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Postsowjetische Staatsgründungen Die Verwirklichung ukrainischer Staatlichkeit am Ausgang des 20.
Jahrhunderts steht in kausalem Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der UdSSR. Die Ursachen
für das Scheitern des sowjetischen Gesellschaftsmodells und für den Zerfall der UdSSR
sind außerordentlich komplex, so dass im Rahmen dieses Beitrages nur auf einige Aspekte
eingegangen werden kann.
Obwohl die Ukrainer auf eine mehr als Tausendjährige Geschichte zurückblicken, lebte das ukrainische Volk seit dem Ende der Kiewer Rus (Mongolensturm 1240) bis zum Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 zu keiner Zeit in einem vereinten, unabhängigen ukrainischen Staat. In der gesamten Geschichte des ukrainischen Volkes beschränkte sich die Eigenstaatlichkeit entweder auf Teile ukrainischer Siedlungsgebiete oder auf staatliche Organisationsformen mit keiner bzw. bedingter Souveränität. Über Jahrhunderte gehörten die ukrainischen Siedlungsgebiete zu unterschiedlichen Staaten und Kulturkreisen. Nach dem Ende der Kiewer Rus gehörte der größte Teil ukrainischer Siedlungsgebiete zu Polen-Litauen bzw. im Süden zum Osmanischen Reich. Nach der Teilung Polens und dem Sieg über die Türkenherrschaft (Ende des 18. Jahr-hunderts) wurden die östlichen, zentralen und südlichen Gebiete Teile des Russischen Zarenreiches. Die westlichen Gebiete (Galizien, Bukowina, Transkarpaten) gehörten zur österreichisch-ungarischen Monarchie bzw. zwischen den Weltkriegen im 20. Jahrhundert zu Polen, Ungarn und Rumänien. Prägend für das ukrainische Selbstverständnis war und ist deshalb nicht die Eigenstaatlichkeit, sondern die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen staatlichen Ordnungsstrukturen. Die unterschiedlichen staatlichen Bindungen beeinflussten nicht nur ganz entscheidend die wirtschaftliche und politische Entwicklung und die Haltung der politischen Eliten, sondern auch das geistig-kulturelle Leben und die mentale Befindlichkeit der Bevölkerung. Betrachtet man die heutige Ukraine, so zeichnet sich eine deutliche ethnisch-kulturelle Zweiteilung des Landes ab. In den industriellen Ballungszentren der östlichen und zentralen Landesteile lebt vor allem die russischstämmige Bevölkerungsgruppe, die geistig-kulturell mit Russland und der russisch-orthodoxen Glaubensrichtung ver-bunden ist. Mutter- und Verkehrssprache ist Russisch. Dagegen leben in den überwiegend landwirtschaftlich geprägten westlichen Gebieten fast ausschließlich Ukrainer, die durch jahrhundertelange Zugehörigkeit zu Polen bzw. zu Österreich-Ungarn in den christlich-abendländischen Kulturkreis eingebunden sind. Mutter-sprache ist Ukrainisch, wenn auch durch die Russifizierungspolitik zu sowjetischen Zeiten Russisch Kommunikationssprache ist. Die regionalen geistig-kulturellen Unterschiede widerspiegeln sich in der Haltung der Bevölkerung zu allen Grundfragen der ukrainischen Gesellschaft. Während in der Westukraine die Eigenstaatlichkeit stets als Abgrenzung von Russland und "Hinwendung nach Europa" verstanden wird, betrachtet die russischsprachige Bevölkerung in den östlichen Landesteilen diesen Zusammenhang nicht als zwingend. Im Gegenteil überwiegen dort die Vorbehalte gegen eine zu starke Abgrenzung von Russland, weil man eine Trennung vom russisch-orthodoxen Osten befürchtet. So wurde z.B. Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch im westukrainischen Lviv mit Jubel begrüßt, während es während seines Kiewer Aufenthaltes zu lautstarken Protesten kam. Verstärkt werden diese Differenzen noch durch Streitigkeiten und Rivalitäten zwischen den in der Ukraine bestehenden bzw. nach Erlangung der Unabhängigkeit wieder entstandenen Religionsgemeinschaften. Während zu sowjetischen Zeiten nur die dem Moskauer Patriarchat unterstellte Russisch-Orthodoxe Kirche existierte, gibt es seit Erlangung der Unabhängigkeit daneben die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche mit einem Kiewer Patriarchat und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche mit einem Metropoliten an der Spitze. Sowohl zwischen diesen drei orthodoxen Kirchen herrschen permanent Spannungen als auch zwischen der wieder erstandenen Unierten Griechisch-Katholischen Kirche und der Römisch-Katholischen Kirche. Hinzu kommen noch Streitigkeiten zwischen den rund zwei Millionen Moslems und den moslemischen Krimtataren nach ihrer Rücksiedlung. Die regionalen Divergenzen finden auch in den politischen Auseinandersetzungen zu den Grundfragen der Gesellschaftsentwicklung und zur Positionierung der Ukraine in der internationalen Gemeinschaft ihre deutliche Widerspiegelung. Bei Meinungsumfragen (Ende Nov. 2001) zu ihrer ideologischen Bindung bekannten sich in der Ostukraine 21,5 Prozent der Befragten zur kommunistischen Ideologie und nur 4,2 Prozent zu einer "national-demokratischen" Gesinnung. In der Westukraine war das Verhältnis genau umgekehrt: 4 Prozent "Kommunisten" und 24,8 Prozent "Nationaldemokraten". Ähnliche Unterschiede gibt es bei der Beurteilung der NATO, in der Haltung zur EU, zu Russland und zur GUS. Auf wirtschaftlichem Gebiet besteht in den westlichen Gebieten, in denen bäuerliche Traditionen die Kollektivierung (erst nach 1945) überdauert haben, ein wesentlich größeres Interesse an der Privatisierung der staatlichen und kollektiven Landwirtschaftsbetriebe als im Osten des Landes, wo private Bauernwirtschaften seit Generationen nicht mehr bestanden. Weitere Beispiele und Merkmale für diese regionalen Unterschiedlichkeiten ließen sich aus allen Gesellschaftsbereichen hinzufügen. Trotzdem darf daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, das der Nationalstaatkonsens, der beim Zusammenbruch der Sowjetunion zur Erlangung der Eigenstaatlichkeit führte und der nicht nur von der ukrainischen Bevölkerung in den westlichen Gebieten, sondern auch von der russischsprachigen Bevölkerung in den zentralen und östlichen Landesteilen getragen wurde, heute nicht mehr besteht. Wenn auch in großen Teilen der Bevölkerung angesichts der krisenhaften wirtschaftlichen und sozialen Lage die Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung über die Eigenstaatlichkeit zugenommen haben, so überwiegt doch allgemein das Bekenntnis zur Eigenstaatlichkeit. Hinzu kommt, dass die Führungseliten des gesamten politischen Spektrums mit Ausnahme ultralinker Kräfte für den Erhalt der Eigenstaatlichkeit eintreten, da sie "insgesamt vom Zerfall der UdSSR profitiert haben und ihr Patriotismus daraus gewaltige auch materielle Anreize erhält". Vor dem Hintergrund der historischen und kulturellen Spezifika zeigen sich in der Haltung zur Eigenstaatlichkeit bis in die politischen Führungsebenen hinein Widersprüche und Schwankungen, wobei sich sowohl die engen mentalen Bindungen großer Teile der Führungseliten an Russland als auch das Fehlen eigenstaatlicher Traditionen und Erfahrungswerte sowie die Abwanderung eines Teils der Eliten nach Russland bzw. in den Westen besonders bemerkbar machen. Die latenten Zweifel und Schwankungen bezüglich der Eigenstaatlichkeit wider-spiegeln sich auch in den Aus-einandersetzungen um die Einordnung der Ukraine in das internationale Beziehungs-gefüge. Dabei geht es aber nicht nur um eine außenpolitische Standortbestimmung, sondern um die Entscheidung in der eigentlichen Kernfrage der ukrainischen Gesellschaft: um das Verhältnis zu Russland respektive zum Westen. Jede Entscheidung in dieser Grundfrage erhält noch zusätzliche Brisanz dadurch, da sie sowohl von den politischen Kräften im Innern als auch von außen her zumeist auf den Gegensatz "Westorientierung" = Fortsetzung der Demokratisierung der ukrainischen Gesellschaft, "Ostbindung" = Abbruch des Gesellschaftswandels und der Reformpolitik reduziert wird. So betonen ukrainische Oppositionspolitiker wie Ex-Minister-präsident Viktor Juschtschenko immer wieder, dass allein die "Westorientierung" eine Garantie für einen erfolgreichen Wandel der ukrainischen Gesellschaft sei. Andererseits sehen die sog. Traditionalisten im linken politischen Spektrum und auch Politiker aus dem Regierungslager in engen Bindungen an Russland die sichere Garantie für die Abwehr bzw. Zurückdrängung "westlicher Einflussnahme". Aufgrund der schon skizzierten geistig-kulturellen Unterschiede zwischen West- und Ostukraine würde jede einseitige Orientierung nach Westen oder Osten objektiv zu einer starken Polarisierung in der Bevölkerung und zur Destabilisierung der innenpolitischen Situation führen. Letztlich wäre eine ernsthafte Gefährdung der ukrainischen Staatlichkeit nicht auszuschließen. Deshalb gibt es für die Ukraine nur eine realistische Entscheidung: die Orientierung nach Europa und gleichzeitige Entwicklung enger Bindungen an Russland. Sie läge aufgrund des Bevölkerungspotentials, der Größe des Landes und seiner geostrategischen Lage zugleich im Interesse einer dauerhaften sicherheitspolitischen Stabilität in der gesamten mittel/ost- und südeuropäischen Region und darüber hinaus in ganz Europa. Probleme der Identitätsbildung In allen neuen Staaten hat die Formierung einer nationalstaatlichen Identität eine besondere Bedeutung für die dauerhafte Sicherung der Eigenstaatlichkeit. Bei Staatsgründungen im Ergebnis gesamtnationaler Erhebungen verläuft dieser Prozeß ohne besondere Probleme, da die Eigenstaatlichkeit Ziel und Ergebnis nationaler Identifikation ist. Begünstigt wird dieser Prozeß noch dann, wenn im Neustaat eine monoethnische Struktur vorherrschend ist. Aufgrund der objektiven Umstände der Staatsgründungen im postsowjetischen Raum (Kausalität von Eigenstaatlichkeit und Systemwechsel; multiethnische Bevölkerungsstruktur) handelt es sich um eine nachholende nationalstaatliche Identitätsbildung, die mit einer Vielzahl von Problemen verbunden ist. Vorrangiges Ziel war und ist es dabei, die dominante sowjetstaatliche Identifikation (Zuge-hörigkeit zum russisch dominierten Zentral-staat und zur Weltmacht Sowjetunion; Teil des einheitlichen sowjetischen Wirtschafts-raumes u.a.m.) und das sowjetisch-sozialistische Wertesystem ("homo sovietikus") durch eine nationalstaatlich determinierte Identität abzulösen. In der Ukraine verläuft der Prozeß der nationalstaatlichen Identitätsbildung aufgrund der geschichtlichen Entwicklung und der geistig-kulturellen Zweiteilung des Landes besonders kompliziert und widersprüchlich. Den Kern dieses komplizierten Prozesses veranschaulicht besonders deutlich der Historiker Andreas Kappeler in seiner Arbeit "Kleine Geschichte der Ukraine", wenn er auf die Fragestellung nach dem Selbstverständnis der ukrainische Nation feststellt: "Die unierten Ruthenen Galiziens, die stark russifizierten 'Kleinrussen' von Odessa und Donec'k, die Ukrainer der Dnepr-Region und die Rusynen Transkarpatiens sind nach wie vor keine geschlossene ukrainische Nation. ... Es läge deshalb nahe, die ukrainische Nation nicht primär auf kulturell-ethnische Kriterien, das heißt der ukrainischen Sprache und Kultur, sondern auf dem Konzept einer politischen Nation von Staatsbürgern zu begründen." Die reale Politik richtet sich seit Erlangung der Unabhängigkeit allerdings in allen Gesellschaftsbereichen vorrangig auf die Ausprägung des "Ukrainischen". Besondere Regierungsprogramme und die gesamte politisch-praktische und ideologische Arbeit der staatlichen Verwaltungen aller Ebenen zielt vor allem auf die Herausbildung nationalstaatlicher Traditionen, die Förderung der ukrainischen Sprache und Kultur, die Neubestimmung der Lehr- und Bildungsinhalte sowie auf die Bereitstellung der für die Realisierung dieser Aufgaben erforderlichen materiellen und personellen Kapazitäten (Umrüstung der Druckereien; Entwicklung von ukrainischen Computerprogrammen; verstärkte Ausbildung von Historikern usw.). Zur Leitung dieses Prozesses, der auch als "Ukrainisierung" bezeichnet wird, wurde bei der Regierung ein gesondertes Staatskomitee gebildet, dass für die Aufgabenkoordinierung und für die Überwachung der Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften auf diesem Gebiet zuständig ist. Schwerpunkte der "Ukrainisierung" Ein Schwerpunkt der "Ukrainisierung" ist die Formierung eines eigenständigen, nationalen Normen- und Wertesystems, wobei die historisch außerordentlich kurzen Zeitperioden staatlicher Eigenständigkeit kaum bzw. nur bedingt für die Fortführung der über Jahrhunderte unterbrochenen nationalstaatlichen Identitätsbildung genutzt werden können. Erschwerend wirkt sich zudem der Umstand aus, dass die Formierung der ukrainischen nationalstaatlichen Identität zwangsläufig mit einer geistig-kulturellen Abgrenzung von Russland verbunden ist, die bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung bzw. Unverständnis stößt. Gewisse Über-spitzungen und ungerechtfertigte Forcierungen der Ukrainisierungspolitik in den Anfangsjahren Benachteiligung russischsprachiger Abiturienten bei der Zulassung zum Studium, Ausgrenzungen im öffentlichen Dienst, "Ukrainisierung" der Vor- und Familiennamen, von Orts- und Straßenbezeichnungen haben diese Vor-behalte noch verstärkt. Zwischenzeitlich wurden zwar Überspitzungen aus den ersten Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit korrigiert, die Grundrichtung der Ukrainisierungspolitik Verdrängung des Russischen wird aber weiterhin verfolgt. Ein wesentlicher Aspekt der Formierung einer nationalstaatlichen Identität ist die Neubewertung wichtiger Abschnitte, Ereignisse und Persönlichkeiten der ukrainischen Geschichte und die Änderung der Geschichtsbetrachtung insgesamt. In der sowjetischen/russischen Geschichtsbetrachtung besaß die ukrainische Geschichte keine Eigenständigkeit, sondern wurde immer als Teil der russischen, später der sowjetischen Entwicklung gewertet und dargestellt. Nationale Bestrebungen während der jahrhundertelangen Fremdbestimmung der Ukraine durch Russland wurden stets ideologisiert, d.h. als Teil der sozial-ökonomisch begründete Auseinandersetzungen charakterisiert. Ergänzt wurde diese Ideologisierung durch eine selektive Geschichtsbetrachtung, mit der die Einordnung der Ukraine in das russische Imperium als Akt der nationalen Selbstverwirklichung und der Widerstand gegen die damit verbundenen z.T. gewaltsame Russifizierung des öffentlichen Lebens als antinationale Aktionen dar-gestellt wurden. Seit Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit erfolgt nunmehr eine Neubewertung der ukrainischen Geschichte. Das betrifft insbesondere die geschichtliche Einordnung der Ukrainischen Volks-republiken (1917 1920), die Bewertungen der Rolle der Ukraine innerhalb des sowjetischen Systems, die historische Einordnung des Anteils national orientierter Bewegungen an der Befreiung der Ukraine von der deutschen Okkupation während des Zweiten Weltkrieges sowie die Einschätzung des Verhältnisses zu Russland und Polen. Während allgemein Überein-stimmung hinsichtlich der Einordnung der Ukrainischen Volksrepubliken (1917/1920) als historische Keimzelle ukrainischer Staatlichkeit in der Neuzeit besteht, gibt es hinsichtlich der Beurteilung der Rolle und des Platzes der nationalistischen Bewegungen in der Westukraine im Kampf gegen Hitlerdeutschland und bezüglich der Unabhängigkeitserklärung von 1941 er-hebliche Differenzen. Gleiches gilt für die Bewertung des Verhältnisses zu Russland und zu Polen. Nicht nur bei pro-sowjetischen und pro-russischen Historikern und Politikern, sondern auch bei großen Teilen der Bevölkerung stoßen Versuche zu einer einseitigen antisowjetischen, national-istischen Geschichtsinterpretation auf Widerspruch und Ablehnung. Das zeigte erst kürzlich das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der ukrainischen Tageszeitung "Djen" zu dem umstrittenen Gesetzentwurf über die Rehabilitierung der sog. Ukrainischen Widerstandsarmee, die im Zweiten Weltkrieg für die Errichtung einer unabhängigen Ukraine gegen die Sowjet-armee kämpfte. Nur 14,1 Prozent der Befragten sprachen sich vorbehaltlos für die Annahme eines solchen Gesetzes aus. Die Neuinterpretation wesentlicher Abschnitte und Ereignisse der ukrainischen Geschichte dient zugleich dazu, die außenpolitische Orientierung auf Europa ideologisch abzusichern. Besonders deutlich wird das an der Betrachtung solcher historischer Ereignisse und Entwicklungen wie z.B. die Christianisierung, die Einführung des Magdeburger Rechts oder die Entwicklung der Beziehungen zu den nicht russischen Nachbarvölkern. Sie werden vorrangig dazu genutzt, die Einbindung der Ukraine in die europäisch-abendländische Wertegemeinschaft zu verdeutlichen, die mentale Zugehörigkeit zu Europa zu stärken und die Formierung einer europäischen Identifikation fördern. Wie schwierig und widersprüchlich dieser Prozeß verläuft, zeigen Ergebnisse von Meinungsumfragen zur europäischen Orientierung der Ukraine und ihrer schrittweisen Einbindung in euro-atlantische Strukturen. Etwa 57 Prozent befürworten einen Beitritt der Ukraine zur EU. Gleichzeitig sprechen sich aber über 62 Prozent für eine Vertiefung der Wirtschaftskooperation mit Russland aus. Bezüglich der NATO sind etwa 50 Prozent für einen sofortigen oder künftigen Beitritt, 45 Prozent befürworten aber zugleich einen Zusammenschluß mit Russland und Weißrussland. Neben dieser Wider-sprüchlichkeit sind auch die regionalen Unterschiede signifikant. Während in der Westukraine 27,5 Prozent einen Beitritt zur NATO befürworten und 20,5 Prozent strikt dagegen sind, sprechen sich in der Ostukraine nur 10,3 Prozent für den Beitritt aus und 33,5 Prozent lehnen einen solchen Schritt grundsätzlich ab. Umgekehrt ist die Haltung bezüglich eines Beitritts zur Russisch-Weißrussischen Union. In der West-ukraine lehnt etwa die Hälfte einen solchen Schritt ab, während in der Ostukraine fast zwei Drittel dafür sind. Die regionalen Unterschiede hinsichtlich der außenpolitischen Orientierung unter-streichen erneut, dass die vorwiegend ukrainische Bevölkerung in der Westukraine die "Ukrainisierung" als Teil nationaler Selbstverwirklichung und als Grundlage für die "Rückkehr nach Europa" wertet. In den östlichen und zentralen Landesteilen stoßen die "Ukrainisierung" und daraus resultierende außenpolitische Richtungsentscheidungen dagegen weitgehend auf Ablehnung. Chancen und Risiken für die Ukraine Trotz der signifikanten Unterschiede in der Haltung der Bevölkerung in den westlichen und östlichen Landesteilen zu den Grundfragen der außenpolitischen Orientierung der Ukraine haben sich in den Jahren seit Erlangung der Unabhängigkeit nationalstaatliche Identität und die Identifikation mit der ukrainischen Staatlichkeit deutlich gefestigt. Im Spektrum der politischen Kräfte gibt es heute nur noch Randgruppen, die die Eigenstaatlichkeit in Frage stellen und für eine Wiedererrichtung der Sowjetunion oder einen Anschluß an Russland eintreten. Hinzu kommt, dass auch die internationalen Rahmenbedingungen günstig sind, die ukrainische Staatlichkeit dauerhaft zu sichern. So hat auf der einen Seite seit dem Machtantritt Putins die Bereitschaft in den politischen Eliten Russlands zugenommen, die ukrainische Eigenstaatlichkeit anzu-erkennen und eine pragmatische Zu-sammenarbeit zu entwickeln. Auf der anderen Seite halten die USA und die westeuropäischen Länder trotz großer Vorbehalte gegenüber der derzeitigen politischen Führung der Ukraine an ihrem grundsätzlichen Kurs zur Unterstützung der Unabhängigkeit der Ukraine fest, wenn auch die endgültigen Entscheidungen zu Umfang und Formen der Einbindung der Ukraine in die westlichen Bündnisstrukturen noch ausstehen. Risiken erwachsen der ukrainischen Staatlichkeit in erster Linie aus der latenten Instabilität der inneren Lage. Sie hat ihre Ursachen in der andauernden wirtschaftlichen Strukturkrise und der daraus resultierenden komplizierten sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten. Hinzu kommen die Demokratiedefizite im politischen System sowie die Erscheinungen wirtschaftlicher und politischer Korruption. Weitere Gefahren erwachsen der ukrainischen Staatlichkeit auch aus der Ambivalenz des außenpolitischen Kurses. Immer wieder versuchen unterschiedliche polit-ische Kräfte im Interesse ihrer Machtambitionen und mit Unterstützung von außen, das Land einseitig nach Osten oder Westen zu orientieren. So richtig und notwendig für eine erfolgreiche Fortsetzung der Gesellschaftstransformation in der Ukraine die Orientierung auf Europa ist, so zwingend ist der Ausbau der Beziehungen mit Russland. Für einen längeren Zeitraum bleiben sowohl gute und stabile Be-ziehungen mit dem Westen als auch mit Russland von existentieller Bedeutung für die Ukraine. Das neue Verhältnis Russlands zum Westen und seine Einbindung in die euro - atlantischen Sicherheitsstrukturen öffnen auch der Ukraine neue Perspektiven, ihren gesicherten und geachteten Platz im Beziehungsgefüge der europäischen Staaten-gemeinschaft zu finden.
Diese Briefing Note basiert auf einen Vortrag des Autors auf einer wissenschaftlichen Konferenz von "Helle Panke" e.V. im Oktober 2002. Manfred Schünemann ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BITS tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die russische Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Innen- und Außenpolitik der Ukraine.
Endnoten:1 Wie in fast allen Unionsrepubliken artikulierten sich die Unabhängigkeitsbestrebungen auch in der Ukraine zunächst im Streit über den Status der ukrainischen Sprache. Schon in den Jahren der Perestrojka forderten besonders Schriftsteller und Künstler immer deutlicher eine Stärkung der ukrainischen Sprache und gründeten bereits 1986 in Lviv die "Schewtschenko-Gesellschaft für ukrainische Sprache". Nach Massen-demonstrationen im Herbst 1989 wurde dann Ukrainisch Anfang 1990 offiziell zur Staatssprache erklärt. 2 Hierzu zählen in der ukrainischen Geschichtsschreibung insbesondere: das Kosaken-Hetmanat im 16./17 Jahrhundert; die Saporishijer Sitsch im 17./18. Jahrhundert; die Westukrainische Volksrepublik und die Ukrainische Volksrepublik in den Jahren 1918 - 20 (einschließlich des kurzzeitigen Versuchs einer Vereinigung beider Republiken); die Unabhängigkeitserklärung national-patriotischer Kräfte in der Westukraine 1941 und die gesamte Periode der Sowjet-Ukraine 1922 1991. 3 Beim Referendum im Dezember 1991 votierten über 90 Prozent der Stimmberechtigten für die Unabhängigkeit. Auch in den östlichen und südöstlichen Gebieten, in denen die russischsprachige Bevölkerung überwiegt, waren es über 80 Prozent. Eine Ausnahme bildete lediglich das Autonome Gebiet der Krim mit 54,19 Prozent. Zahlenangaben vgl., The Ukrainian Weekly, vol. LIX, 49/1991, S. 1. 4 Methamorphosy postkommunistitscheskoj wlasti, in: Ukrainskaja gosudarstwennost w XX weke, Kiew 1996, S.309. 5 Kappeler, Andreas: Kleine Geschichte der Ukraine, Beck-Verlag München 1994, S. 264. 6 Zahlenangabe vgl.: Online version newspaper "DAY", www.day.kiev.ua, 15.10.2002. 7 Zahlenangaben vgl.: National Security & Defence, Kyiv, Nr. 2 / 2002, S.34 ff.
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