Y. - Magazin
Oktober 2002

 

NATO am Scheideweg

  Otfried Nassauer

Im November entscheidet das Nordatlantische Bündnis über die zweite Erweiterungsrunde. Auch ein Konzept gegen die terroristische Bedrohung steht an. Otfried Nassauer schildert seine Erwartungen.


Gipfeltreffen


Große Ereignisse werfen lange Schatten voraus. So auch der Gipfel der NATO am 21. und 22. November im vom Hochwasser geschädigten Prag. Erwartet wird ein historisches Ereignis. Schon die Ortswahl ist Symbol. Der Gipfel in einem neuen Mitgliedsstaat soll erneut weitere Staaten in die NATO einladen.
 
Doch ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA ist es keineswegs mehr ausgemacht, dass die Erweiterung im Zentrum des Gipfels stehen wird. Die Terrorangriffe aber auch die Entscheidung der USA, militärische Antworten fast ohne die Allianz zu planen haben das Bündnis in eine Sinnkrise gestürzt. Generalsekretär Lord Robertson selbst lieferte im Frühjahr einen Hinweis, als er die NATO mit Blick auf ihre Fähigkeiten vor der Wahl zwischen Modernisierung und Marginalisierung sah.
 
Die erneute Erweiterung der NATO ist kaum umstritten. Wahrscheinlich werden die Baltischen Staaten, die Slowakei, Slowenien, Rumänien und Bulgarien eingeladen. Dabei kommen vor allem Rumänien und Bulgarien strategische Bedeutung zu. Denn das Signal für den Balkan lautet: Die Stabilisierung Südosteuropas ist Gemeinschaftsaufgabe. Zugleich verbessern sich Möglichkeiten, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten. Das zu erwartende Votum für eine Erweiterung um die sieben realistischen Aspiranten hat Ursachen. Hier spiegelt sich eine in dreierlei Hinsicht veränderte Haltung Washingtons zur NATO. Zum einen spielt die geografische Erweiterung der militärischen Beistandspflicht heute eine viel geringere Rolle als bei der ersten Erweiterung. Das Risiko eines klassischen Krieges ist weiter gesunken. Zum Zweiten sehen die USA die Aufgabe der NATO in Europa zunehmend als stabilisierend. Die NATO sichere die endgültige Integration Mittel- und Osteuropas in die westlichen Strukturen ab. Die militärische Aufgabe in Europa sei primär, ein Wiederaufflammen großer Konflikte auf dem Balkan zu unterbinden. Und schließlich: Erfolge die Aufnahme aller sieben Staaten auf einen Streich, so sei klar, dass auf absehbare Zeit keine für das Verhältnis zu Russland politisch schwierige Erweiterung des Bündnisses mehr ansteht. Dies enthebe die NATO als Ganzes und deren interessierte Mitgliedstaaten der Notwendigkeit, in naher Zukunft erneut über eine kompensatorische Vertiefung der Zu­sammenarbeit mit Russ­­land nachzudenken. Zwei Mal ging der Aufnahme neuer Staaten eine Initiative zur Vertrauensbildung gegenüber Russland voraus. Als nächster Schritt so die teils ernste, teils gejuxte Begründung launiger Beobachter bleibe ja nur, Russland die Vollmitgliedschaft zu offerieren. Doch damit lasse man sich besser noch viel Zeit.
 
Strittiger ist das zweite wichtige Gipfelthema: die künftigen Aufgaben. Die NATO befindet sich im Kampf ums politische Überleben. Obwohl sie nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 den Bündnisfall ausrief, forderte Washington nur eher symbolische militärische Beiträge und vermied es, die NATO in die Entscheidung über militärische Reaktionen einzubeziehen. Die NATO und die Mitgliedstaaten, die Streitkräfte zur Unterstützung bereitstellen, werden informiert und gegebenenfalls konsultiert. Auf Mitwirkung an politisch-strategischen Entscheidungen haben sie keinen Anspruch. Die Mitsprache bleibt auf operative Entscheidungsbefugnisse wie über den AWACS-Einsatz in den USA beschränkt.


Defensive Intervention


Mit aller Macht versucht Lord Robertson, diesem Relevanzverlust entgegenzusteuern. Die NATO, so sein Credo, müsse die Terrorismusbekämpfung mit ins Zentrum ihrer Aktivitäten holen. Auch der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen komme wachsende Bedeutung zu. Etliches sei schon erreicht. So habe das Bündnis endlich die sterile Debatte um Out-of-Area-Einsätze zu den Akten gelegt und sich dazu bekannt, Einsätze nach Erfordernis und wo nötig durchzuführen . Mithin: weltweit. Die NATO könne jetzt eine führende Rolle bei der Bekämpfung des Terrorismus übernehmen, sagte Robertson im Juni vor dem American Enterprise Institute in Washington, und ihre militärischen Fähigkeiten anderen internationalen Organisationen und Koalitionen von Fall zu Fall zur Verfügung stellen. Der NATO-Gipfel in Prag soll ein vom Militärausschuss erarbeitetes Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus verabschieden. Ein neues strategisches Konzept ist dagegen nicht geplant. Die neue Gewichtung der Aufgaben wird sich wohl in einer Gipfelerklärung finden.
 
Das wird nicht einfach. Die USA haben in den vergangenen Monaten ihre nationale Strategie deutlich verändert. Sie schließen es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht mehr aus, selbst anzugreifen, bevor sie angegriffen werden können. Dafür stehen die Begriffe pre-emptive strikes (im Deutschen als Präventiv-Schläge bezeichnet) und defensive Intervention im Sinne vorbeugender Selbstverteidigung. Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird bei solchen Einsätzen, die sich gegen staatliche wie nicht-staatliche Akteure richten können, nicht ausgeschlossen. Damit gerät die NATO in ein Dilemma. Würde sie ihre Strategie anpassen, so bekäme die NATO Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität ihrer Planungen, müssten diese je umgesetzt werden. Weder präventive Angriffe noch der in der nationalen Strategie der USA offen gehaltene Einsatz nuklearer Waffen in einem solchen Kontext wäre völkerrechtlich abgedeckt. Und was, wenn gar Forderungen laut würden, die europäischen NATO-Staaten sollten über die nukleare Teilhabe an solchen Einsätzen mitwirken? Die NATO liefe Gefahr, aktiv das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu schwächen und an der Deregulierung der internationalen Beziehungen mitzuwirken. Doch auch die Alternative kann nicht schmecken: Wie soll die NATO ihrem stärksten Mitglied klarmachen, dass in der Allianz andere Regeln gelten? Ein kaum lösbares Dilemma, dem die Allianz nur mit Formelkompromissen oder selbstauferlegten Denkverboten vorerst entkommen kann. In den öffentlichen Gipfeldokumenten werden sich solch heikle Fragen und die erzielten (Formel-)Kompromisse kaum widerspiegeln. Eher schon in vertraulichen Papieren wie denen des Militärausschusses. Mithin: Das Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus verdient höchstes politisches Augenmerk.
 
Anpassen will der Gipfel auch die NATO-Initiative zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten vor allem der europäischen Bündnispartner. Diese, als DCI bekannte Initiative, soll nun neben Fähigkeiten für das Krisenmanagement auch solche fördern, die zur Bekämpfung des Terrorismus und der Massenvernichtungswaffen relevant sind. Zugleich soll das Vorhaben gestrafft, auf weniger, aber wichtige Felder beschränkt und im Hinblick auf die Mitglieder verpflichtender gemacht werden. Schon die neuen Streitkräfteziele im Juni wiesen in diese Richtung.

Angesichts der großen Steigerung bei den Militärausgaben Washingtons fürchtet der Rest der NATO, mittelfristig seine technische Fähigkeit zum Zusammenwirken mit den US-Streitkräften einzubüßen und deshalb weiter an Bedeutung zu verlieren. Die europäischen Staaten sehen sich gedrängt, mehr Geld als mit Blick auf die Maastricht-Kriterien möglich auszugeben. Zugleich schlagen sie sich mit dem Vorwurf herum, ihr Geld nicht effizient auszugeben. Schlanker, funktions- und handlungsfähiger soll die größere NATO werden. Der Gipfel soll Vorgaben für eine neue, effizientere Arbeitsstruktur des Bündnisses und für eine neue Kommandostruktur beschließen. Vor allem Letzteres ist eine heikle Aufgabe. Geht es doch für jeden NATO-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Militärausschuss die Sisyphos-Aufgabe lösen, eine endgültige Entscheidungsgrundlage vorzubereiten. Darum ist er kaum zu beneiden, denn Ungemach droht. Es kommt aus zwei Richtungen. Bei der Reform der Kommandostrukturen könnten die künftigen NATO-Mitglieder Anspruch auf Berücksichtigung erheben. Dies wirkt gegen das Ziel der Straffung. Zum anderen hat die Reform der nationalen Kommando-Struktur der USA in Brüssel deutliche Besorgnis ausgelöst. Die NATO soll demnach ihren wichtigsten Stab in den USA, SACLANT, endgültig aufgeben. Ein Ausgleich ist geplant. SACLANT ist dem NATO-Oberbefehlshaber SACEUR gleichgestellt, befehligt die Seestreitkräfte im Atlantik und im Krieg auch die assignierten strategischen Nuklear-Uboote, den Kern der NATO-Nuklearabschreckung.
 
Hinzu kommt, dass NORTHCOM, das neue Oberkommando für die Heimatverteidigung, auch die Zuständigkeit für eine 500-Meilen-Zone vor der US-Atlantik-Küste erhält. Ein Signal, dass die NATO zur Verteidigung der USA nicht gebraucht wird? Diese Befürchtung kann auch durch Überlegungen, das Atlantikkommando der NATO in ein funktionales strategisches Oberkommando umzuwandeln, letztlich nicht ausgeräumt werden.


Erlaubte Fragenzeichen


Gipfeltreffen unterliegen eigenen Gesetzen. Das strittigste Thema steht häufig gar nicht auf der Tagesordnung. Es wird beim Essen besprochen, wenn kein Protokoll geführt wird. Das heikle Thema Irak steht an.
 
Die Wahlschlachten in Deutschland, der Türkei und den USA sind geschlagen. Es kann wieder große, notfalls unpopuläre Politik gemacht werden. Egal, ob ein Eingreifen im Irak dem Ziel der Ausschaltung irakischer Massenvernichtungswaffen oder des Regimes von Saddam Hussein folgt es gibt Fragen: Spielt die Allianz bei einer Intervention eine Rolle, und wenn ja, welche? Wird es ein Mandat der Vereinten Nationen geben? Wird die Intervention den Charakter eines präventiven Angriffs haben? Für die NATO birgt das äußerst heikle Probleme: Kann das Bündnis als Wertegemeinschaft glaubwürdig bleiben, wenn es sich selbst über gültiges Völkerrecht hinwegsetzt und einen Angriffskrieg führt? Noch schwieriger ist die Lage für Deutschland, einen der wenigen Staaten, deren Verfassung die Vorbereitung eines Angriffskrieges explizit verbietet. Ob Regierung oder Opposition die politische Ablehnung einer deutschen Beteiligung hat hier wohl auch eine wichtige Ursache..

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).