22. April 1999
Prager deutsche Wochenzeitschrift

 

Die NATO auf dem Weg ins Nirgendwo?

 von Otfried Nassauer

Die Zahlen beeindrucken. Bis zum 13. April hat die NATO 5.926 Luftwaffeneinsätze gegen Ziele im ehemaligen Jugoslawien geflogen. Durchschnittlich 500 Flugzeuge standen dafür zur Verfügung. In dieser Woche werden es 1.000 sein. Hochmoderne, präzisionsgelenkte Waffen kommen zum Einsatz. Es scheint, die Allianz bombe den serbischen Staat samt seines Präsidenten Slobodan Milosevic zurück in die Steinzeit. Doch der zeigt sich völlig ungerührt - lehnt ein politisches Einlenken ab und vergrößert beständig das Leid und Elend der Menschen aus dem Kosovo. Kann es sein, daß die NATO ihre politischen Ziele verfehlt, daß Goliath von Davids Schleuder getroffen wird?

Der Konflikt um den Kosovo dient Militärs und Politikern der NATO als Musterbeispiel für die künftigen Aufgaben und die künftige Strategie des Bündnisses. Die NATO kämpft für die Menschenrechte und gegen Völkermord. Deshalb engagiert sie sich militärisch außerhalb des NATO-Gebietes. Dieses strategische Konzept erweist sich bei der Generalprobe als Reinfall. Das Orchester spielt nicht aus derselben Partitur. Es kann nicht als Erfolg gewertet werden, daß die Musiker nach drei Wochen Proben noch nicht schreiend auseinandergelaufen sind.

Ganz offensichtlich stimmt mit dem Vorgehen der NATO etwas nicht: Politische Ziele und militärische Mittel stehen nicht im Einklang, der militärische und der politische Erfolg bleibt bislang aus. Die NATO hat politische Forderungen gestellt, die die jugoslawische Führung nicht erfüllen will oder kann. Die NATO hat eine militärische Drohung ausgesprochen, mit der sie ihre politischen Ziele nicht glaubwürdig erreichen kann.

Die militärische und politische Wirksamkeit der Luftangriffe ist weit geringer als NATO-Öffentlichkeitsarbeit und Politiker glaubend machen wollen. Damit aber wird das eigentliche Ziel der NATO-Aktion bislang verfehlt: Den bedrängten Menschen im Kosovo ist bislang nicht geholfen. Im Gegenteil, die NATO-Angriffe haben die Vertreibungen eher beschleunigt und das Leiden zum Teil verstärkt. Slobodan Milosevics Regime erfährt in der Isolation und unter militärischem Druck mehr politische Zustimmung unter Serben als zuvor. Serbiens Herrscher kann sich stark fühlen und hat das Heft des Handelns ebenso weiter in der Hand wie vielfältige Möglichkeiten, den Konflikt noch auszuweiten.

Auch wenn diese Option offiziell noch nicht zur Debatte steht: Es ist denkbar, daß bereits dem NATO-Gipfel an diesem Wochenende eine Entschließung vorgelegt wird, die den Einsatz von Bodentruppen nicht länger grundsätzlich ausschließt. Dies kann auch im Rahmen eines Verhandlungsangebotes geschehen, das mit der Drohung einer weiteren militärischen Eskalation des Konfliktes durch die NATO verbunden ist. Wer diese Option angeblich begrenzter Bodentruppeneinsätze wählt, muß wissen, daß sie nur dann wirklich glaubwürdig ist, wenn die NATO-Staaten letztlich zum "Marsch auf Belgrad" bereit sind. Begrenztere Einsätze bergen die Gefahr, daß Milosevic den Krieg weiter eskaliert, Montenegro offen in den Konflikt zieht, die Vojvodina destablisiert oder begrenzte Angriffe auf Albanien oder das instabile Mazedonien versucht. Letztere haben eine Sicherheitsgarantie der NATO erhalten, müssen also von der NATO im Ernstfall verteidigt werden. Auch das bedeutet einen Einsatz von Bodentruppen.

Wer diese Option nicht will, der muß jetzt ernsthaft über eine neue politische Initiative zur Beendigung des Konfliktes nachdenken und diese mit aller Kraft vorantreiben. Schweigen wird im Kreis der NATO-Mitglieder als Zustimmung zum Lauf der Dinge gewertet. Die NATO selbst sieht sich als politische Allianz - sie sollte politischen Mitteln der Konfliktlösung wieder Vorrang geben.

An diesem Wochenende will die NATO ihr neues Strategisches Konzept politisch billigen. Erstmals kann die Tschechische Republik über eine NATO-Strategie mitentscheiden. Doch kommt diese Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt? Liegt das richtige Konzept zur Abstimmung vor? Eine ernsthafte Strategie-Diskussion in der NATO - unter Einschluß der Interessensdivergenzen zwischen den NATO-Mitgliedern - wird erst nach dem Ende der Militäroperation im ehemaligen Jugoslawien erfolgen. Die Beschlußfassung über ein unausgegorenes Konzept und zum falschen Zeitpunkt sollte unterbunden werden.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).