung zu bringen. Das zeigen die vergangenen Kriegstage in aller Deutlichkeit und das werden die nächsten Tage und Wochen zeigen.

Diese für die Menschen in Libanon brutale Realität lässt die Frage, ob die Entführungen der Hisbollah völkerrechtlich einen Akt der Aggression darstellen, auf den Israel mit legitimer Selbstverteidigung reagierte oder ob Israel überzogen und völkerrechtwidrig reagierte, zu einer akademischen werden. Für das Handeln der Kriegsparteien ist sie irrelevant, ebenso, wie der konkrete Anlass, der diesen neuerlichen Nahostkrieg auslöste. Den Akteuren dieses Krieges geht es um mehr.

Der Krieg in Libanon ist Teil der größeren Auseinandersetzung um die künftigen Machtstrukturen im Nahen und Mittleren Osten. Das hat er mit der Intervention der USA in Irak und mit dem Streit um das iranische Atomprogramm gemeinsam. Seit Monaten wurde spekuliert, ob Raketenangriffe der Hisbollah auf Israel zu jenen Eskalationsmöglichkeiten zählen, die einen Luftangriff der USA oder Israels auf die iranischen Atomanlagen als zu riskant und unkalkulierbar erscheinen lassen könnten.

Nun ist es anders herum gekommen. Der nächste Schritt der Eskalation beginnt mit dem Versuch Israels, Hisbollah (und Hamas) militärisch auszuschalten oder zumindest massiv zu schwächen. Gelänge dies, so würden auch die Handlungsmöglichkeiten Syriens und Teherans eingeengt, ein künftiges Vorgehen gegen sie kalkulierbarer. Gelingt es nicht, so wäre Israel die Rückkehr zum machtpolitischen Status quo ante möglich – um den Preis einer erneuten Destabilisierung Libanons und einer erneuten Verhärtung der nahöstlichen Fronten.

Für die in Irak schon fast gescheiterten Verfechter einer durch die USA und Israel dominierten Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens mittels von außen erzwungener Regierungswechsel eröffnet das militärische Vorgehen Israels die Chance, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen.

Ihr Einfluss steigt, wenn sie US-Präsident George W. Bush überzeugend darlegen können, dass er Handlungsspielraum gewinnt, wenn er Israel militärisch gewähren lässt. Das scheint ihnen gelungen zu sein. Washington gibt Israel nicht nur Zeit für weitere militärische Operationen, sondern signalisiert auch, dass es keinen schnellen Waffenstillstand, sondern eine angeblich langfristig stabile Lösung anstrebt – wie auch immer diese aussehen und durchgesetzt werden soll. Deutlicher kann nicht werden, dass das Ziel der Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens im Weißen Haus des George W. Bush nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben wurde. Washington und Jerusalem stehen derzeit weitgehend alleine.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan, Russland, viele europäische Staaten und auch die prowestlichen arabischen Länder halten einen schnellen Waffenstillstand, eine baldige Eindämmung des Konfliktes für besser. Sie fürchten eine weitere regionale militärische Eskalation und glauben nicht, dass eine Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens mit vorrangig militärischen Mitteln Erfolg haben kann.

Doch können sie sich durchsetzen, solange zwei so potente Akteure wie die USA und Israel sich Vorteile von einem weiteren militärischen Vorgehen versprechen? Dieser Streit kann schnell so bedeutsam werden wie jener im Vorfeld des Irak-Krieges 2003.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS