Tagesspiegel
20. September 2001

Scheinangriff
Die USA erwägen öffentlich, gegen die Verantwortlichen der Terroranschläge Atomwaffen einzusetzen - aber sie werden es wohl nicht tun

Otfried Nassauer

Auf die unsäglichen Terrorangriffe von New York und Washington reagieren führende amerikanische Politiker seit Tagen mit den allerschärfsten Worten: Präsident Bush will den aus Sicht der USA Hauptverdächtigen, Osama bin Laden, jagen, bis er ihn hat, "tot oder lebendig". Er kündigt einen "monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse" an, einen "Kreuzzug" gegen der Terrorismus und seine Unterstützer. Noch weiter gehen andere Regierungsmitglieder. John Bolton, der Abrüstungsbeauftragte des Außenministeriums, bemerkte: "Schurkenstaaten müssen sich bewusst sein, dass sie riskieren, ausgelöscht zu werden, wenn sie die USA oder ihre Verbündeten angreifen."

Die Symbolik der US-Reaktionen reicht von Anspielungen auf Huntington's "Kampf der Kulturen" über fast schon endzeitlich anmutende Sprachbilder aus der religiösen, christlichen Rechten bis hin zu Rückgriffen auf die Vorstellung, das "Recht und Rechtsprechung in die eigene Hand zu nehmen", die auf Traditionen des Wilden Westens zurückzuführen sind. Allen gemeinsam ist, dass sie den Eindruck vermitteln, jetzt sei jedes Mittel recht. Alle Mittel? Auch das ultimative, die Atomwaffe?

Die Frage ist bezeichnend für die von Unsicherheit, Ängsten und Spekulationen gekennzeichnete Situation. Und doch ist die Antwort recht einfach. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es nicht zum Einsatz von Nuklearwaffen kommen. Zwar rät der Volksmund, nie "Nie" zu sagen - aber im konkreten Fall ist nicht zu erwarten, dass die US-Entscheidungsträger einen Nuklearwaffeneinsatz ernsthaft in Erwägung ziehen. Anzunehmen ist eher, dass diese Möglichkeit der Reaktion bereits grundsätzlich oder zumindest vorläufig ausgeschlossen wurde.

Die Nuklearstrategie der USA schließt den Einsatz nuklearer Waffen gegen Terroristen oder Staaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, allerdings nicht prinzipiell aus. Seit Mitte der neunziger Jahre wird diese Möglichkeit in Dienstvorschriften der US-Streitkräfte offengehalten. Die USA verfolgen schon seit geraumer Zeit eine Politik der "absichtlichen Zweideutigkeit", wenn es um die Frage geht, unter welchen Bedingungen ein Einsatz von Nuklearwaffen erfolgen könnte. Diese Politik lässt Washington die Möglichkeit, mit starken Worten öffentlich auf die Möglichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes hinzuweisen oder diesen gar anzudrohen, auch dann, wenn ein solcher Einsatz weder geplant noch eine glaubwürdige militärische Option darstellen würde. Auf diese Weise hofft man, staatliche wie nicht-staatliche Gegner, deren Reaktionen oder Entscheidungen aus US-Sicht irrational sein könnten, mit der Möglichkeit einer aus deren Sicht irrationalen amerikanischen Reaktion zu konfrontieren - also des Einsatzes von Nuklearwaffen. Die erhoffte Wirkung: erneutes Nachdenken, verbesserte Abschreckung.

Der Krieg am Golf zu Beginn der neunziger Jahre zeigt das Muster auf. Obwohl der Einsatz nuklearer Waffen bereits zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt in Washington als unrealistisch verworfen wurde, drohten die USA in ihrer deklaratorischen Politik wiederholt mehr oder minder unverhohlen mit dieser Möglichkeit. Gewiss, neue Umstände - zum Beispiel die Tatsache, dass der Terror das Territorium der USA traf und Tausende US-Bürger starben - könnten neue Entscheidungen hervorgerufen haben. Verteidigungsminister Rumsfeld wollte dieser Tage einen Nuklearwaffeneinsatz nicht prinzipiell ausschließen, zum Beispiel für den Fall, dass den Terrorismus unterstützende Staaten Massenvernichtungswaffen gegen US-Ziele zum Einsatz bringen würden. Diese Äußerung steht in der Tradition der Politik "absichtlicher Zweideutigkeit". Es gibt gute, sachliche Gründe anzunehmen, dass Washington keine Atomwaffen einsetzen wird.

Kleingruppen oder gar einzelne Terroristen mit Nuklearwaffen jagen zu wollen, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit so absurd wie aussichtslos. Hinzu kommt: Der Gegner, der getroffen werden soll, hat kein Territorium, bietet weder "lohnende", noch geeignete Ziele für Nuklearwaffen. Der Schlag und damit der zivile Begleitschaden träfe einen "ersatzweise" angegriffenen souveränen Staat. Das ließe sich kaum rechtfertigen, würde weltweite Proteste hervorrufen. Der Einsatz würde alle politischen Bemühungen der USA um Unterstützer in der arabischen und islamischen Welt zunichte machen.

Gleichwohl kann das Risiko einer nuklearen Eskalation nicht ganz ausgeschlossen werden. Es resultiert aber aus anderer Quelle. Die Nuklearmacht Pakistan steht angesichts der US-Planungen für militärische Schläge gegen Afghanistan vor einer innenpolitischen Zerreißprobe. Ob die pakistanische Militärregierung, die den USA Unterstützung zugesagt hat, diese überlebt, ist unsicher. Sie könnte die Kontrolle über ihre wenigen, technisch schlecht gesicherten Nuklearwaffen verlieren.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).