Neues Deutschland
28. Oktober 2008


USA-Raketenabwehr: Moskau hat allen Grund, beunruhigt zu sein

Das Pentagon lässt Abfangsysteme mit Streumunition entwickeln und verschiebt so das Kräftegewicht

von Otfried Nassauer

Das Raketenabwehrprogramm der USA sorgte in den vergangenen Jahren für allerlei politische Divergenzen insbesondere mit Russland. Auch nachdem die Stationierungsabkommen mit Polen und Tschechien klar sind, bleibt der Unmut gegen diese neue Spirale des Wettrüstens groß. Zumal inzwischen neue technische Entwicklungen bekannt wurden.

Das Pentagon entwickelt bereits die Raketenabwehr der nächsten Generation. Abwehrraketen sollen schon bald nicht nur einen anfliegenden Sprengkopf abfangen können, sondern gleich mehrere. Bis zu 20 Ziele soll eine Rakete bekämpfen. Technisch wird das möglich, wenn die einzelnen Abfangkörper kleiner und leichter ausgelegt werden und man sie individuell steuern kann. Jeder Kollisionskörper kann dann ein gesondertes Ziel bekämpfen. Gegnerische Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen oder Täuschkörpern, die heutige Abwehrsysteme übersättigen oder überlisten könnten, wären damit nicht länger eine Gefahr.

Die Abfangraketen, die bislang stationiert wurden, treffen noch immer nicht zuverlässig. Doch auch das könnte sich künftig ändern. Kommen mit einer Rakete mehrere Abfangkörper zum Einsatz, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einer das Ziel zerstört. So wie bei Streumunition und Flugabwehrkanonen. Das Vorhaben heißt »Multiple Kill Vehicle«. Seit 2004 arbeitet der US-amerikanische Rüstungsgigant Lookheed-Martin im Auftrag des Pentagons an dem System. Raytheon konzipiert einen zweiten Technologievorschlag als Rückfalloption. Technologische Schlüsselkomponenten wurden im Sommer 2008 getestet.

Als Trägersystem sind zunächst die gleichen Abfangraketen vorgesehen, die bereits heute in Alaska und Kalifornien aufgestellt werden. Ab 2013 sollen weitere zehn Raketen im polnischen Redzikowo bei Slupsk stationiert werden. So haben es Warschau und Washington im Windschatten des Georgienkonfliktes vertraglich vereinbart.

Bereits vier Jahre später, 2017, sollen die neuen Mehrfachabfangköpfe einsatzbereit sein. Das versprechen Militärs und Industrie. Später können auch andere Abfangraketen, beispielsweise seegestützte SM-3-Raketen, mit dem neuen System ausgerüstet werden.

Das Vorhaben kann Moskaus Bedenken gegen Washingtons Raketenabwehrpläne nur vergrößern. Die dortige Regierung muss es als weiteres Indiz werten, dass sich die Raketenabwehrpläne der USA letztlich gegen Russland und dessen nukleare Zweitschlagsfähigkeit richten und so langfristig die russische Abschreckungsfähigkeit gefährden könnten. Bislang verfügt kein Land, gegen das sich die Raketenabwehr der USA offiziell richtet, über funktionierende Langstreckenraketen oder gar Mehrfachsprengköpfe. Letztere gelten technologisch als äußerst anspruchsvoll. Nicht einmal die langjährige Atommacht China hat bislang Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen stationiert.

Für Russland sind solche Raketen dagegen das Rückgrat der eigenen atomaren Abschreckung. Einige von ihnen sind in Tatistschewo, tief im Südwesten Russlands, stationiert und könnten von den Abwehrraketen in Polen erreicht werden. Washingtons Beschwichtigung, in Polen würden nur zehn Raketen stationiert, wirkt aus Moskauer Sicht recht beunruhigend, wenn zehn Raketen bis zu 200 Abfangkörper tragen können.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS