BITS Briefing Note 02.5
November 2002
ISSN 1434-3282

Als Artikel erschienen:  SPW Dezember 2002


Quo Vadis NATO? - Quo Vadis Europa?

Angelika Beer und Otfried Nassauer

 

 

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Große Ereignisse werfen lange Schatten voraus. So auch der NATO-Gipfel am 21.-22. November in Prag. Schon die Ortswahl war Symbol. Der Gipfel in einem neuen NATO-Staat sollte weitere Staaten zum Beitritt einladen. Doch ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA stand nicht die Erweiterung der NATO, sondern deren Umgestaltung und Neuausrichtung im Zentrum der Ereignisse. Der Erweiterungsgipfel wurde zu einem "Transformationsgipfel", zu einem Gipfel, der das transatlantische Bündnis so tiefgreifend verändern haben könnte wie kaum ein anderer zuvor. Eine Analyse der Risiken und Nebenwirkungen.



1. Die NATO in der Krise

Die NATO steckt in einer substantiellen Krise. Pierre Lelouche, ein profilierter französischer Sicherheitspolitiker meint, in einer der tiefgreifendsten seit ihrer Gründung. Lord Robertson, der Generalssekretär der NATO, wähnte die das Bündnis schon vor Monaten vor der Wahl zwischen "Modernisierung" und "Marginalisierung". Robertson glaubt, der Grund der Krise sei vor allem in der wachsenden Ausrüstungs-, Bewaffnungs- und Technologielücke zwischen den USA und Europa zu suchen. Er befürchtet, dass die Streitkräfte der Bündnispartner schon bald kaum noch gemeinsam operieren können. Dadurch verlöre die NATO aus amerikanischer Sicht an Bedeutung. Das sehen diesseits wie jenseits des Atlantiks manche Kommentatoren anders. Sie glauben, die Krise sei grundsätzlichen Charakters. Sie sehen eine Kontinentaldrift tektonischer Platten. Je nach Standpunkt und Herkunft der Beobachter hat diese ihren Ursprung entweder im mangelnden europäischen Willen zu harter militärischer Machtpolitik. Oder sie resultiert aus der amerikanischen Neigung zu einem machtpolitischen Handeln, dass sich primär militärischer Mittel bedient. Alle gemeinsam sehen: Historisch ist die NATO ein Regionalbündnis zur kollektiven Verteidigung. Da fällt es schwer, in den Kategorien weltweiten militärischen Handelns zu denken. Das um so mehr, weil viele in Europa fürchten, dass eine weltweit nach amerikanischem Vorbild und unter amerikanischer Führung agierende NATO sie vor all jene Probleme stellt, vor denen die USA bereits heute stehen: Streitkräfteeinsätze ohne Mandat der Vereinten Nationen; präventive und präemptive militärische Schläge, die von Angriffskriegen nicht oder kaum zu unterscheiden sind; oder gar die Mitverantwortung für den Einsatz von Nuklearwaffen in einem solchen Kontext. Mithin vor Situationen, in denen die NATO ihren eigenen Wertekodex verletzt würde – denn zu diesem gehört die Anerkennung der Gültigkeit des internationalen Rechts.


Die Gipfel-Beschlüsse machen diesen zu einem Erfolg für George W. Bush, der wie so oft nach der Maxime auftrat: "Wenn Du das Maximale herausholen willst, dann mußt Du mehr fordern." Die Initiativen zu den wesentlichen Beschlüssen kamen aus den USA; die europäischen NATO-Staaten boten keine ernsthaften Alternativen an. Sie suchten lediglich, das aus ihrer Sicht Schlimmste zu verhindern. Washington konnte deshalb auch äußerst umstrittene Veränderungen durchsetzen. Die NATO wird damit wieder ein ganzes Stück amerikanischer und ganz nebenbei mußte die gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einige schwere Torpedotreffer hinnehmen.

2. Neue globale Aufgaben

Obwohl die NATO nur einen Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 den Bündnisfall ausrief, forderte Washington nur marginale militärische Beiträge von Brüssel und vermied es, die Allianz in strategische Entscheidungen über militärische Reaktionen einzubeziehen. Die NATO wird meist nur informiert oder konsultiert. Mit aller Macht versucht Lord Robertson seit Monaten, diesem Relevanzverlust entgegenzusteuern. Die NATO müsse die Bekämpfung des Terrorismus in das Zentrum ihrer Aktivitäten mit hineinnehmen. Der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen komme wachsende Bedeutung zu. Etliches sei doch schon erreicht. So habe das Bündnis schon während der Außenministertagung im Mai 2002 endlich die "sterile Debatte" um "Out-of-Area-Einsätze" zu den Akten gelegt. Persönlich interpretierte Robertson die Aussage der Minister, das Bündnis benötige Streitkräfte, die schnell dahin verlegt werden können, "wo auch immer sie benötigt werden". Dies besage, die NATO könne global agieren, "nach Erfordernis und wo nötig" Einsätze durchführen". Während das deutsche Außenministerium noch im September eine solche Interpretation für unzulässig erklärte, hat Robertson sich mittlerweile durchgesetzt. Die NATO kann weltweit agieren. Das Prager Kommunique betont: Die NATO müsse die Fähigkeit haben,"den Herausforderungen gegen die Sicherheit unserer Streitkräfte, Bevölkerungen und unseres Territoriums" zu begegnen, "wo immer diese auch herkommen mögen." Sie müsse auf Beschluß des NATO-Rates "Streitkräfte einsetzen können, die schnell überall dahin verlegt werden können, wo sie benötigt werden." Das "volle Spektrum der Aufgaben" der Allianz umfaßt nun "die Bedrohung, die der Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie deren Trägersystemen" darstellen. Das Bündnis übernimmt auch gleich erstmals eine globale Aufgabe: Wenn das Deutsch-Niederländischen Korps in Kürze die Führung der ISAF-Mission in Afghanistan übernimmt, dann wirkt die NATO mit. Es ist der globale Präzedenzfall für die Allianz. Seit Monaten betont Robertson, die NATO könne jetzt eine "führende Rolle" bei der Bekämpfung des Terrorismus übernehmen und ihre militärischen Fähigkeiten anderen internationalen Organisationen und Koalitionen von Fall zu Fall zur Verfügung stellen. Ein vom Militärausschuß erarbeitetes "Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus" wurde beim Prager Gipfel gebilligt.

Die neuen Aufgaben werfen neue Probleme auf. Die USA haben ihre nationale Strategie deutlich verändert – zuletzt durch eine neue Nationale Sicherheitsstrategie. Diese schließt es bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht aus, selbst anzugreifen, bevor die USA angegriffen werden können. Dafür stehen die Begriffe "präemptive Schläge" und "defensive Intervention". Der amerikanische Begriff "pre-emptive strikes" umfasst zweierlei. Zum einen meint er ein präventives Vorgehen, zum Beispiel die Zerstörung gegnerischer Raketenabschussrampen, unmittelbar bevor mit diesen ein Angriff durchgeführt werden soll. Zweitens sind vorbeugende, präemptive Angriffe gemeint, Angriffe, mit denen das Entstehen längerfristiger Bedrohungen verhindert werden sollen, also zum Beispiel der Bau von Massenvernichtungswaffen. Israels weltweit kritisierte Bombardierung des irakischen Atomreaktors Osirak ist ein Beispiel. Doch Washington geht noch weiter: Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird durch die Bush-Administration bei solchen Einsätzen nicht ausgeschlossen. Das wurde Anfang des Jahres deutlich, als der geheime Nuclear Posture Review an die Öffentlichkeit gelangte. Schon seit einigen Jahren beschränken die USA ihre nationale nukleare Einsatzplanung zudem nicht mehr auf Staaten. Auch "nicht-staatliche Akteure", z.B. Terroristen, religiöse Extremisten oder transnationale Konzerne, die den Versuch machen, sich Massenvernichtungswaffen zuzulegen, könnten Ziele für einen Nuklearangriff sein.

Damit gerät die NATO in ein Dilemma. Sie hat – wie so oft in der Vergangenheit - mit zeitlicher Verzögerung ihre Strategie den Entwicklungen US-Strategie im Grundsatz angepaßt. Wie weit diese Anpassung im Einzelnen geht, ist noch unklar, zumindest in der Öffentlichkeit. Nur soviel ist klar: Schwerwiegende Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität künftiger NATO-Planungen drohen. Weder präemptive Angriffe noch gar der Einsatz nuklearer Waffen, möglicherweise gar unter Rückgriff auf die nukleare Teilhabe, wären völkerrechtlich gedeckt.

Man stelle sich vor: Washington will präemptiv das existierende bzw. entstehende Massenvernichtungswaffenpotential eines Staates oder eines nichtstaatlichen Akteurs zerstören. Die Planer im Pentagon glauben, daß dies gesichert nur mit einer Nuklearwaffe gelingen kann. Da dies aber völkerrechtlich und im Lichte der internationalen öffentlichen Meinung sehr umstritten wäre, entschließen sich die USA, die NATO um Solidarität und Mitwirkung zu bitten. Als Gemeinschaft von 19, künftig 26 demokratischen Staaten, lasse sich der Angriff besser verteidigen. Die Flugzeuge, die den Angriff durchführen, sollen in einem NATO-Land starten, ein zweites soll Luftbetankungsmittel bereitstellen, ein drittes beim Begleitschutz durch Jagdflugzeuge helfen und ein viertes, nicht-nukleares Land gar durch die Bereitstellung eines Trägerflugzeugs für Nuklearwaffen. Unschwer ist zu erkennen, wie gravierend die Probleme für die europäischen NATO-Partner wären.

Die NATO liefe Gefahr, aktiv das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu schwächen. Die Auswirkungen auf das nukleare Nichtverbreitungsregime wären verheerend. Das Bündnis würde aktiv an der von der Regierung Bush initiierten Deregulierung der internationalen Beziehungen mitzuwirken, die viele der europäischen NATO-Staaten schon jetzt beklagen.

Ein kaum lösbares Dilemma, dem man in Brüssel nur mit Formelkompromissen oder selbstauferlegten Denkverboten vorläufig entkommen kann, wie es sich während und nach dem wegen politischer Kontroversen abgebrochenen Krisenmanagement-Manövers CMX02 erst im Frühjahr wieder zeigte. Antworten auf solche Fragestellungen finden sich nicht in öffentlichen Gipfeldokumenten. Eher schon in vertraulichen Papieren wie denen des Militärausschusses. Mithin: Dokumente wie z.B. das jetzt gebilligte "Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus" verdienen höchste Aufmerksamkeit.

Verteidigungsminister Peter Struck glaubt zwar, daß die NATO ein präventives oder präemptives Vorgehen auch in Zukunft ablehnen werde, da das Bündnis im Konsens entscheide. Doch das Konsensprinzip in der Allianz wird mit Blick auf die wachsende Mitgliederzahl immer mehr in Frage gestellt. Das Bündnis müsse jene, die zu bestimmten Schritten bereit sind, handeln lassen, wenn es seine Bedeutung erhalten wolle – so lautet das Argument. Es gibt auch europäische Stimmen, die präemptives militärisches Handeln erwägen. Wolfgang Schäuble ist eine. Klaus Naumann, ehemals Vorsitzender des Militärausschusses der NATO eine andere: Wenige Tage vor dem Gipfel ging er davon aus, dass "die NATO in Prag die ersten Schritte in Richtung auf ein neues strategisches Konzept unternehmen wird, das Prävention und Präemption als Optionen, nicht aber als leitendes Prinzip" enthalten sollte. Die NATO müsse über neue Wege entscheiden, gegen chemische, biologische oder nukleare "Angriffe auf unsere Streitkräfte und unsere Bevölkerungen" zu reagieren. Dies sei mehr als Heimatverteidigung. "Das bedeutet, daß die Bedrohung da angegangen werden muß, wo sie entsteht, daß die NATO darauf vorbereitet sein muß, zu intervenieren, wo dies notwendig ist", ohne ihre Grundausrichtung als Verteidigungsbündnis aufzugeben. Der Prager Gipfel gab Naumann weitgehend recht. Das Gipfel-Kommunique versucht zu beruhigen: Nein, die neuen Aufgaben der NATO sollten "von keinem Staat und keiner Organisation als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Ausdruck der Entschlossenheit unsere Bevölkerung, unser Territorium und unsere Streitkräfte vor jedem bewaffneten Angriff zu schützen, einschließlich terroristischer Angriffe, die von außen gelenkt werden". Dies alles solle "in Übereinstimmung mit dem Washingtoner Vertrag (d.h. dem NATO-Vertrag) und der Charta der Vereinten Nationen" geschehen. Wie, das sagt das Kommunique allerdings nicht.

3. Neue militärische Mittel

Mit den militärischen Einsatzmitteln des Kalten Krieges lassen sich solche Aufgaben kaum bewältigen. Mit diversen Beschlüssen versucht der Prager NATO-Gipfel deshalb schnelle Abhilfe zu schaffen.

Erst im September hatte Donald Rumsfeld, der US-Verteidigungsminister, seinen NATO-Kollegen die Idee präsentiert, die NATO solle eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbauen, die NATO Response Force (NRF). Der Truppe, 21.000 Mann stark, sollten die besten und modernsten Kräfte aller NATO-Staaten zugeordnet werden: Heeresverbände in Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte im Umfang einer der ständigen Einsatzflotten der NATO. Binnen 5 bis 30 Tagen solle sie weltweit einsetzbar sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen, solche wie sie nötig sind, um Interventionen wie in Afghanistan durchzuführen. Bis zu 30 Tage soll sie autonom kämpfen können. Mit dieser Truppe könne die NATO sich dann an US-geführten Operationen beteiligen. Bis Oktober 2006 soll sie einsetzbar sein. Der Prager NATO-Gipfel faßte den Beschluß die Truppe aufzubauen. Im Frühsommer soll den Verteidigungsministern ein erster Bericht vorgelegt werden, wie sie aussehen soll.

Die zweite verabschiedete Initiative sind die "Prager Fähigkeitsverpflichtungen" (Prague Capabilities Commitment, PCC). Mit diesen verpflichten sich vor allem die europäischen NATO-Staaten politisch verbindlich, zu festen Terminen bestimmte militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der Luftbetankung, der modernen Luft-Boden-Bewaffnung, der Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer Gefahren oder im Bereich Führungssysteme bereitzustellen. Im Gegensatz zu der breiter angelegten Vorgängerinitiative DCI (Defense Capabilities Initiative) sollen die PCC vor allem auf den Bedarf der NRF und damit auf weltweite Einsätze hoher militärischer Intensität ausgerichtet werden. In Arbeitsgruppen wird an den einzelnen Fähigkeiten gearbeitet. Nicht jeder NATO-Staat muß zu allen beitragen. Arbeits- und Rollenteilung, so lauten die Zauberworte, von denen man sich Fortschritt erhofft. Spanien kümmert sich um die Luftbetankung, Holland um Abstandswaffen. Deutschland leitet die Arbeitsgruppe strategischer Lufttransport. Unklar bleibt, ob sich hier vorrangig das Interesse der Bundeswehr spiegelt, die Bestellung von 73 (oder "nur" 60) Militärtransportern vom Typ A400M zu rechtfertigen. Klar dagegen ist, daß bereits erste, exorbitant teure Angebote zum kurzfristigen Leasing amerikanischer Großraumtransporter vom Typ C-17 in Berlin vorliegen, mit dem die Zeit bis zum Zulauf der A400M ab 2009 oder 2012 überbrückt werden könnte. Möglich und erheblich billiger wäre es, Großraumtransportflugzeuge vom Typ Antonow 124 zu leasen, mit denen die Bundeswehr ihre Soldaten in Afghanistan zuverlässig und recht billig versorgt.

Eine dritte Gipfel-Initiative stärkt die Fähigkeit der NATO zur Abwehr von Angriffen mit biologischen, chemischen, radiologischen und nuklearen Waffen auf Streitkräfte und Territorium der Mitglieder. Das Vorhaben, das auf den ersten Blick wie eine logische Konsequenz des Risikos terroristischer Angriffe erscheint und auf die Stärkung von ABC-Abwehrfähigkeiten und Zivilschutz ausgerichtet ist, wurde jedoch breiter angelegt. Hier verbergen sich auch Pläne zur Raketenabwehr für die Streitkräfte, Bevölkerungen und das Territorium der NATO-Länder. Erstmals geht die NATO über Studien zur taktischen Raketenabwehr hinaus. Jetzt sollen die Abwehrmöglichkeiten gegen Flugkörper mit mehr als 3000 km Reichweite untersucht werden. Damit stellt die Allianz sich auch offen die Frage, ob Teile des amerikanischen Raketenabwehrschirmes, einschließlich Abfangraketen in anderen NATO-Staaten aufgestellt werden sollen. Unklar ist noch, ob sich hinter dieser Initiative zusätzlich eine weitere Facette der Diskussion über präventiven und präemptiven militärische Optionen des Bündnisses verbirgt – Arbeiten zu den Möglichkeiten des Bündnisses, Massenvernichtungswaffen, und deren Trägersysteme sowie Produktionsanlagen vorbeugend auszuschalten.

Viertens machte der Prager Gipfel Vorgaben für eine neue, straffere, flexiblere und einsatzorientierte Kommandostruktur. Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden NATO-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 soll der Militärausschuss einen Vorschlag unterbreiten, wie die NATO mit deutlich weniger Kommandobehörden militärisch flexibler agieren kann. Darum ist er kaum zu beneiden. Eine Reform der Kommandostrukturen muß die Ansprüche der künftigen NATO-Mitglieder berücksichtigen. Das wirkt gegen das Ziel der Straffung. Zum anderen hat die Reform der nationalen Kommando-Struktur der USA in Brüssel Probleme ausgelöst. Die NATO verliert demnach ihren wichtigsten Stab in den USA, SACLANT. Der ist dem NATO-Oberbefehlshaber SACEUR gleichgestellt, befehligt die Seestreitkräfte im Atlantik und im Krieg auch die assignierten strategischen Nuklear-U-Boote, den Kern der NATO-Nuklearabschreckung. Ein operativ-strategisches Oberkommando sei genug, argumentierte Washington. Doch SACLANT ist auch Symbol für die Aufgabe der NATO, zur Verteidigung der USA beizutragen. Ein Signal, dass die NATO zur Verteidigung der USA nicht länger gebraucht wird? Washington bot angesichts europäischer Widerstände an, SACEUR zum einzigen operativen Oberkommando der NATO weiterzuentwickeln, zu einem Strategic Command for Operations. SACLANT dagegen solle in ein strategisch "funktionales" Oberkommando umgewandelt und künftige NATO-Einsatzkonzepte, Operationsformen und Bewaffnungs- und Ausstattungsoptionen planen – das Strategic Command for Transformation. So beschloß es der NATO-Gipfel, obwohl mancher Europäer fürchtet, der Kompromiß sei ein Danaergeschenk.

Weitere Änderungen der Kommando-Struktur dienen vor allem einer effektiveren, schnelleren Einsatzführung. Das operative Oberkommando soll von zwei teilstreitkräfteübergreifenden Hauptquartieren unterstützt werden, aus denen je ein multinationales teilstreitkräfteübergreifendes Einsatzhauptquartier (CJTF-HQ) herausgelöst werden kann, sowie durch ein kleineres, seegestütztes Einsatzhauptquartier. Die Zahl der anderen NATO-Hauptquartiere und der Luftraumüberwachungs- und –führungszentren wird deutlich reduziert.

4. Europas Bedenken

Obwohl die meisten amerikanischen Initiativen von den europäischen Staaten in Prag im Grundsatz begrüßt wurden, gab es substantielle Bedenken. Außenminister Joschka Fischer ließ sie in einer Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel erkennen. Zur NRF, dem Kernstück der Initiativen, formulierte er drei Voraussetzungen: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der Truppe beim NATO-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche Einsatz-Beteiligung nur nach einem Beschluß des Bundestages möglich. Die nationale Rechtslage in den NATO-Staaten müsse beachtet werden. Drittens müsse das Vorhaben mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein. Unter diesen Voraussetzungen werde man der Ausarbeitung eines Konzeptes für die NRF zustimmen.

Dahinter standen handfeste Befürchtungen. Fischer wollte verhindern, dass die NATO-Truppe auf Anforderung durch die USA oder andere NATO-Länder schnell und ohne die zeitraubenden Beschlussfassungsmechanismen der NATO eingesetzt werden kann. Er wollte dafür sorgen, dass z.B. der deutsche Parlamentsvorbehalt gewahrt wird, nahm aber zugleich billigend in Kauf, daß nun der Druck, mittels eines deutschen Entsendegesetzes Entscheidungsfindung in Deutschland zu beschleunigen, wächst. Diesen beiden Bedenken trägt das Gipfelkommunique jedoch Rechnung.

Schließlich die dritte Voraussetzung, die Vereinbarkeit mit den europäischen Krisenreaktionskräften: Das Kommunique postuliert diese solle gewahrt werden. Doch die Realität dürfte ganz anders aussehen.

Wird die NRF aufgestellt, so werden – wegen der Rotation - mindestens 60.000 der besten Soldaten dafür benötigt. Soldaten, die zumeist auch für die europäischen Krisenkräfte vorgesehen sind und den Kern der Einsatzfähigkeit der künftigen EU-Truppe berühren. Die Bundesrepublik plant beispielsweise, ihren Beitrag aus dem selben Pool von 18.000 Soldaten zu stellen, der auch für EU-Einsätze vorgesehen ist. Würde die NRF häufig angefordert oder wären ihre Kräfte auch nur oft in Bereitschaft, so stünden sie für EU-Einsätze kaum zur Verfügung. Genau dies dürfte aber eintreten. Die weltweite Bekämpfung des Terrorismus und die globale Unterstützung Washingtons können leicht eine Dauerbeschäftigung für die NRF sein.

Zudem: Um die Zusammenarbeit mit den US-Truppen zu gewährleisten, müssen die NRF-Verbände nach US-Vorbild modernisiert werden. Mit anderen Worten: Damit sie auch weiterhin im EU-Rahmen eingesetzt werden können, müssen auch die restlichen EU-Krisenkräfte verstärkt nach US-Vorbild modernisiert werden. Spötter bezeichnen deshalb die Prague Capability Commitments bereits als BAC, als "Buy American Commitments", und sehen in dem Oberkommando für Transformation eine Werbeagentur für die Transformation "the American way".

Der Aufbau autonomer EU-Fähigkeiten dürfte sich also zumindest verteuern, wenn er nicht gar weitgehend durch die NATO absorbiert wird. Zudem droht eine für die Europäer unliebsame Arbeitsteilung: Während die NATO sich auf globale Kampfeinsätze unter Führung der USA spezialisiert, müßten die EU-Krisenkräfte jene Aufgaben übernehmen, die die USA nicht interessieren: Friedensmissionen und das ungeliebte, weil langwierige Nation-Building nach Interventionen.

Trotz all diese Zugeständnisse an die USA würde Europa aber keine Gewähr dafür haben, dass die USA ihre europäischen NATO-Partner in der alles entscheidenden Frage berücksichtigen: Es gibt keine Garantie, dass Washington Europa strategische Mitsprache in der Frage gewährt wie mit Krisen umgegangen soll.

5. Der NATO-Gipfel und die ESVP

Anfang 2003 sollte sie endlich einsatzbereit sein, die 60.000 Mann starke Truppe, die der Europäischen Union eine autonome Möglichkeit zu militärischem Krisenmanagement verschaffen soll. Daraus wird nichts. Der erste Einsatz – die Übernahme der Friedensmission in Mazedonien – ist vertagt. Die NATO bleibt für sechs weitere Monate. Im Februar wird die Lage überprüft. Und warum die Verzögerung? Immer noch gibt es keine Einigung zwischen der NATO und der EU darüber, ob und unter welchen Bedingungen die EU auf die Planungskapazitäten und andere militärische Mittel der Allianz zurückgreifen kann. Der für Prag geplante EU-NATO-Gipfel wurde abgesagt. Verhindert wird die Einigung durch einen bizarren griechisch-türkischen Streit. Oder besser gesagt dadurch, daß die Türkei die Europäische Union vorführt, um nicht zu sagen grillt.

Ankara stellt auf zwei Feldern Bedingungen, droht mit seinem Veto in der NATO, die den beabsichtigten Verträgen mit der EU einstimmig zustimmen muß. Da ist zunächst der NATO-EU-Vertrag, der der EU einen garantierten Zugang zu den Planungskapazitäten der NATO sichern und dafür sorgen soll, daß die EU diese NATO–Fähigkeiten nicht dupliziert. Hier wurde zwar Einigkeit erzielt, daß bei Operationen, bei denen die EU auf NATO-Fähigkeiten zurückgreift, auch alle NATO-Staaten das Recht zur Beteiligung an der EU-Operation und damit ein Mitspracherecht haben, nicht aber, was geschieht, wenn die EU autonom agiert, d.h. nicht auf die Fähigkeiten der NATO zurückgreift. Die Türkei will auch dann ein Mitspracherecht – unter anderem wegen der Streitigkeiten in der Ägäis und um Zypern. Griechenland droht mit seinem Veto, wenn die türkischen Forderungen erfüllt würden. Ein Spiel, daß seit Jahr und Tag funktioniert und beliebig fortgeführt werden kann.

Zum zweiten geht es um das Sicherheitsabkommen zwischen der NATO und der EU, mit dem die militärischen Geheimnisse der NATO geschützt werden sollen. Der Abschluß ist Voraussetzung dafür, daß die EU die Mazedonien-Mission übernehmen kann, in der sie mit NATO-Kommandobehörden zusammenarbeiten und auf Aufklärungsergebnisse der NATO zurückgreifen würde. Auch hier droht die Türkei mit einem Veto. Ankara fordert, daß dieses Abkommen nur für die heutigen Mitglieder der EU gilt. Die Gültigkeit für die EU-Beitrittskandidaten soll unter Zustimmungsvorbehalt der NATO stehen. Mithin, unter türkischem Vorbehalt. Denn Zypern ist Kandidat für den EU-Beitritt. Und die Türkei drängt, endlich eine zeitlich klare Beitrittsperspektive eröffnet zu bekommen.

Frankreich forderte zwar immer wieder, die EU möge die Mazedonien-Mission auch dann unternehmen, wenn die türkische Blockade fortbestehe. Notfalls müsse die EU begrenzte eigene Planungskapazitäten aufbauen. Doch dazu konnten sich die EU-Staaten bislang nicht durchringen. Großbritannien ist zwar für den Aufbau der EU-Krisenkräfte, will deren Aufgabe aber am liebsten möglichst lange auf Friedensmaßnahmen begrenzen. Kampfaufgaben sollen von der NATO erfüllt werden. Andere europäische Staaten – darunter die Bundesrepublik – argumentieren, daß eigene EU-Kapazitäten, also eine Dopplung der NATO-Fähigkeiten, Geld und Zeit kosten. Ein "Satz an Fähigkeiten", aus dem sich EU und NATO bedienen, sei die beste Lösung. Mithin, der EU fehlt der gemeinsame politische Wille, das türkische Veto zu umgehen. Statt dessen wird das Prinzip Hoffnung proklamiert: Die Türkei werde schlußendlich schon einlenken.

Derweil können drei Akteure sich freuen. Solange der Streit währt, kann sich Großbritanniens Premier Blair gewiß sein, daß das "Schreckgespenst" einer Europäischen Armee und Verteidigung samt Einschränkung der britischen Souveränität in die ferne Zukunft gehört. Der NATO-Generalsekretär darf sich gewiß sein, daß am Vorrang der NATO in der europäischen Sicherheitspolitik nicht ernsthaft gerüttelt wird. Beide gemeinsam dürfen sich mit US-Präsident Bush über die Ergebnisse des Prager NATO-Gipfels freuen. Die stellen sicher, daß in der europäischen Sicherheit weiterhin nichts ohne die NATO geht.

Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleibt zahnlos; die EU-Krisenkräfte können weiter nicht eingesetzt werden. Das dürfte bei George W. Bush ein Schmunzeln ausgelöst haben. Europas Nationen haben ihm die fähigsten Teile ihrer Krisenkräfte für die NATO-Interventionstruppe zugesagt und versprochen, vorhandene Finanzmittel vorrangig für diese Truppe einzusetzen. Er kann sich nun zurücklehnen. Die militärische Unterstützung für Washington ist gesichert; was aus dem eigenständigen Krisenmanagement der EU wird und damit aus Europas Anspruch, nicht nur mitmachen, sondern auch mitentscheiden zu können, das wird man angesichts knapper Kassen sehen. Selbst wenn das Geld aufgebracht würde: Modernisiert wird in Europa jetzt wohl nach amerikanischem Gusto.

6. Die Osterweiterung

Zehn Kandidaten standen vor der Tür, sieben bekamen die Einladung zum Beitritt: Die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen, die Balkan-Staaten Slowenien, Bulgarien und Rumänien sowie die Slowakei. Außen vor bleiben vorläufig Kroatien, Albanien und Mazedonien. Der "big bang", die große Erweiterung wird realisiert. Im Frühjahr 2004 sollen die Beitritte – etwa zeitgleich zur Erweiterung der EU – bei einem erneuten Gipfels in Washington rechtswirksam vollzogen werden.

Erstaunlich ist, wie geräuschlos die zweite Erweiterung der Allianz vonstatten ging. Kein ausgedehnter Streit mit Rußland, keine öffentliche Diskussion über die Frage, ob die Baltischen Staaten im Ernstfall überhaupt verteidigt werden könnten, keine strategische Debatte, ob hier nicht zu vielen oder zu schwachen Kandidaten eine Beistandsgarantie gegeben werde.

Wesentliche Ursachen dafür liegen in Washington. Die Regierung Bush weist der NATO in Europa eine veränderte Rolle zu. Hier liegt die Bedeutung der NATO zunehmend im Politischen und weniger im Militärischen. Es wird immer unwahrscheinlicher, daß das Bündnisgebiet in einem klassischen Krieg verteidigt werden muß. Global kann die Allianz Washington begrenzt militärische Schützenhilfe leisten, ist aber kaum der unverzichtbare Partner, dem die USA ein Mitspracherecht einräumen müssen, wie mit einer Krise umgegangen werden soll. Die Kooperation wichtiger NATO-Staaten kann auch bilateral sichergestellt werden.

In Europa soll die NATO deshalb zum einen die Integration der mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten in die westlichen Institutionen absichern und ein Wiederaufflammen der Kämpfe auf dem Balkan verhindern. Sie soll zweitens den Einfluß der USA auf die europäische Sicherheitspolitik sichern und dies in einem deutlich erweiterten geographischen Raum. Vor allem Rumänien und Bulgarien haben dabei strategische Bedeutung. Ihr Beitritt verbessert die Möglichkeit, westliche Interessen im Schwarzmeerraum zu vertreten. Für den Balkan lautet das Signal: Die Stabilisierung Südosteuropas ist dauerhaft Gemeinschaftsaufgabe. Die Aufnahme von sieben Staaten auf einen Streich sichert Washingtons Einfluß in Europa nicht zuletzt auch deshalb, weil deren neue Eliten oft in den USA ausgebildet wurden.

Schließlich ist nach dieser großen Erweiterung klar, daß auf absehbare Zeit keine das Verhältnis zu Rußland politisch stark belastende Ausdehnung der NATO mehr ansteht. Das enthebt der Notwendigkeit, erneut über eine kompensatorische Vertiefung der Zusammenarbeit mit Rußland nachzudenken. Der 1997 eingerichtete, der Konsultation dienende Ständige Gemeinsame Rat wurde 2002 in einen NATO-Rußland-Rat umgewandelt, in dem im Konsens aller 20 Staaten auch gemeinsam Beschlüsse – z.B. zur Terrorismusbekämpfung - gefaßt werden können. Diese Art der Zusammenarbeit soll zunächst praktiziert werden. Als nächster Schritt – so die teils ernst gemeinte, teils spaßige Begründung – bleibe ja eh nur, Rußland die Vollmitgliedschaft zu offerieren. Doch damit lasse man sich besser viel Zeit.

Die NATO soll zwar für neue Mitglieder offen bleiben. Konkrete Maßnahmen aber, die weitere Staaten an den Beitritt zur NATO heranführen sollen, verlieren an Dringlichkeit. Ausgebaut werden soll dagegen die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus im Rahmen des Euro-Atlantischen Kooperationsrates. Viele Staaten, die für einen NATO-Beitritt auf absehbare Zeit nicht infrage kommen, spielen – wie die zentralasiatischen Republiken – als Stationierungsländer bei Interventionen eine wichtige Rolle.

7. Tagesordnungspunkt oder nicht? - Der Irak

Lange wurde gerätselt "Steht der Irak auf der Tagesordnung des Prager Gipfels oder nicht?" Washington hat ihn zum Thema gemacht. Präsident Bush wünschte die politische Unterstützung der NATO für das weitere Vorgehen gegen den Irak und er bekam sie. Nach langem Ringen war klar: Die NATO unterstützt die jüngste UN-Resolution zum Irak, droht Saddam Hussein mit ernsthaftesten Konsequenzen, verzichtet auf eine direkte militärische Drohung, erwähnt aber auch nicht explizit, daß im Falle irakischer Verstöße gegen die UN-Resolution der UNO-Sicherheitsrat das entscheidende Wort haben sollte. Quasi zeitgleich präsentierte die US-Regierung ihren Partnern bilateral die Frage, was sie zu einem neuen Krieg am Golf beitragen wollen.

 

Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Angelika Beer war bis vor kurzem verteidigungspolitische Sprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen im Bundestag. Sie arbeitet jetzt bei als externe Expertin bei BITS mit.