Russland und die NATO – Zu den Auswirkungen der Ukraine-Krise
von Otfried Nassauer
„The political crisis that erupted in Ukraine in early 2014 has
ended the period in Russian-Western relations that began with the fall
of the Berlin Wall in 1989. The crisis marks the end of a generally
cooperative phase in those relations (…). Instead, the Ukraine
crisis has opened a new period of heightened rivalry, even
confrontation, between former Cold War adversaries.“
Eine klare Ansage. Sie stammt von Dmitri Trenin, dem Direktor des
Moskauer Carnegie-Zentrums. Trenin ist weder Pessimist noch Fatalist,
er ist Realist. Er gehört zu jenen russischen Sicherheitsexperten,
die eine strategische Zusammenarbeit Russlands mit dem Westen nach dem
Ende des Kalten Krieges befürwortet haben – vorausgesetzt,
berechtigte russische Interessen werden gewahrt. Seine Prognose
für die kommenden Jahre: „Essentially, the Kremlin sees
Russia’s future as separate from the rest of Europe’s.
Vladimir Putin’s proposal for a greater Europe stretching from
Lisbon to Vladivostok, cold-shouldered by many in the EU, has now been
finally withdrawn by its author. Instead, Russia will largely rely on
its own resources as it seeks to develop its economy, consolidate its
political system, and build a strong military.”
Trenin wird im Kern wohl Recht behalten, zumindest für die
nächsten Jahre. Denn seine Vorhersage trifft sich zu gut mit den
Wünschen eines Großteils konservativer Sicherheitspolitiker
und werteorientierter Linksliberaler im Westen, denen Zusammenarbeit
mit Russland suspekt ist.
Für NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und viele
andere im Westen ist Wladimir Putin der allein Verantwortliche für
diese Entwicklung. Der russische Präsident, der als Autokrat
regiert, die Menschenrechte nicht achtet, sich rechtswidrig die Krim
einverleibt und in der östlichen Ukraine zündeln lässt,
während seine Truppen an deren Grenze auf- und abmarschieren, habe
jegliches Vertrauen verspielt.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Rasmussens Sichtweise hält
Moskau geschichtslos gespiegelt viele Argumente vor Augen, die Wladimir
Putin seit 2001 mit wachsender Dringlichkeit als seine Sorge
vorgetragen hat – als Manko westlichen Verhaltens, an dem eine
fruchtbare sicherheitspolitische Kooperation mit Moskau zu scheitern
drohe.
Eine lange Geschichte russischer Enttäuschungen
Die Krise in der Ukraine und das Verhalten Moskaus haben eine lange
Vorgeschichte enttäuschter Hoffnungen Moskaus auf eine
gleichberechtigte Mitsprache bei der Ausgestaltung der
Sicherheitsarchitektur Europas. Es ist eine Geschichte gebrochener
Zusagen des Westens.
Schon während der Verhandlungen über die deutsche Einheit
fürchtete Moskau, die NATO werde sich in Zukunft nach Osten
ausdehnen. Die USA, Frankreich und die Bundesregierung bemühten
sich, diese Befürchtung politisch auszuräumen. Das geeinte
Deutschland solle der NATO angehören. Auf dem Territorium der
ehemaligen DDR werde es aber keine ausländischen Truppen geben.
Weiter im Osten schon gar nicht. Der Koordinator der Bundesregierung
für die deutsch-russischen Beziehungen, Gernot Erler,
bestätigte dies kürzlich noch einmal im MDR: „Da kann
ich nur dazu sagen, dass das richtig ist, dass es solche Verabredungen,
auch wenn sie nicht schriftlich festgehalten worden sind, gibt.“
Schon drei Jahre später jedoch die Wende im Westen: Bei einem
Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Travemünde
plädierte Volker Rühe, damals deutscher
Verteidigungsminister, im Oktober 1993 für eine Öffnung der
NATO für ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes. Gernot Erler
erläutert das deutsche Motiv: „Also, Deutschland war
übrigens auch der Meinung, dass die Länder östlich von
Deutschland, die mittelosteuropäischen Länder, Mitglied der
NATO und auch der EU werden sollten, weil das für uns
geostrategisch natürlich von Vorteil war.“ Besser von
Freunden umzingelt als Frontstaat eines Militärbündnisses
– so die Logik.
Vier Jahre später stand in Madrid die Aufnahme der ersten neuen
Mitglieder an: Polen, Tschechien und Ungarn. Wenige Jahre danach
folgten mit den baltischen Staaten erstmals drei ehemalige
Sowjetrepubliken sowie Slowenien und die Slowakei, danach Staaten des
Balkans. Bis heute verfolgt die NATO eine Politik der offenen Tür,
die weiteren Staaten, auch ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien
oder der Ukraine die Aussicht auf einen künftigen NATO-Beitritt
ermöglicht. Kontinuierlich rückte die NATO den Grenzen
Russlands näher.
Um die Osterweiterung für Russland akzeptabler zu machen, wurde
wenige Tage vor dem Beschluss über die erste Osterweiterung 1997
in Paris die NATO-Russland-Grundlagenakte unterzeichnet. Das Dokument
offerierte Moskau eine ständige Vertretung in Brüssel und
institutionalisierte Konsultationen mit der NATO, den
NATO-Russland-Rat. Hinzu kam die Zusage, die Nuklearwaffen der NATO und
deren Trägersysteme nicht näher an die Grenzen Russlands
heran zu verlegen.
Doch kaum war der erste Erweiterungsschritt vollzogen, machte die NATO
auf expliziten Wunsch ihrer neuen Mitglieder einen Rückzieher: Sie
beschloss, mit Moskau im NATO-Russland-Rat nur über Themen zu
reden, über die in der NATO bereits inhaltlicher Konsens
herrschte. Aus Moskauer Sicht wurde der NATO-Russland-Rat damit zu
einer Institution, die eher der Ausgrenzung, denn der Einbeziehung
Russlands diente.
Ganz ähnlich bei der zweiten Osterweiterung um das Baltikum und
weitere Staaten: Die NATO versprach Russland, den NATO-Russland Rat
aufzuwerten. Künftig sollten dort gemeinsame Entscheidungen zu
Fragen der europäischen Sicherheit vorbereitet und getroffen
werden können. Das weckte die Hoffnung, Russland werde
gleichberechtigt mitarbeiten. Wieder folgte die Enttäuschung auf
dem Fuß: Die neuen NATO-Mitglieder bestanden darauf, weiterhin
mit Moskau nur über Themen zu diskutieren, über die im Westen
bereits Konsens erzielt wurde.
Begleitet wurde diese Entwicklung von der westlichen Weigerung, eine
bereits ausgehandelte Anpassung der Rüstungskontrollabkommen
über die konventionellen Kräfteverhältnisse in Europa
(KSE/AKSE) an die durch die Osterweiterung entstandenen neuen
geographischen Realitäten auch gültiges Vertragsrecht werden
zu lassen. Bevor das Militärpotential der neuen NATO-Mitglieder
auf die erlaubten Obergrenzen für die NATO und nicht mehr auf jene
Russlands angerechnet werden könne, müsse Russland
zunächst seine militärische Präsenz in Georgien und
Moldawien aufgegeben haben, schob die NATO nach.
Wladimir Putin nutzte nach seiner Wahl zum Präsidenten Russlands
eine Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 für ein erstes
politisches Signal gegen diese Vorgehensweise. Zwei Wochen nach den
Terroranschlägen in den USA bot er dem Westen einerseits eine
weitreichende Zusammenarbeit an, zeigte sich aber gleichzeitig auch
besorgt: „Trotz allem Positiven, das in den vergangenen
Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen
effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher
ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen
Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung
mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt
ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu
bestätigen.“ Putins Mahnung zu mehr Mitsprache und
Gleichberechtigung wurde überhört. Der NATO-Russland-Rat
blieb, was er war. Die USA kündigten trotz scharfer Proteste den
ABM-Vertrag. Im Streit um die geplante US-Raketenabwehr in Europa gab
es keine westlichen Angebote, die Moskaus wichtigste Befürchtung,
eine solches System könne sich letztlich auch gegen Russland
richten und dessen gesicherte nukleare Zweitschlagfähigkeit
gefährden, ernsthaft entkräften konnten. Der Westen zeigte
auch kein Interesse, die OSZE zu stärken oder eine System
kooperativer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok aufzubauen.
Während der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 kritisierte
Putin dies deutlich schärfer und verwies erstmals darauf, dass
Moskau auch national dafür sorgen könne, dass seine
Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben. Er kam wachsender
innenpolitischer Kritik von Militärs und aus nationalkonservativen
Kreisen nach, die bereits seit geraumer Zeit kritisierten, Moskau sei
dem Westen gegenüber zu nachgiebig.
Nur ein Jahr später demonstrierte Putin im Georgien-Konflikt
erstmals seine Entschlossenheit, in Russlands nationalem Interesse
notfalls auch militärisch zu agieren. Westliche Kritik wies er
weitgehend mit jenen Argumenten zurück, mit denen die NATO die
Kritik Russlands an ihrem Krieg gegen Serbien um das Kosovo
zurückgewiesen hatte. Moskau machte zudem eine weitere
Ankündigung wahr: Es scherte teilweise aus seinen Verpflichtungen
zur konventionellen Rüstungskontrolle aus. Die NATO reagierte, in
dem sie die Arbeit des NATO-Russland-Rates zeitweilig aussetzte und
damit demonstrierte, wie gering der Stellenwert dieses Gremiums aus
ihrer Sicht war.
Trotzdem folgte kurz darauf ein erneutes Kooperationsangebot aus
Moskau. Putin entwarf mit Blick auf die EU die Idee einer einer
Sicherheitsstruktur von Lissabon bis Wladiwostok und schlug im
NATO-Russland-Rat ein Abkommens vor, das für den Fall einer Krise
in Europa völkerrechtlich verbindlich Konsultationen vorsah. Von
Wikileaks veröffentlichte diplomatische Depeschen der USA belegen
eindrucksvoll, wie die NATO diesen Vorschlag ignorierte und intern als
durchsichtiges taktisches Störmanöver diskreditierte. Manche
NATO-Staaten fürchteten, der Vorschlag ziele vor allem darauf, die
beabsichtigte Einbeziehung der baltischen Staaten in die
Eventualfallplanung für eine Verteidigung Polens, „Eagle
Guardian“, zu blockieren.
Vier Jahre später zeigen sich in der Ukraine-Krise die Folgen der
enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen Moskaus. Russland
demonstriert erneut seinen Willen, seine Interessen auch gegen
westliche Proteste und auf Kosten der Zukunftsperspektiven zur
Kooperation mit der NATO zu wahren. Es erwartet sich nichts mehr von
dieser Zusammenarbeit. Die Eingliederung der Krim in die Russische
Föderation verhindert unilateral, dass eine prowestliche, teils
rechtsnationale Regierung in Kiew die Stationierungsrechte der
Schwarzmeerflotte erneut zu einem Zankapfel machen kann. Eine
vollständige Integration der Ukraine in die westlichen
Institutionen NATO und EU ist aus Moskauer Sicht nicht tolerabel, weil
man selbst ohne Chance auf solche Integration ist.
Die NATO
„This is where the dragons play (...) where dreams are
made”. Mit diesen Sätzen wirbt das noble Celtic Manor
Ressort, ein Hotelkomplex in Wales. Hier – inmitten einer
wunderschönen, sanft-hügeligen und sattgrünen Landschaft
– treffen sich Anfang September die Staats- und Regierungschefs
der NATO zu ihrem nächsten Gipfel. Sie wollen Visionen für
die Zukunft des Bündnisses entwickeln. Welche Aufgaben hat die
NATO nach dem langen Einsatz in Afghanistan?
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und einige der
Mitgliedsstaaten haben bereits eine klare Vorstellung. Seit Russland
sich die Krim einverleibt hat, variiert Rasmussen immer wieder einen
Gedanken: „Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste
Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...)
Die größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser
Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu
verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir
tun.“
Diese Reaktion kommt nicht von ungefähr. Für den
NATO-Generalsekretär ist diese Krise ein Geschenk. Russlands
Vorgehen soll ihm helfen, eine NATO wiederzubeleben, die in den letzten
zwei Jahrzehnten häufig höchst umstrittene Aufgaben
übernahm und kaum mehr als zweifelhafte Erfolge aufzuweisen hat.
Ein Militärbündnis, das immer mehr einem Kriegerdenkmal
glich: Nach außen schimmernde Wehr, innen aber hohl und rostend.
Die Chance, die NATO erneut an einem starken, einenden Gegner wie
Russland auszurichten will sich Rasmussen nicht entgehen lassen. Um
dies zu erreichen, sind ihm offenbar viele Mittel recht.
Der NATO Generalsekretär scheute sich bislang nicht, immer wieder
Öl ins Feuer der Ukraine-Krise zu gießen. Seine
Stellungnahmen zu den Ereignissen in der Ukraine waren –
zurückhaltend formuliert – oft einseitig und mehr als einmal
kaum durch Fakten gedeckt. Manchmal agierte er gar wie ein
Flammenwerfer. In der Nacht vom 22./23. August 2014 verlautete
Rasmussen beispielsweise, russische Truppen hätten nach
Erkenntnissen der NATO die Grenze der Ukraine überschritten und
kämpften nun auf ukrainischem Territorium. Belege für seine
Behauptung blieb er schuldig. Am nächsten Morgen war von
Rasmussens casus belli nichts mehr zu hören. Rasmussen lässt
kaum eine Gelegenheit aus, Russland Propaganda vorzuwerfen und Putin
persönlich für das Verhalten prorussischer Separatisten in
der Ostukraine verantwortlich zu machen, als sei jener deren
Oberbefehlshaber. Seine Forderungen an Putin werden dagegen
gelegentlich zum offenen Widerspruch in sich. So zum Beispiel als
Rasmussen Putin aufforderte, die russischen Truppen von der
ukrainischen Grenze abzuziehen, zugleich aber verlangte, Putin solle
den Nachschub schwerer Waffen an Separatisten unterbinden.
Propagandameldungen der ukrainischen Zentralregierung werden von
Rasmussen dagegen meist unkommentiert stehen gelassen oder sogar
übernommen.
Russland wolle nicht mehr Partner sein, es erkläre sich selbst zum
Gegner, argumentiert Rasmussen. Das trifft sich gut mit der Haltung
jener NATO-Mitglieder, die Moskau schon lange lieber als Bedrohung
betrachtet haben, denn als potentiellen Kooperationspartner. Der
NATO-Generalsekretär will dies nutzen: „Mit seiner
Handlungsweise hat Russland ein Vorgehen gewählt, das die
Grundlagen unterminiert, auf die unsere Kooperation aufgebaut ist. Das
militärische Vorgehen gegen die Ukraine und die illegale Annexion
von Teilen des Territoriums der souveränen Ukraine stellen einen
flagranten Bruch der internationalen Verpflichtungen Russlands dar. In
Anbetracht dessen kann es kein ‚business as usual‘
geben.“
Liebhaber klarer Fronten und Feindbilder dürfen also hoffen. Im
Baltikum, in Polen oder Rumänien wünscht man sich, die NATO
werde endlich keine Rücksicht mehr auf russische Befindlichkeiten
nehmen und an vorderster Front dauerhaft militärische Präsenz
zeigen. Manche spekulieren bereits darauf, die NATO werde künftig
weitere politisch verbindliche Zusagen an Moskau aufbrechen und zum
Beispiel eine Stationierung größerer Kampfverbände oder
gar atomarer Waffen in Ländern wie Polen erwägen.
Ausgeschlossen ist das nicht, zum Beispiel dann, wenn Moskau –
wie mancher es fordert – den INF-Vertrag über ein Verbot
landgestützter Mittelstreckenraketen aus dem Jahr 1987
kündigen würde oder wenn dies im Kontext der geplanten
Modernisierung der US-Nuklearwaffen in Europa opportun erschiene.
Auch aus amerikanischer Sicht bietet die Perspektive einer
längeren konfrontativen Phase im Verhältnis zu Russland
Chancen. In Washington darf man hoffen, den Primat der NATO in der
Sicherheitspolitik gegenüber der Europäischen Union auf
längere Zeit absichern zu können. Umstrittene Projekte wie
der Aufbau einer Raketenabwehr in Europa könnten unter solchen
Rahmenbedingungen leichter durchsetzbar sein, Geschäftsoptionen
für die wehrtechnische Industrie der USA entstehen. Im
EU-kritischen Großbritannien findet eine solche Entwicklung
ebenfalls Befürworter. Weniger Kooperation zwischen den
großen Akteuren auf dem europäischen Kontinent stärkt
die Einflussmöglichkeiten und die Bedeutung jener Staaten, die
nicht zu Kontinentaleuropa gehören.
Die Krim-Krise und die Krise im Osten der Ukraine schwächen in
Europa jene, die wie Deutschland für eine langfristige,
strategische wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland
eintreten. Der Konflikt verspricht, gleich mehrere wichtige
wirtschaftliche Konkurrenten der USA in Europa zu schädigen.
Schließlich bleiben, solange er währt,
innereuropäischen Streitigkeiten erhalten, ob man Sicherheit vor
Russland oder mit Russland anstreben soll. Washington kann auch
künftig darauf zählen, jeweils mit den europäischen
Ländern eng zu kooperieren, deren Positionen die Interessen der
USA am stärksten widerspiegeln. Die Vereinigten Staaten behalten
die Option, mit ihrer Hilfe ein einheitliches Handeln Europas zu
blockieren. Washington kann hoffen, dass die Frage einer erneuten
Erweiterung der NATO - und in deren Folge auch der EU – schon
bald auf die Tagesordnung zu setzen. Es kann die Westeuropäer
besser drängen, auch die letzten Länder des Balkans sowie
weitere ehemals sowjetische Republiken wie Georgien, Moldawien und die
Ukraine an die NATO heranzuführen und – in der Folge - die
ökonomischen Lasten für deren Integration über die
Europäische Union zu schultern. Erweiterung statt Vertiefung
– diese Strategie hat bereits in der Vergangenheit wiederholt
Washingtons Führungsrolle in Europa zementiert. Das
Verhältnis zu Russland, die Krise in der Ukraine und die Reaktion
der Allianz auf beides sollen schon deshalb im Vordergrund des
NATO-Gipfels im September stehen.
Eine russische Fehlkalkulation
Seit dem Ende des Kalten Krieges durchzieht eine gravierende
Fehlperzeption und eine damit einhergehende
Selbstüberschätzung das Denken Moskaus. Um dem Selbstbild der
meisten Russen auf ihr riesiges Land zu entsprechen, pflegte Moskau
trotz des Zerfalls der Sowjetunion kontinuierlich das Image, auch die
Russische Föderation sei trotz aller wirtschaftlichen Krisen noch
immer eine Weltmacht, auf deren Interessen Washington im Zweifelsfall
Rücksicht nehmen müsse. Das strategische Nuklearpotential
sichere Moskau diese Rolle und Washington akzeptiere mit dem
Bezeichnung Moskaus als strategischer Partner auch künftig
Russlands Rolle als global einflussreiche Macht.
Der Begriff „strategischer Partner“ hat in Washington
jedoch eine ganz andere Bedeutung als in Moskau. Während er
westlich des Atlantiks durchaus eine eher taktische Funktion als
Beruhigungspille erfüllen kann, wird er in Moskau als feste Zusage
und Versprechen auf ein bilaterales Verhältnis auf Augenhöhe
interpretiert. In Washington wiederum kann er durchaus mit einer
Selbstsicht als „sole superpower“ zusammengehen, die den
Kalten Krieg gewonnen und deshalb das primäre Recht zur Gestaltung
von Weltordnung auch gegen den Willen „strategischer
Partner“ hat. Zum Beispiel, wenn es darum geht, die NATO nach
Osten zu erweitern.
In Moskau folgte aus dieser Fehlwahrnehmung dreierlei. Zum einen
glaubten viele dem Versprechen strategischer Partnerschaft und haben
deshalb erwartet, dass der Westen auf strategische Interessen Russlands
letztlich Rücksicht nehmen werde. Dies erwies sich wiederholt als
Irrglaube und verdichtete sich mit der Zeit zu der geschilderten
‚Geschichte der Enttäuschungen‘. Zum zweiten
verführte das Versprechen einer strategischen Partnerschaft Moskau
zur einer einseitigen Fokussierung auf das bilaterale Verhältnis
zu Washington. Dies reduzierte Moskau immer wieder auf reaktive
Handlungsmuster und verführte es zu pawlowschen Reflexen, wenn
Washington mit dem Gedanken an einem Ende der strategischen
Partnerschaft spielte. Barack Obamas Bezeichnung Russlands als
„Regionalmacht“ während der Ukraine-Krise traf diesen
Nerv Russlands mit besonderer Härte.
Schließlich verführte die Fehlperzeption Moskau lange zu
einer Geringschätzung und zu einer gewissen Überheblichkeit
im Umgang mit Europa, dem zweiten potentiellen Partner Russlands im
Westen. Als „strategischer Partner“ der globalen
Führungsmacht USA hielt Moskau es lange für unnötig,
Europa als Partner auf Augenhöhe zu betrachten. Strategische
Beziehungen zur Europäischen Union kamen für Russland erst
Ende der 1990er Jahre in den Blick. Russland betrachtete sich damals
politisch als den im Vergleich zur EU stärkeren Partner; die EU
sah es aus wirtschaftlichen Gründen genau umgekehrt. Als Putin
nach der Georgien-Krise 2008 begann, ernsthaft an eine europäische
Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok zu denken, war es
zu spät. Das 1999 begonnene Projekt einer auch
sicherheitspolitischen Integration der Europäischen Union hatte
sich an den inneren Widersprüchen in Europa und dem Widerstand der
NATO gegen eine eigenständigere sicherheitspolitische Rolle
Europas festgefahren. Gleichwohl gilt: Für Moskau ist Europa auf
den meisten Feldern internationaler Kooperation jenseits der
Sicherheitspolitik der wichtigste Partner im Westen.
Über den Gipfel von Wales hinaus
Der NATO-Gipfel in Wales wird zweifellos eine Trendwende markieren. Die
NATO wird Beschlüsse fassen, die -– ohne Russland als
potentiellen Gegner explizit zu nennen – die Aufgabe der
Bündnisverteidigung wieder stärker betonen. Sie wird eine
Initiative zur Stärkung ihrer militärischen
Reaktionsfähigkeit im Krisenfall ergreifen, den östlichen
Bündnispartnern eine vorläufig kontinuierliche Stationierung
kleiner Truppenkontingente als Signal der Solidarität und
Rückversicherung zusagen und erneut betonen, dass ihre Tür
für neue Mitglieder offen bleibt ohne aber einen konkreten
Zeitpunkt für den Beitritt in Aussicht zu stellen. Ähnlich
wie die bisher schon erfolgten militärischen Reaktionen auf die
Krise in der Ukraine werden diese Maßnahmen von eher begrenzter
Natur sein. Weitergehende Wünsche – zum Beispiel eine
permanente Stationierung größerer Kampfverbände, eine
Neuausrichtung der geplanten Raketenabwehr auf potentielle Bedrohungen
aus Russland oder eine Stationierung nuklearer Waffen auf dem
Territorium neuer Mitgliedstaaten – werden nicht erfüllt.
Vorläufig wird sich die NATO weiter an ihre Zusagen aus der
NATO-Russland-Grundlagenakte halten.
Hintergrund dieser Zurückhaltung ist das Fortbestehen der internen
Widersprüche in der Allianz. Die Befürworter einer eher
konfrontativen Politik gegenüber Russland sind zwar aktuell in der
Vorhand, können aber nur durchsetzen, was auch jene
Bündnismitglieder mittragen, die die Tür für eine
künftige Kooperation mit Russland nicht gänzlich zuschlagen
wollen. So wie es in der Vergangenheit oft die Befürworter einer
konfrontativeren Linie waren, die eine weitergehende Kooperation mit
Russland als Minderheit blockieren konnten, so können die
Befürworter eines kooperativen Ansatzes nun allzu scharfe
Reaktionen seitens der NATO blockieren. Wie dieser Kampf letztlich
ausgeht, hängt unter anderem von der künftigen Entwicklung
und der Dauer der Ukraine-Krise ab. Die Übernahme der Krim
dürfte ein fait accompli sein, der irreversibel bleibt. Moskau
kann jedoch kaum ein Interesse haben, sich weitere Teile der Ukraine
einzuverleiben. Ein solcher Schritt, aus der Not geboren und doch
unternommen, hätte zu viele untragbare Konsequenzen. Die
wirtschaftliche Belastung wäre einfach zu groß.
Auch in westlichen Staaten gibt es wirksame Interessen, den Konflikt
mit Russland möglichst schnell zu begrenzen und möglichst zu
beenden. Dazu bedarf es politischer Lösungen, die keine
Konfliktpartei zu einem innenpolitischen Gesichtsverlust zwingen, auch
Putin nicht. Die rasche und kaum Grenzen kennende bisherigen Eskalation
des Konfliktes erschwert es, solche Kompromisse zu finden.
Nichtsdestotrotz enthebt dies niemanden der Notwendigkeit, sie zu
suchen.
Auch wenn Russland derzeit auf Autonomie und Autarkie setzt, kann es
auf diesem Wege seine strukturellen und Modernisierungsprobleme nicht
lösen. Allein eine Neuausrichtung seiner Energieexporte auf
asiatische Kunden würde zunächst Infrastrukturinvestitionen
in mehrstelliger Milliardenhöhe erfordern, die unter den
Bedingungen einer verschärften Konfrontation noch schwerer
aufgebracht werden können als unter normalen Bedingungen.
Ähnlich gilt für Europa: Die Volkswirtschaften in Europa
würden unter den wirtschaftlichen Auswirkungen einer anhaltenden
Konfrontation mit Russland leiden. Die Energie- und Rohstoffversorgung
würden bei einer Umstrukturierung nicht nur teurer, sondern auch
von neuen politischen Risiken und Abhängigkeiten begleitet sein.
Mit der Lieferung von Technologie und landwirtschaftlichen Produkten
nach Russland ließe sich weniger Geld verdienen. Darüber
hinaus müssten beide, Europa und Russland, mehr Geld für ihr
Militär ausgeben, obwohl ihnen insgesamt weniger Mittel zur
Verfügung stehen. Das derzeitige, nicht erreichte Ziel, jedes
NATO-Land solle mindestens zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung
für die Verteidigung aufwenden, ist deshalb ebenso unrealistisch
wie die Zielmarke von drei Prozent während des Kalten Krieges.
Was würde eine solche Neuausrichtung für die NATO selbst
bedeuten? Das Bündnis würde von den USA noch abhängiger
und noch stärker dominiert als es derzeit ist. Das kann auf Dauer
nicht gut gehen, denn eine solche Entwicklung trägt dazu bei, dass
der Weg zu mehr sicherheitspolitischer Zusammenarbeit und Integration
im westlichen Europa blockiert bleibt. Der Westen bliebe also hinter
seinen Möglichkeiten zurück. Mehr noch: Dies träfe
indirekt auch die NATO. Sie würde weiter an
Handlungsfähigkeit verlieren. Das angeblich erfolgreichste
Militärbündnis der Geschichte droht dann wenige Jahrzehnte
nach dem Ende des Kalten Krieges an seiner vorgeblich wichtigsten
Aufgabe zu scheitern: Den Frieden zu erhalten.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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