Militärmacht Deutschland?
von Otfried Nassauer
Noch heute trauert so mancher dem früheren Verteidigungsminister Peter Struck nach.
Insbesondere seiner Fähigkeit, Klartext zu reden. Wo andere sich mühen, immer
"politisch korrekt" zu formulieren, kommt er auf den Punkt. Das brachte
Anerkennung - hausintern. Es verleitete ihn aber auch zu dem strittigsten Satz seiner
Laufbahn: "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt." Sechs Worte,
verbunden zu einem Satz, der aktuelle Kernfragen deutscher Militär- und
Sicherheitspolitik in sich bündelt und bemerkenswert symbol- sowie gefahrenträchtig ist.
Soll die Bundeswehr jenseits der durch das Grundgesetz festgelegten Funktionen der
Landes- und Bündnisverteidigung zum Einsatz kommen? Wenn ja, bei welchen, warum und wo?
Unter welchen Voraussetzungen soll das geschehen und vielleicht wichtiger noch, unter
welchen nicht? Darf und soll die Bundeswehr Aufgaben übernehmen, die an sie herangetragen
werden, nur weil multinationale Institutionen wie NATO und EU, in denen Deutschland
mitwirkt, ihre Aufgabenfelder erweitern? Welche Aufgaben haben Sicherheits-, Militär- und
Verteidigungspolitik in Zeiten, in denen eine akute oder gravierende Gefährdung der
territorialen Integrität des deutschen Staatsgebietes nicht gegeben ist und eine akute
militärische Existenz- oder Überlebensgefährdung des deutschen Staates sogar
herbeigelogen werden müsste? Wie verändert sich die Rolle und Bedeutung des
Militärischen angesichts sich verändernder Risiken und was bedeutet das für die
Sicherheitspolitik? Welche Strukturen und Fähigkeiten benötigt die Bundeswehr, um ihre
Aufgaben künftig zu erfüllen? Wo müssen Fähigkeiten neu geschaffen werden? Auf welche
Fähigkeiten sollte bewusst verzichtet werden? Welche nicht-militärischen Fähigkeiten
gewinnen an Bedeutung für die Sicherheitspolitik? In welchem Verhältnis stehen
militärische und nichtmilitärische Fähigkeiten künftig zueinander?
Fragen über Fragen, die bis heute durch die deutsche Politik meist keiner
grundsätzlichen Klärung zugeführt worden sind. Auch nicht im jüngsten Weißbuch zur
Sicherheitspolitik, das die Bundesregierung 2006 veröffentlichte. Gegeben wurden in den
vergangenen Jahren unter dem Druck der Ereignisse und äußeren Anforderungen immer wieder
punktuelle, tagespolitisch motivierte Antworten. Oft waren diese umstritten und
beinhalteten das Risiko, zu Präzedenzfällen zu werden.
Im Widerspruch zum Völkerrecht
Ein makaberes Beispiel ist der militärisch ausgetragene Konflikt mit Serbien um das
Kosovo: Es war der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr. Es war ein Krieg, für den es kein
Mandat der Vereinten Nationen gab und der somit im Kern völkerrechtswidrig war. Es war
ein Waffengang, auf den die USA drängten und der demonstrieren sollte, dass die NATO ein
militärisch handlungsfähiges Bündnis ist. Zugleich lag der Einsatz außerhalb des
NATO-Gebietes. Die gerade erst ins Amt gekommene rot-grüne Bundesregierung begründete
ihn mit teils stark übertrieben vorgetragenen Argumenten als aus humanitären,
menschenrechtlichen Gründen unausweichlich. Und doch zeigte sich schon bald nach dem
Krieg, dass die Bundesregierung sich der mangelnden Legitimation und der potentiell
weitreichenden Wirkungen als Präzedenzfall indirekt bewusst war: Das Mandat der Vereinten
Nationen zu einer Friedensmission im Kosovo wurde als ex post Legitimation für den Krieg
der NATO gelesen. Zugleich argumentierte man, der Kosovo-Krieg dürfe keinesfalls ein
Präzedenzfall werden.
Ein weiteres Beispiel ist der Bundeswehreinsatz am Hindukusch. Auch hier beteiligt sich
die Bundeswehr, weil die USA und die NATO es als Zeichen der Solidarität betrachten und
wollen. Deutschland nimmt am Weltkrieg gegen den Terror im Rahmen der Operation Enduring
Freedom teil und an der von UNO mandatierten Stabilisierungs- und Wiederaufbaumission
ISAF. Auch wenn Berlin weiter darauf achtet, dass beide Missionen formal getrennt bleiben,
so werden sie doch immer ähnlicher, seit ISAF und die NATO die Verantwortung für ganz
Afghanistan übernommen haben. Die ISAF-Mission wird immer stärker in die Bekämpfung der
Taliban und Al Kaidas einbezogen. Je länger und je intensiver dies der Fall ist, desto
zweifelhafter werden ihre Erfolgsaussichten bei Stabilisierungs- und
Wiederaufbaumaßnahmen. Die Eskalationsrisiken wachsen und mit ihnen die Zweifel an der
politischen Weisheit der deutschen Beteiligung. Hinzu kommt, dass in Afghanistan wie im
Kosovo kein Ende der Wiederaufbaumissionen in Sicht kommen kann, da es beiden Einsätzen
(wie auch bei weiteren westlichen Friedensmissionen) nicht gelang, Grundlagen für eine
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu legen auch nicht da, wo die Deutschland
die primäre Verantwortung übernahm. Die Missionen folgen der Maxime "Stabilität
ist Voraussetzung für Entwicklung", unterschlagen dass Entwicklung auch eine
Voraussetzung von Stabilität sein kann und sind schon aus diesem Grunde militärisch
dominiert. Die Erfolgsbilanz westlicher Wiederaufbaumissionen ist nicht zuletzt deshalb
vielleicht noch durchwachsen zu nennen, aber sicher kein Grund zum Feiern.
Kooperativer Multilateralismus und Selbstbeschränkung
Deutschlands als militärische Macht? Angesichts zweier Weltkriege, die von deutschem
Boden ausgingen, lässt sich über dieses Thema begründet streiten. Streiten kann man um,
gegen oder für etwas. Dieser Beitrag streitet für etwas: Für die Einbindung deutscher
Militärmacht in einen gestaltenden, kooperativen Multilateralismus und in multinationale
Strukturen und für eine freiwillige Selbstbeschränkung deutscher Militärmacht. Und für
die Einbindung deutscher Militärpolitik in eine erweiterte "Sicherheitspolitik aus
einem Guss", einen ressortübergreifenden Ansatz erweiterter Sicherheit. In einem
solchen Ansatz sind die militärischen Optionen nur eines von mehreren Handlungsfeldern,
dessen Rahmenbedingungen und Grenzen es zudem zu beschreiben gilt. Diese Aufgabe besteht
für die deutsche Sicherheitspolitik, aber auch im Rahmen der sich entwickelnden
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), bei der die Bundesrepublik als
größter und wirtschaftlich stärkster Mitgliedstaat der EU ein gewichtiges Wörtchen
mitredet, also wenn es darum geht, über die Zukunft der "Zivilmacht Europa" als
auch militärische befähigte Macht zu entscheiden.
In einer ersten Betrachtung skizziert dieser Artikel deshalb die veränderten
Rahmenbedingungen für Sicherheitspolitik. Welche Risiken prägen künftig die
Sicherheitspolitik und welchen Charakter haben diese Risiken? Welche Optionen für den
Umgang mit diesen Risiken gibt es und welche Alternativen zeigen sich? Welche Fragen
müssen gestellt und diskutiert werden, wenn die künftige Rolle des Militärischen für
die Sicherheitspolitik Deutschlands und Europas debattiert werden soll? Wie könnten
grundsätzliche, nicht tagespolitische Antworten auf diese Fragen aussehen? Ich werde auf
diese Aspekte eine konzeptionelle Antwort geben; Antworten anderer Autoren, auch auf meine
Positionen, sollen in den nächsten Ausgaben der WeltTrends publiziert werden.
Sicherheitspolitik - Rahmenbedingungen und Risiken
Der Beginn des 21.Jahrhunderts ist von einem gemeinhin als Globalisierung bezeichneten,
rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet, der von etlichen
sicherheitspolitisch relevanten Deregulierungsprozessen begleitet wird. Veränderungen
finden oft unter Bedingungen statt, in denen das Recht des Stärkeren Vorrang vor der
Stärkung des Rechts und seiner Wirksamkeit hat. Die Globalisierung der Wirtschaftprozesse
verstärkt durch Deregulierung vielfach soziale, wirtschaftliche und politische
Verwerfungen. Als Konsequenz der ökonomischen Deregulierung entwickeln sich rasch
wachsende Konfliktpotentiale. Diese können gewaltsam ausgetragen werden, wenn es nicht
gelingt, sie vorbeugend politisch zu regulieren.
Daneben ist eine sicherheitspolitische Deregulierung zu beobachten. Am
deutlichsten wird diese bei Staaten, die von Zerfallsprozessen gekennzeichnet sind. Die
private Kontrolle über Gewaltmittel gewinnt, das staatliche Gewaltmonopol verliert
dagegen an Bedeutung. Sicherheit wird vom öffentlichen Gut, das der Staat garantiert,
immer häufiger zur Ware, die teuer erworben werden muss. Der durch Globalisierung,
Liberalisierung und Deregulierung finanziell geschwächte Staat bekommt auch im Blick auf
sein sicherheitspolitisches Handlungsinstrumentarium, also den Kernbereich staatlicher
Souveränität, zunehmend "private" Konkurrenz - im Bereich der inneren wie der
äußeren Sicherheit. Unterschiedlichste nichtstaatliche Akteure treten in Erscheinung:
Akteure, die Sicherheit als Ware anbieten, wie z.B. Sicherheitsfirmen oder private
Militärdienstleister, örtliche Akteure der Gewaltökonomie wie z.B. Privatarmeen oder
bewaffnete Strukturen von Clans und örtlichen Machthabern, oder auch transnational
tätige Akteure wie z.B. international agierende Terroristen, Söldner oder Akteure der
Organisierten Kriminalität. Der Prozess der sicherheitspolitischen Deregulierung ist
nicht auf schwache Ökonomien beschränkt, er erfasst diese nur leichter und stärker. Das
immanente Krisen- und Kriegsrisiko wird deshalb dort schneller und in seiner ganzen
Brutalität sichtbar.
Die Deregulierung nationaler gesellschaftlicher Ordnungen "von unten", z.B.
durch den Zerfall schwacher Ordnungen, ist zugleich nur eine Seite der Medaille. Zunehmend
wird sie durch eine sicherheitspolitische Deregulierung "von oben", also eine
bewusste Schwächung von internationalen Ordnungen durch einzelne, starke Akteure
ergänzt. In den vergangenen Jahren verfolgten vor allem die USA eine solche Deregulierung
der internationalen Beziehungen. Sie fand ihren Ausdruck z.B. in der
Entrechtlichung internationaler Beziehungen (Kündigung von Rüstungskontrollverträgen,
Nichteinhaltung internationaler Vereinbarungen und völkerrechtlicher Standards) oder in
der Entwertung internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen und NATO, die
ihrer Funktion als Orte internationaler Entscheidungsfindung beraubt wurden. Deregulierung
von oben setzt darauf, mittels des Rechtes des Stärkeren, neue Ordnungen, Normen und
Regelsysteme besser durchsetzen zu können als mittels einer Stärkung des Rechts. Dieser
Weg blieb den Beweis seiner Wirksamkeit bislang schuldig. Dafür stehen der Irak ebenso
wie der "Globale Krieg gegen den Terror".
Schließlich ist zu fragen, ob nicht auch bereits ein Prozess der Deregulierung der
natürlichen Lebensbedingungen, der ökologischen Deregulierung, begonnen hat, der
seinen Ausdruck in sicherheitspolitisch relevanten Debatten, wie jenen über Klimawandel
und Klimakatastrophe oder die Zukunft der globalen Trinkwasser- oder Energieversorgung
findet. Auch hier schlummern erhebliche Konfliktpotentiale.
Für Deutschland und Europa bedeuten diese Entwicklungen ein radikal verändertes
sicherheitspolitisches Risikoumfeld. Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler
Territorien gegen einen staatlich geführten, militärischen Angriff von außen sind eher
unwahrscheinlich geworden. Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht heute offensichtlich
ein solcher Angriff durch einen Staat oder eine Staatenkoalition, der erfolgversprechend
sein könnte. Selbst früher militärisch potente potentielle Kontrahenten wie Russland
haben heute ein überwiegendes, genuines Eigeninteresse an sicherheitspolitischer
Kooperation, da sie von Kooperation profitieren, unter Konkurrenzbedingungen aber viel zu
verlieren hätten.
Deshalb hat sich die Debatte über die Zukunftsaufgaben von Militär- und
Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges zunehmend auf sicherheitspolitische
Risiken anderer Art konzentriert. Neben Regionalkonflikten mit potentiellen Rückwirkungen
auf Europa wird vier Risikokategorien und möglichen Kombinationen aus ihnen besondere
Aufmerksamkeit gewidmet. Dies sind
- erstens Risiken, die sich im weitesten Sinne aus Staatszerfall und der
teilweisen Aneignung von Funktionen des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche
Akteure ergeben können;
- zweitens Risiken, die sich aus dem Handeln nichtstaatlicher, transnational
tätiger, bewaffneter Akteure, wie z.B. Terroristen, religiöser Extremisten oder auch
transnationaler wirtschaftlicher Akteure wie der Organisierten Kriminalität und
transnationaler Konzerne ergeben können;
- drittens Risiken, die aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an
staatliche oder nicht-staatliche Akteure erwachsen können, da diesen Waffen ein
außergewöhnlich großes Schadenspotential zu eigen ist;
- viertens deutlich seltener genannt - Risiken, die sich aus dem globalen
Klimawandel (und damit auch aus der Energiepolitik), aus Ressourcenkonflikten, z.B. um
Trinkwasser, aus der wachsenden Bedeutung von Schattenökonomien oder künftigen
Migrationsströmen ergeben können.
Diese sicherheitspolitischen Risiken wurden hinsichtlich ihres Potentials, eine
"akute" Bedrohung darzustellen, sehr unterschiedlich bewertet. In den USA wird
den Risiken "Terrorismus" und "Proliferation" bzw. der Kombination aus
beiden eine Bedrohlichkeit zugeschrieben, die der Bedrohung staatlicher Existenz während
des Kalten Krieges ähnelt. Deshalb kommt ihnen allerhöchste Priorität zu.
Militärisches Handeln ob reaktiv oder präventiv wird damit zu einem
unausweichlich erscheinenden dringlichen Erfordernis.
Eine andere Sicht betrachtete diese Risiken ähnlich jenen Restrisiken, die
industrialisierten Gesellschaften als Verwundbarkeit immanent sind. Das Kernkraftwerk und
der GAU, der trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht völlig ausgeschlossen werden kann,
stehen Pate. Diese Bewertung hält es für angebracht, sinnvolle Vorsichtsmaßnahmen zu
ergreifen, aber für falsch, alles daran zu setzen, Risiken militärisch zu eliminieren,
die man nicht militärisch eliminieren kann.
Übertrieb die erste Risikoperzeption, so untertrieb die zweite. Zwar können die
genannten Risiken die staatliche Existenz westlicher Industrienationen nicht unmittelbar
gefährden. Sie können aber die staatliche Handlungsfreiheit, die wirtschaftliche
Entwicklungsfähigkeit und die Fähigkeit, Weltordnung im Sinne einer Friedensordnung zu
gestalten, deutlich einschränken. Wenn zudem ein starker Akteur wie die USA auf Basis der
ersten Sichtweise massiv militärisch agiert, so kann er zugleich einen Beitrag dazu
leisten, dass die Risiken rasch wachsen und seine Sichtweise des Konfliktes als
existentielle Bedrohung auf dem Wege einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung an
Bedeutung gewinnt. Das Vorgehen der USA im Nahen und Mittleren Osten sowie weltweit
im Rahmen des Krieges gegen den Terror weist diese Tendenz nur zu deutlich auf und
deutet zugleich an, welche weiteren Eskalationsrisiken damit verbunden sind, wenn von der
Notwendigkeit einer "vierten Generation der Kriegführung" oder gar von einem
IV. Weltkrieg gesprochen wird, der gegen Terroristen und Schurkenstaaten zu führen und
gewinnen sei. Geht diese Entwicklung ungebrochen weiter, so kann sie sich zu einer
eigenständigen Risikokategorie oder gar zu einer Bedrohung neben den bereits genannten
entwickeln.
Im Kern aber stellen die o.g. Hauptrisiken keine klassische Kriegsherausforderung dar,
wohl aber Formen einer potentiell gewaltförmigen und oft langwierigen Auseinandersetzung
zwischen ungleich gerüsteten Gegnern. Gemeinsam ist ihnen, dass
- kein Staat alleine und mit nationalen Mitteln für seine Bürger vollständige
Sicherheit gegen diese Risiken gewährleisten kann;
- diesen Risiken aufgrund ihres transnationalen Charakters nicht ausschließlich mit
Maßnahmen innerhalb eines einzelnen nationalen Territoriums begegnet werden kann;
- hundertprozentige Sicherheit weder möglich noch wegen der
demokratie-gefährdenden, innenpolitisch-autoritären Nebeneffekte für einen
demokratischen Rechtsstaat wirklich erstrebenswert sein kann;
- diese Risiken nur eingehegt und eingedämmt, kaum aber eliminiert werden können;
- militärische Mittel nur in sehr begrenztem Maße und schon gar nicht alleine in der
Lage sind, diese Risiken einzudämmen;
- etliche dieser Risiken Fragen der inneren und der äußeren Sicherheit in neuer Weise
mit einander verbinden;
- bestmögliche Sicherheit in multilateraler Kooperation auf Basis internationaler
Rechtsgrundlagen und mittels eines ressortübergreifenden Ansatzes einer
Sicherheitspolitik aus einem Guss, erzielt werden kann und
- diesen Risiken am besten präventiv und nicht reaktiv begegnet werden kann.
In den westlichen Gesellschaften wächst derzeit das Bewusstsein der eigenen
strukturellen Verwundbarkeit angesichts dieser asymmetrischer Risiken und Gewaltformen.
Ihnen wird deutlich, dass die globalen Veränderungen, von denen sie wirtschaftlich und
politisch profitieren, diese Risiken mit verursachen bzw. sogar verstärken. Deutlich
wird, dass sie multinationale oder sogar globale Antworten zur Sicherheitsvorsorge
erfordern, Antworten die nur erfolgversprechend entwickelt und umgesetzt werden können,
wenn unterschiedlichste staatliche Handlungs- und Steuerungsinstrumente der
Sicherheitspolitik verzahnt und integriert werden und wenn neue Formen zwischenstaatlicher
und multilateraler Kooperation eingegangen bzw. vorhandene Kooperationsformen und
institutionen gestärkt werden. Diese Herausforderungen können nur als
Querschnittsaufgabe und im Rahmen einer Sicherheitspolitik bewältigt werden, die dadurch
gekennzeichnet ist, dass Konflikten vorrangig präventiv und mit einem wirksamen Mix aus
allen außen- und sicherheitspolitischen Wirkinstrumenten eines Staates begegnet wird.
Diese finden sich in der Außenpolitik, in der Wirtschaft- und Außenhandelspolitik, in
der Entwicklungspolitik und in der Rüstungskontroll-, Sicherheits- und Militärpolitik.
Letzterer kommt dabei in den allermeisten Fällen die Rolle einer Rückversicherung gegen
Erpressungsversuche und damit eines letzten Mittels zu, weil ihr präventiver oder zu
frühzeitiger Einsatz die Wirksamkeit anderer Instrumente genauso oft in Frage stellen
würde.
Die politische Aufgabe, Weltordnung zu gestalten kann zugleich nur mithilfe eines
möglichst effizienten Multilateralismus und kooperativer Multipolarität
erfolgversprechend angegangen werden. Internationale Institutionen müssen an neue
Aufgabenstellungen angepasst und deutlich in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt werden.
Dies aber geht nur, wenn deren Mitglieder diesen Prozess befördern und aktiv im Rahmen
ihrer nationalen Politik mitwirken, zu einem effizienten Multilateralismus beizutragen.
Auch eine Stärkung kooperativer Multipolarität kann einen wesentlichen Beitrag leisten.
Sie ist im globalen und oft sogar im regionalen Maßstab ohne die USA, Europa, Japan,
Russland, Indien, China oder beispielsweise Brasilien nicht denkbar.
Offene Fragen und notwendige Diskussionspunkte
Der Blick auf die Risiken und das sicherheitspolitische Umfeld lässt zwei
wahrscheinliche Haupteinsatzformen für die Bundeswehr erkennen. Auf diese wollen wir uns
hier konzentrieren. Es sind erstens Einsätze, die man als Stabilisierungsmissionen
bezeichnen kann und zweitens Einsätze, die einen stärker interventionistischen Charakter
haben. Sie seien Eingreifeinsätze genannt.
Mit Stabilisierungsmissionen können z.B. ein Waffenstillstand überwacht, ehemalige
Kriegesparteien getrennt, der Ausbruch von Kämpfen verhindert, der Wiederaufbau nach
einem Krieg oder Wahlen abgesichert werden. Sie können zudem einen präventiven Charakter
haben, z.B. den Ausbruch von Kampfhandlungen verhindern. In den meisten Fällen werden sie
auf Basis eines UNO-Mandates erfolgen. Oft dauern sie relativ lange. Mit einem niedrigen
oder mittleren Gewaltniveau ist zu rechnen.
Eingreifeinsätze sind oft Kampfeinsätze und können der militärischen Erzwingung
eines Waffenstillstandes und seiner Einhaltung dienen, also einen Stabilisierungseinsatz
vorbereiten. Sie sind meist von einem mittleren oder hohen Gewaltniveau gekennzeichnet, in
der Regel kürzer als Stabilisierungsmissionen und so die bisherige Erfahrung
recht häufig nicht auf ein Mandat der Vereinten Nationen, sondern durch
verschiedene Formen der Selbstmandatierung der intervenierenden Parteien gegründet. Diese
Vorgehensweise eröffnet die Möglichkeit, Eingreifeinsätze durchzuführen, die ihre
Begründung in den Interessen der intervenierenden Staaten finden, nicht aber in einer
völkerrechtlichen Legitimation.
Während in den Jahren unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges Bundwehreinsätze in
der Regel in Folge von Anforderungen der Vereinten Nationen erfolgten und somit auch dazu
dienten, die Handlungsfähigkeit der VN zu stärken, erfolgen sie in den letzten Jahren
immer häufiger auf Anfrage der NATO und zunehmend auch der EU. Während die Anfragen der
EU derzeit im Wesentlichen noch Stabilisierungsmissionen betreffen, weisen die Anfragen
aus der NATO immer wieder in eine andere Richtung: Die Bundeswehr wird zu Entsatz- und
Ergänzungsleistungen aufgefordert, die die Politik der USA, des größten NATO-Partners,
unterstützen und absichern sollen. Gerade auf solche Anforderungen werden oft mittels
tagespolitischer Flexibilität Antworten entworfen, die offensichtlich akuten
Drucksituationen entspringen als einer längerfristigen, strategischen Ausrichtung und
Planung deutscher Sicherheitspolitik. Doch ist das klug? Ist es durchhaltbar? Führt es in
die richtige Richtung?
Die Beteiligung der Bundeswehr an solchen Missionen wirft grundsätzliche Fragen für
die weitere Diskussion auf, die mehr als eine tagespolitische Antwort verdienen. Einige
dieser Fragen sollen zum Abschluss dieses Beitrages als Einstieg für die Diskussion
benannt werden.
- Bedarf es einer neuen, grundsätzlichen Klärung der Frage, welche Rechtsgrundlagen für
einen Einsatz der Bundeswehr gegeben sein müssen bzw. sollten?
Soll die Bundeswehr nur eingesetzt werden, wenn eine völkerrechtlich eindeutige
Rechtsgrundlage in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen gegeben ist oder
reicht in Fällen, in denen ein Beschluss z.B. durch eine Vetomacht blockiert wird
auch eine multinationale Selbstmandatierung aus, die sich im Einklang mit den
Prinzipien der Charta befindet oder dies für sich behauptet?
Sollten die Beschlüsse der NATO, den NATO-Vertrag so auszulegen, dass er vielfältige
Operationen überall auf der Welt erlaubt, ein Anlass sein, zum einen zu überprüfen zu
lassen, ob diese Interpretation mit dem NATO-Vertrag übereinstimmt und zum anderen eine
verfassungsrechtliche Überprüfung herbeizuführen, ob die NATO auch heute noch die
Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr erfüllt, die das Bundesverfassungsgericht
1994 aufgestellt hat?
Reicht das Parlamentsbeteiligungsgesetz zur Beachtung des Parlamentsvorbehaltes aus oder
sollte dieses Gesetz entweder verschärft werden, um z.B. Einsätze des KSKs besser
kontrollieren zu können oder entschärft werden, um die Handlungsfreiheit der Exekutive
zu vergrößern, wie dies in jüngster Zeit immer wieder vorgeschlagen wird, um auf
veränderte Anforderungen z.B. der NATO besser reagieren zu können? Ergänzend: Wäre es
sinnvoll, im Parlamentsbeteiligungsgesetz mit einem Quorum zu arbeiten, um
Bundeswehreinsätze auf eine möglichst breite Basis zu stellen? Sollten die
Kontrollrechte des Bundestages jenseits des Parlamentsbeteiligungsgesetzes gestärkt
werden?
- Welche Verpflichtungen legitimieren einen Bundeswehreinsatz im Ausland politisch?
Ist es im Interesse der Bundesrepublik, die Vereinten Nationen und deren
Regionalorganisationen zu stärken? Wie stark ist das Interesse der Bundesrepublik daran,
die Europäische Union auch militärisch handlungsfähig zu machen und zu welchen
Handlungen sollte sie befähigt werden? Wie stark ist das Interesse Deutschlands daran,
bei Auslandseinsätzen der NATO mitzuwirken oder unter bestimmten Voraussetzungen
mitwirken zu können? Muss Deutschland mitwirken können, um mitentscheiden zu können?
Ist diese Frage unterschiedlich zu beantworten, wenn die NATO Ort der kollektiven
Konsultation oder Ort der kollektiven Entscheidungsfindung ist?
- Welche sachlichen Kriterien sollten als Voraussetzung für einen Bundeswehreinsatz im
Ausland erfüllt sein? Ist eine eindeutige Benennung des Auftrags, des Ziels, der
einzusetzenden Mittel und einer Exit-Strategie (auch für den Fall des Scheiterns)
wünschenswert oder sogar zwingend?
- Welche Auswirkungen hat das radikal veränderte sicherheitspolitische Umfeld der
Gegenwart für die Bedeutung des militärischen Faktors und die wünschenswerte
militärische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik? Verliert der militärische Faktor an
Bedeutung und sollte er deshalb auch mit relativ geringeren Ressourcen ausgestattet
werden? In welchem Maße sollte die Bundesrepublik neben ihren präsenten militärischen
Fähigkeiten permanent präsente nicht-militärische Kapazitäten des Krisenmanagements
aufbauen und in welchen Bereichen sollte dies ggf. vorrangig geschehen? Wie kann
sichergestellt werden, dass nicht-militärische und militärische Fähigkeiten
Deutschlands (oder der ESVP) im Mix und so effizient wie möglich in einer Krise zum
Einsatz gebracht werden?
Ergeben sich analoge Fragestellungen hinsichtlich der Prioritäten im Blick auf die
Industriepolitik? Um die Phantasie anzuregen: Können Investitionen in erneuerbare
Energien und energiesparende Technologien, die Deutschland unabhängiger von Gas und Öl
machen, heute möglicherweise einen größeren Beitrag für die Sicherheit Deutschlands
als die Aufrechterhaltung einer wehrtechnischen Kernkompetenz wie z.B. zum Bau von
Kampfpanzern? Eine erste Vorlage ist unterbreitet sie ist sicher weder vollständig
noch perfekt. Wäre sie es, gäbe es einen kaum den Bedarf, zu debattieren und zu
streiten.

ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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