Das Ende der Abrüstung?
von Otfried Nassauer
Wladimir Putin hat die NATO aufgeschreckt. Der russische Präsident hat die Umsetzung
des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) ausgesetzt und mit
Russlands Ausstieg aus dem KSE-Regime gedroht. Er fordert, dass alle NATO-Staaten diesem
Regime endlich beitreten, es umsetzen und will letztlich ein runderneuertes drittes
KSE-Abkommen aushandeln.
Der KSE-Vertrag stammt aus dem Jahre 1990. Er legte für die Hauptwaffensysteme von
NATO und Warschauer Pakt also z.B. Kampfpanzer oder Kampfflugzeuge je
gleiche Obergrenzen für beide Militärblöcke fest. Der Vertrag wurde umgesetzt. Rund
60.000 Großwaffensysteme wurden verschrottet.
Als die NATO 1997 erweitert werden sollte, galt es, den Vertrag an die neue
Wirklichkeit anzupassen. Die Blockstruktur des Vertrages hier Warschauer Pakt und
da NATO - gab es nicht mehr. Der Warschauer Pakt hatte sich aufgelöst. Drei seiner
Mitglieder wollten der NATO beitreten. Um des Problems Herr zu werden und zugleich
Russlands Bedenken gegen die Osterweiterung der NATO abzufedern, wurden mehrere Schritte
unternommen: Mit dem NATO-Russland-Rat wurde ein Gremium geschaffen, in dem Fragen der
europäischen Sicherheit gemeinsam mit Russland konsultiert werden konnten. Ein Mandat
für Verhandlungen über einen Angepassten KSE-Vertrag (AKSE) wurde erteilt. Zudem gaben
die USA Russland politisch, aber nicht rechtlich verbindliche Zusagen, dass in den neuen
Mitgliedstaaten keine amerikanischen Nuklearwaffen stationiert werden würden.
Anlässlich des OSZE-Gipfels in Istanbul 1999 war das neue Vertragswerk
unterschriftsreif. Es senkte die Obergrenzen für die Hauptwaffensysteme noch einmal ab.
Sie wurden jetzt für die einzelnen Nationen festgeschrieben. Der Beitritt neuer
Mitglieder aus dem Kreis der OSZE-Staaten wurde ermöglicht. Russland wurden mit der
sogenannten "Flankenregel" enge Beschränkungen für die Stationierung
konventioneller Streitkräfte an seinen nord- und südwestlichen Grenzen auferlegt. Im
Gegenzug verpflichtete sich die NATO zu Obergrenzen und zeitlichen Begrenzungen für
Verlegungen von Truppen in die neuen Mitgliedstaaten. Alle KSE-Mitglieder unterzeichneten
den neuen Vertrag. Doch heute ist er nicht in Kraft, da kein NATO-Staat ihn ratifiziert
hat.
Sechs Monate nach Istanbul NATO schuf die NATO aus Protest gegen den 2.
Tschetschenienkrieg einseitig eine Bedingung, die manche NATO-Staaten bis heute nicht
erfüllt sehen: Die NATO werde den AKSE-Vertrag erst ratifizieren, wenn Russland aus
Georgien und Moldawien abgezogen sei. Zu einem solchen Abzug hatte sich Russland in den
Istanbuler Verpflichtungen tatsächlich bereit erklärt, ohne dafür aber eine Frist oder
ein Junktim zu akzeptieren.
In der NATO gibt es unterschiedliche Auffassungen, ob Russland genug getan hat, um mit
der Ratifizierung des AKSE-Vertrages zu beginnen. Deutschland wäre zum Beispiel dazu
bereit. Washington oder London sehen das anders. In Washington hegt die Regierung Bush
eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber vertraglich vereinbarter
Rüstungskontrolle. In den baltischen Hauptstädten ist man froh, dem KSE-Regime noch
nicht beitreten und damit Beschränkungen bei Verstärkungen aus anderen NATO-Staaten
eingehen zu müssen. Mancher fürchtet zudem vor allem die Diskussion darüber, wie denn
ein Vertrag aussehen müßte, wenn das KSE-Regime auch an die 2. NATO-Osterweiterung
angepasst würde.
Mit der Ankündigung Putins, das KSE-Regime notfalls ganz in Frage zu stellen, liegen
diese Fragen offen auf dem Tisch. Sie verweisen zudem auf ein Problem, das Wladimir Putin
auch in den Debatten über die amerikanischen Raketenabwehrpläne für Europa oder die
Zukunft des Kosovos aufwirft: Will der Westen europäische Sicherheit künftig mit oder
gegen Russland gestalten? Ist Russland nur solange willkommener Partner wie es dem Westen
nicht in die Quere kommt oder auch dann, wenn es eigene Interessen formuliert? Was ist der
NATO das KSE-Regime, der "Eckpfeiler europäischer Sicherheit", letztlich wert?
Aus europäischer Sicht gibt es gute Gründe an diesem Regime festzuhalten. Es
beschränkt die russischen Militärpotentiale im Westen effektiv. Es ist Basis für den
Vertrag über den "Offenen Himmel", der gegenseitige Inspektionsflüge erlaubt.
Und es ist die Grundlage für die Wiener Vereinbarungen zum jährlichen Austausch
militärischer Daten unter den OSZE-Staaten. Es gibt also gute Gründe, über einen
weitere Anpassung des KSE-Regimes nachzudenken, statt das bereits Vereinbarte wieder
aufzugeben.

ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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