60 Jahre NATO: „Change? – No we can’t“
von Otfried Nassauer
Der Berg hat gekreist. Der Gipfel zum 60. Geburtstag der NATO
hat Felsbrocken geboren, die für die Sicherheitspolitik in Europa
zu substantiellen Hindernissen werden können. „Change ? – No we can’t“
so könnte die Überschrift über die Gipfeldokumente lauten.
Obwohl die Feier für die Öffentlichkeit ganz im Zeichen des
Hoffnungsträgers Barack Obama und seiner Vision seiner neuen Politik
der ausgestreckten Hand stand.
Oft trügt der Schein. So auch beim Gipfel der NATO anlässlich
des 60. Geburtstags des Bündnisses in Straßburg und Kehl. Große,
symbolträchtige Gesten lieferten die Bilder. Frankreich kehrt in
die NATO-Militärstruktur zurück, neue Mitglieder wurden aufgenommen
und ein Spaziergang über die Europabrücke in Kehl diente als
Symbol für die Aussöhnung der früheren Erzfeinde Frankreich
und Deutschland. Mit einer prägnanten Gipfelerklärung wollte
die Allianz an ihre überragende Bedeutung in der Vergangenheit erinnern
und zugleich eine ähnlich wichtige Rolle für die Zukunft beanspruchen.
Ein neuer Generalsekretär und der Auftrag, eine neue Strategie für
das Bündnis auszuarbeiten, sollten diesen Anspruch untermauern. Und
natürlich herrschte gespannte Erwartung: Es war der erste Auftritt
des neuen US-Präsidenten, Barack Obama vor der NATO.
Obama erfüllte die ihn gesetzten Erwartungen. Er präsentierte
sich als bereitwilliger Zuhörer, versprach verstärkte Konsultationen
mit den europäischen NATO-Staaten, mehr gemeinsame und weniger einsame
Entscheidungen. Er verzichtete auf konkrete Forderungen nach mehr europäischen
Truppen für Afghanistan und brachte so niemanden in die Bredouille.
Mehr noch: Er überraschte mit der Ankündigung, die Vision einer
atomwaffenfreien Welt wiederbeleben und rasch deutliche atomare Abrüstungsschritte
mit Russland vereinbaren zu wollen. Seinen Worten ließ Obama bald
darauf konkrete Schritte folgen, die das gespannte Verhältnis der
USA zu Russland entkrampfen und neue Abrüstungsvereinbarungen erleichtern
sollen. Obama wollte Zeichen des außenpolitischen Wandels setzen
und er setzte sie. Im Blick auf die NATO, im Blick auf Russland und jenseits
des NATO-Gipfels sogar im Blick auf den Iran.
Doch Erwartungen, die NATO werde sich von den neuen Tönen aus Washington
anstecken lassen, waren fehl am Platz. Die Allianz präsentierte sich
als Bewahrerin des Vermächtnisses von George W. Bush. Symptomatisch
dafür sind die verabschiedeten Gipfeldokumente. Sie lesen sich in
vielen Passagen, als habe in den USA kein oder sogar ein gefährlicher
Regierungswechsel stattgefunden. Ausgewählte Beispiele:
- Im Blick auf Rüstungskontrolle und Abrüstung verspricht
die NATO eine aktivere Öffentlichkeitsarbeit, um die Aktivitäten
der eigenen Mitglieder zu loben, aber keinen Aktionsplan zur Wiederbelebung
dieses Politikinstrumentes, wie Norwegen und Deutschland es wünschten.
Bei Themen mit konkretem Handlungsbedarf – so zum Beispiel bei der Wiederlebung
der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa (KSE) - listet
das Kommunique eine Vielzahl von Vorbedingungen auf, die erfüllt
sein müssten, bevor Fortschritte erzielt werden können. Obamas
Ankündigung zur nuklearen Abrüstung, wird begrüßt.
Zugleich kontert die NATO Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt
mit der lapidaren Feststellung, man werde für „nukleare und konventionelle
Abrüstung in Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag
werben“, eine Formel, mit der die Nuklearmächte jahrzehntelang
Forderungen nach radikaler nuklearer Abrüstung zurückwiesen.
Zugleich hielt das Bündnis fest, man brauche auch künftig
„einen ausgewogenen Mix nuklearer und konventioneller Fähigkeiten“
zur Abschreckung. Mit dieser Formel wird die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung
der nuklearen Teilhabe und der in Europa stationierten substrategischen
Nuklearwaffen begründet.
- Obama’s Signale, auf Russland und dessen Interessen verstärkt
zugehen und zum Beispiel die Pläne für ein US-Raketenabwehrsystem
in Polen und Tschechien erneut überprüfen zu wollen, konterkariert
die NATO. Im Kommunique wiederholt sie die Beschlüsse von Bukarest
und betont ihr Festhalten an Plänen, die Machbarkeit eines ganz
Europa schützenden Raketenabewehrsystems untersuchen zu wollen.
Russlands Vorschlag, über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur
nachzudenken, wird zwar für diskussionswürdig befunden. Zugleich
wird er aber indirekt zurückgewiesen, weil der institutionelle
Rahmen auf OSZE, NATO und EU beschränkt werden soll. Die russische
Politik gegenüber Georgien wird ähnlich scharf und einseitig
wie in Bukarest kritisiert. Russland wird vorgeworfen die Prinzipien
der OSZE und der NATO-Russland-Akte verletzt zu haben. Es wird aufgefordert,
seine Truppen abzuziehen. Georgiens Vorgehen wird dagegen nicht kritisiert.
Im Gegenteil: Die NATO erneuert das Bukarester Versprechen, Georgien
und die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen. Sie verspricht zwar,
die Diskussion mit Russland im NATO-Russland-Rat wiederaufnehmen zu
wollen, geht aber mit keinem Wort darauf ein, die Zusammenarbeit so
verbessern zu wollen, dass Russlands Interesse an diesem Gremium steigen
könnte. Bislang verhindert eine NATO-interne Vereinbarung die Diskussion
aller Themen, über die in der NATO noch keine Einigung erzielt
wurde und erlaubt deshalb nur „Diskussionen“, bei denen Russland einheitliche
Positionen der NATO zur Kenntnis gebracht werden. Das Versprechen, den
NATO-Russland-Rat zu einem Gremium für gemeinsame Entscheidungen
auszubauen, wurde nie eingelöst.
In den Gipfeldokumenten hat sich ein Bündnis aus amerikanischen
NATO-Diplomaten der Ära Bush, konservativen NATO-Bürokraten
und neuen NATO-Mitgliedern durchgesetzt, die in Russland eine latente
Gefahr sehen und erfolgreich versuchten, George W. Bushs Erbe erneut festzuschreiben.
Ihr Vorgehen kann man als präventive Selbstverteidigung gegen einen
drohenden Wandel beschreiben. Die Gipfel-Dokumente tragen nun die Unterschrift
Obamas, ein Faktum, an dass er schon bald bei Diskussionen über Einzel-
und Sachfragen erinnert werden dürfte.
Eine ähnliche Handschrift tragen die Gipfeldokumente im Blick auf
die künftige Ausrichtung der NATO: Die Allianz müsse „die Bereitstellung
umfassend vorbereiteter und verlegbarer Streitkräfte“ sicherstellen,
die „fähig sind, das volle Spektrum militärischer Operationen
und Missionen durchzuführen – auf dem und über das Territorium
der Allianz hinaus, an dessen Peripherie und über strategische Distanzen“.
Mit solcher Deutlichkeit hat die NATO den Anspruch, ein global handelndes
Militärbündnis zu sein, bislang nicht formuliert. Im Vordergrund
stehen die Bekämpfung des international agierenden Terrorismus und
der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Doch gibt es auch
Formulierungen, die auf Weiterungsmöglichkeiten hinweisen. So will
die NATO prüfen, ob sie die Bekämpfung der Piraterie zu einer
dauerhaften Aufgabe macht. Sie weist prophylaktisch darauf hin, dass auf
Feldern wie der Energiesicherheit, des Klimawandels oder zerfallender
Staaten Risiken entstehen, die ebenfalls ein globales Engagement erfordern
können. Und sie erklärt ihr Interesse an einer verstärkten
Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen. Würde die NATO seitens
der Vereinten Nationen wie eine Regionalorganisation behandelt, so gewänne
sie erheblich an Legitimation.
Barak Obamas Ankündigung, die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus in Afghanistan mit mehr Truppen, mehr Geld, verstärkten
zivilen Bemühungen sowie einem umfassenden Aufbau der afghanischen
Sicherheitskräfte zu stärken, werden von der NATO begrüßt
und im Sinne einer „Surge-Strategie“ interpretiert. Die NATO deutet sogar
indirekt an, dass dies eine Ausweitung ihrer Operationen auf Pakistan
erfordern könne: „Die internationale Gemeinschaft zielt darauf, sicherzustellen,
dass Al Kaida und andere gewalttätige Extremisten Afghanistan und
Pakistan nicht als „sicheren Himmel“ nutzen können, aus dem heraus
sie Terrorangriffe starten können.“
Die Grundprobleme der Allianz hat der Gipfel dagegen nicht angegangen.
Es wurde weder diskutiert wie das Bündnis wieder ein Ort kollektiver
sicherheitspolitischer Entscheidungen werden kann, noch darüber,
ob es Sicherheit vor oder mit Russland gestalten soll oder wie das Verhältnis
zwischen NATO und EU neu justiert werden kann. Der Gipfel verzichtete
auf eine Diskussion über die Grenzen militärischen Krisenmanagements
ebenso wie auf eine Debatte darüber, dass der Umgang mit den Risiken
der Zukunft vor allem nicht-militärischer Mittel bedarf, über
die die NATO nicht verfügt. Es gab keine Debatte darüber wie
die NATO verlorene Glaubwürdigkeit nach innen und außen wiedergewinnen
könnte oder wie sie mit dem Problem mangelnden inneren Zusammenhalts
umgehen könnte.
All diese Fragen wurden vertagt und sollen zum Teil während der
Erarbeitung einer neuen NATO-Strategie debattiert werden. Ob das gelingt,
darf bezweifelt werden. Zum einen wird die Ausarbeitung der neuen Strategie
mit diesen primär politisch zu lösenden Fragen überfrachtet.
Zum zweiten soll die Expertengruppe, die die Strategie ausarbeitet, eng
mit dem NATO-Rat zusammenarbeiten. Der wiederum wird von der NATO-Bürokratie
beraten und bildet deshalb drittens einen Ort, an dem bürokratisches
Beharrungsvermögen, die Konkurrenz nationaler Sichtweisen und das
Konsensprinzip Veränderungen blockieren könnten. Zu einer Suche
nach einem substantiellen Neuansatz, der zugleich auf einen neuen Konsens
unter den Bündnismitgliedern über Daseinszweck und Aufgaben
des Bündnisses zielt, dürfte die Arbeit an einer neuen Strategie
kaum mehr geeignet sein.
Nach Straßburg gleicht die NATO einem großen Kriegerdenkmal.
Nach außen ein beeindruckender Koloss, ist es innen hohl. Dort aber
frisst der Rost. Er kann schon bald die Statik gefährden, doch die
Entscheidung über die Alternative: Gründliche Sanierung versus
Abriss wurde vertagt.

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS
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