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08. November 2001 |
Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag zur
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!
"Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bereitschaft der Bundesregierung, den
Bekundungen der uneingeschränkten Solidarität mit den Vereinigten Staaten konkrete
Maßnahmen des Beistands folgen zu lassen. Dazu zählen politische und wirtschaftliche
Unterstützung sowie die Bereitstellung geeigneter militärischer Fähigkeiten zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus." Dies hat der Deutsche Bundestag
bereits am 19. September mit übergroßer, fraktionsübergreifender Mehrheit
beschlossen.
Rufen wir uns in Erinnerung, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen schon am
Tag nach den Anschlägen einstimmig die völkerrechtlich verbindliche Resolution 1368
verabschiedet hat. Darin wird festgestellt, dass die Angriffe eine Bedrohung des
internationalen Friedens und der Sicherheit darstellen und das Selbstverteidigungsrecht
nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen auslösen. Der NATO-Rat hat am
4. Oktober erstmalig in der Geschichte des Bündnisses den Bündnisfall nach
Artikel 5 des NATO-Vertrages festgestellt. Das Bündnis hat unverzüglich erste
Schritte zur Unterstützung der USA eingeleitet. Die Bundesrepublik Deutschland hatte
sich damit konkret verpflichtet, zu den Maßnahmen gegen den Terrorismus beizutragen.
Am 7. Oktober haben die Vereinigten Staaten, unterstützt von Großbritannien, mit
der militärischen Operation "Enduring Freedom" zur Bekämpfung des Terrorismus
begonnen. Die amerikanische Regierung hat nun konkrete Anfragen an uns gerichtet. Sie
umfassen die Bereitstellung von ABC-Abwehrkräften, einer Einheit zur Evakuierung von
Verletzten, von Spezialkräften der Bundeswehr, von Lufttransportkräften zum Transport
von Personen und Material sowie von Seestreitkräften - zum Beispiel zur Kontrolle
des freien Schiffsverkehrs und zum Schutz von Schiffen mit gefährlicher Ladung. Das
Bundeskabinett hat gestern beschlossen, dieser Bitte zu entsprechen.
Wir erfüllen damit die an uns gerichteten Erwartungen und leisten das, was uns
objektiv möglich ist und was in dieser Situation politisch zu verantworten ist. Alles in
allem werden an der Operation "Enduring Freedom" maximal 3.900 deutsche Berufs-
und Zeitsoldaten beteiligt sein. Ein gleichzeitiger Einsatz aller Soldaten ist allerdings
nicht zu erwarten. Das Mandat ist auf zwölf Monate begrenzt. Bei einer Verlängerung
müsste der Bundestag erneut befasst werden. Zunächst geht es nur um die Bereitstellung
der deutschen Kräfte, auch wenn der Bundestag schon jetzt um die Zustimmung für einen
späteren Einsatzbeschluss gebeten wird. Dieses Verfahren ist nicht neu.
Genauso hat der Bundestag in völligem Einklang mit der Verfassung bei seinem
Kosovo-Beschluss vom 16. Oktober 1998 gehandelt. Mir ist wichtig, folgendes
festzuhalten: Es geht weder um die deutsche Beteiligung an Luftangriffen noch um die
Bereitstellung von Kampftruppen am Boden. Der Beitrag, den wir leisten wollen, ist auch
Ausdruck unserer Bereitschaft, der gewachsenen deutschen Verantwortung in der Welt durch
konkretes Handeln Rechnung zu tragen. Dies geschieht auch im eigenen deutschen Interesse.
Meine Damen und Herren, natürlich stellen sich viele Menschen in Deutschland jetzt
besorgt die Frage, welche Konsequenzen der deutsche Beitrag für uns hat - und
insbesondere für unsere Soldaten. Es gibt darauf keine endgültige Antwort. Ich bin mir
wohl bewusst: Jeder Auslandseinsatz birgt Risiken und Gefahren. Aber ich möchte in
aller Deutlichkeit erklären: Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, die
bestmögliche Sicherheit unserer Soldaten zu gewährleisten. Wir sind nicht die
einzigen, die aufgefordert sind, ihrer Verantwortung auch durch einen militärischen
Beitrag nachzukommen. Kanada und Australien zählen zu den Staaten, die sich an den
Maßnahmen beteiligen - aber auch die Türkei, die Tschechische Republik und unsere
europäischen Partner Frankreich, Italien und Großbritannien.
Meine Damen und Herren, die militärischen Operationen richten sich auf der Grundlage
der Resolution 1368 des Sicherheitsrates gegen das terroristische Netzwerk von
Osama bin Laden und gegen das den Terrorismus unterstützende Taliban-Regime in
Afghanistan. Vergessen wir nicht, dass es sich hier um ein Gewaltregime handelt, das den
Tod vieler tausend Afghanen, das Unterdrückung und Massenvertreibungen und auch Akte
kultureller Barbarei zu verantworten hat. Ein Regime, das darüber hinaus terroristische
Bestrebungen mit dem Ziel fördert, die Stabilität arabischer und muslimischer Staaten zu
erschüttern.
Ich betone aber noch einmal: Der Kampf gegen den Terrorismus ist nicht mit
militärischen Mitteln allein zu gewinnen. Wir müssen dauerhafte Anstrengungen auf
vielerlei Ebenen unternehmen, um dieser Herausforderung zu begegnen. Wir können und
dürfen daher den militärischen Beitrag nicht losgelöst von einer solchen, umfassenden
Strategie für Sicherheit und Stabilität diskutieren.
Meine Damen und Herren, während meiner Reise nach Pakistan, Indien, China und Russland
in der vergangenen Woche habe ich große Übereinstimmung darin feststellen können, dass
die Überwindung des Taliban-Regimes als wesentliche Voraussetzung für eine
menschenwürdige Zukunft Afghanistans gesehen wird. Auf die Staatengemeinschaft kommen
in diesem Zusammenhang langfristig enorme Aufgaben zu. Das gilt auch für die Europäische
Union. Es geht in erster Linie um humanitäre Anstrengungen, mit denen das Leid von
Millionen von Afghanen gelindert werden kann. Viele scheinen das Ausmaß der humanitären
Katastrophe noch gar nicht richtig erfasst zu haben. Jedenfalls müssen und werden wir
unsere Anstrengungen zur Abwehr von Hunger und Flüchtlingselend nachhaltig verstärken.
Außerdem wird umfassende wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau Afghanistans
erforderlich sein.
Nicht zuletzt wird es darum gehen, an den Rahmenbedingungen für das friedliche
Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen Afghanistans mitzuwirken. Gemeinsam mit unseren
europäischen Partnern treten wir für eine Lösung ein, die aus dem Lande selbst heraus
entwickelt wird. Eine Lösung, die alle ethnischen Gruppen einbezieht und die berechtigten
Interessen der Nachbarstaaten berücksichtigt. Diese Lösung sollte unter dem Dach der
Vereinten Nationen herbeigeführt werden. Deutschland wird sich dabei seiner
Verantwortung nicht entziehen.
Darüber hinaus wollen wir unsere Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Staaten
ausbauen. Wir sind daran interessiert, eine Destabilisierung durch den von Afghanistan
ausgehenden internationalen Terrorismus zu vermeiden. Dafür brauchen wir ein umfassendes
Konzept, das neben dem politischen Dialog insbesondere auch wirtschaftliche und
Entwicklungszusammenarbeit einschließt.
Schließlich dürfen wir nicht in unseren Bemühungen um eine Lösung des
Nahost-Konfliktes nachlassen. Der ungelöste Nahost-Konflikt darf keine falsche
Berufungsgrundlage für das verbrecherische Handeln von Terroristen sein. Der
unermüdliche Einsatz des Bundesaußenministers zur Überwindung der Gegensätze in
der Region verdient Respekt und Anerkennung. Ich war mit meinen europäischen Kollegen bei
unserer Zusammenkunft am vergangenen Sonntag einig, dass die zutiefst besorgniserregende
Lage im Nahen Osten den Einsatz der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und
Russlands auf höchster Ebene erfordert.
Meine Damen und Herren, die Eindämmung des internationalen Terrorismus verlangt große
Anstrengungen und langen Atem. Wir haben ein gemeinsames Interesse, die militärische
Operation zu einem raschen und erfolgreichen Ende zu führen. Und wir begrüßen
ausdrücklich die Zusicherung der amerikanischen Regierung, alle nur möglichen
Vorkehrungen zu treffen, um zivile Opfer zu vermeiden. Mit unseren humanitären
Bemühungen machen wir zugleich deutlich, dass sich die militärischen Operationen nicht
gegen das afghanische Volk richtet, sondern gegen den Terrorismus. Allein Deutschland hat
in den vergangenen Jahren humanitäre Leistungen in Höhe von mehr als 100 Millionen
DM erbracht. Afghanistan war immer ein Schwerpunktland unserer humanitären Hilfe. Auch
deswegen haben wir in diesem Jahr den Vorsitz in der Afghanistan Support Group inne.
Mindestens ebenso wichtig wie militärisches und humanitäres Engagement sind
politische und diplomatische Bemühungen. Wirtschaftliche Maßnahmen kommen hinzu, ebenso
wie die notwendige Zusammenarbeit der Nachrichtendienste. Schließlich müssen wir uns
auch der geistigen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus stellen. Das heißt vor allem:
uns dem Phänomen stellen, dass Terroristen kulturelle, soziale und politische Missstände
für ihre mörderischen Zwecke instrumentalisieren. Diese geistige Auseinandersetzung
haben wir im Dialog mit den muslimischen Gesellschaften zu führen, die dabei allerdings
auch ihrer eigenen Verantwortung nachkommen müssen, um das Ziel einer gemeinsamen,
friedlichen und humanen Entwicklung zu erreichen.
Nur auf der Grundlage eines solchen umfassenden Konzepts und gemeinsamen Handelns wird
die internationale Koalition im Kampf gegen den Terrorismus erfolgreich sein. Meine
Damen und Herren, wir stehen im Kampf gegen den Terrorismus vor einer großen
Herausforderung. Sie ist nicht ohne Risiko. Sie birgt aber die Chance, Gefahren für die
friedliche Existenz und das friedliche Zusammenleben der Völker zu Beginn des
21. Jahrhunderts dauerhaft zu beseitigen.
Ich will aber abschließend noch auf eines hinweisen. Es geht bei unserer Entscheidung
auch um die Bündnisfähigkeit Deutschlands. Mehr als 50 Jahre lang haben die
Vereinigten Staaten in Solidarität zu uns gestanden. Es waren die Amerikaner, die uns
die Rückkehr in die Völkergemeinschaft ermöglicht, die unsere Freiheit garantiert
und unsere staatliche Einheit unterstützt haben. Über viele Jahrzehnte haben wir die
Solidarität der Amerikaner für selbstverständlich genommen und unseren Nutzen daraus
gezogen.
Bündnissolidarität ist aber keine Einbahnstraße. Und deshalb geht es jetzt auch
darum, unseren praktischen Beitrag zur Solidarität - die ja unseren gemeinsamen
Werten, unseren gemeinsamen Zielen und unserer gemeinsamen Zukunft in Sicherheit und
Freiheit gilt - zu leisten. Wir tun dies in offener, demokratischer und auch
kritischer Diskussion. Aber, wie ich hoffe, auch mit großer Geschlossenheit im
Ergebnis.
Ich danke Ihnen.
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