Eine neue NATO ohne Atomwaffen?Oliver Meier Als Joschka Fischer als neuer deutscher Außenminister auf der Tagung der NATO-Außenminister am 7./8. Dezember in Brüssel anregte, die Frage des nuklearen Ersteinsatzes gemeinsam und offen zu diskutieren, erntete er von seiner amerikanischen Amtskollegin zwar eine herbe Abfuhr. Fischer schilderte aber nach dem Treffen, daß viele seiner Kollegen ihm aber klammheimlich Zustimmung signalisiert hätten. Ob es allerdings zu einer Änderung der bestehenden Nukleardoktrin kommen wird, bleibt offen. Warum ist es zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer immer noch so schwierig, innerhalb der NATO offen darüber zu reden, ob es noch zeitgemäß ist, an der Option festzuhalten auf einen konventionellen Angriff mit Atomwaffen zu antworten? Diese Frage muß die NATO bis zum April 2000 beantworten, denn bis dahin will sie ein neues Strategisches Konzept verabschiedet haben, in dem auch die künftige Rolle der Atomwaffen in der NATO festgeschrieben wird. Jenseits der politischen Rhetorik um den nuklearen Ersteinsatz spiegeln sich in der Debatte um die künftige Rolle von Kernwaffen unterschiedliche Vorstellungen über den künftigen Charakter der NATO: Für die Angloamerikaner soll das Bündnis ein wichtiges militärisches Instrument zur gemeinsamen Interessenwahrnehmung auch außerhalb Europas werden. NATO Atomwaffen sollen nach dieser Vorstellung weltweit der Abschreckung von Staaten dienen, die über biologische, chemische oder nukleare Waffen verfügen, wobei die nukleare Vergeltung für einen Angriff auf die NATO mit ABC-Waffen explizit nicht ausgeschlossen wird. Auch die Gefahr eines politischen Umschwungs in Rußland verbunden mit einem Wiederaufleben der atomaren Konfrontation wird als Grund für eine Beibehaltung der bisherigen Nuklearpolitik angeführt. Viele Europäer hingegen sehen die NATO vor allem als Institution, die helfen soll, europäische Krisen zu stabilisieren und Konflikte zu lösen. Atomwaffen aber spielen in Konflikten wie im Kosovo keine Rolle. Einige NATO-Staaten befürchten zudem, daß ein Festhalten am Besitz von Kernwaffen den Weg in eine Welt ohne Massenvernichtungswaffen versperrt und im Gegenteil andere Staaten sogar zur Proliferation ermutigen könnte. Sie weisen darauf hin, daß gerade nach den indischen und pakistanischen Atomtests im Mai 1999 deutlich geworden ist, daß viele Staaten nicht mehr bereit sein könnten auf den Atomwaffenbesitz zu verzichten, wenn die militärisch überlegenen Staaten des Westens noch nicht einmal bereit sind, dne nuklearen Ersteinsatz aufzugeben. Der kanadische Außenminister Lloyd Axworthy mahnte auf der Tagung des NATO-Rates, daß die NATO-Staaten beim Schreiben des neuen Strategischen Konzeptes darauf achten sollten, wie andere dieses Dokument wahrgenommen wird: "Wir sollten vorsichtig hinsichtlich des politischen Wertes sein, den wir dem NATO Nuklearpotential beimessen, denn wir laufen sonst Gefahr, Proliferationskandidaten Argumente zu liefern, die diese zur Rechtfertigung ihrer eigenen Atomwaffenprogramme anführen können." Aufwertung und Reduzierung Diese unterschiedlichen Auffassungen über die künftige Rolle der NATO und die Bedeutung von Kernwaffen für die Allianz machen eine Anpassung der bestehenden Nukleardoktrin so schwierig. Bis heute gilt das schon 1991 in Rom verabschiedete "Strategische Konzept" der NATO, in dem immer noch von der Sowjetunion die Rede ist. Darin wird der Zweck von Nuklearwaffen zwar als "politisch" beschrieben, denn diese dienten der "Wahrung des Friedens und Verhinderung von Zwang und jeder Art von Krieg". Das Dokument strotzt ansonsten aber vor Kalter Kriegs Rhetorik und machte damals wenig Hoffnung, daß die NATO eines Tages ohne Atomwaffen bestehen könne. Die NATO-Mitglieder beschloßen 1991, daß "nukleare Streitkräfte (...) weiterhin eine wesentliche Rolle spielen (werden), indem sie dafür sorgen, daß ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden. Sie machen deutlich, daß ein Angriff jeglicher Art keine vernünftige Option ist". Kernwaffen seien die "oberste Garantie für die Sicherheit der Verbündeten". Dieser politischen Hervorhebung der Rolle von Atomwaffen steht die drastische Reduzierung der in Europa stationierten Kernwaffen seit 1990 gegenüber. Wahrscheinlich lagern heute nicht mehr als 180 taktische US-Atombomben in Europa, verteilt auf Stützpunkte in Belgien, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, und der Türkei. Jeder dieser Staaten mit Ausnahme Großbritanniens hält eigene Flugzeuge bereit und trainiert seine Piloten ständig, um im Kriegsfall, amerikanische Atomwaffen ins Ziel zu bringen. Zudem sind bestimmte seegestützte Kernwaffen der USA und Großbritanniens der NATO zugeordnet. Alle NATO-Staaten sind zudem berechtigt, an Beratungen über nukleare Einsatzplanung und Doktrin teilzunehmen. Im Ernstfall muß nicht nur der amerikanische Präsident den Atomwaffeneinsatz befehlen, sondern es müssen auch alle an dieser "nuklearen Teilhabe" partizipierenden Staaten ihre Zustimmung geben, damit NATO-Atomwaffen zum Einsatz freigegeben werden. Bei der Anpassung der Nukleardoktrin geht es auch um die Reform oder das Ende dieser "nuklearen Teilhabe". Dies ist auch deshalb so schwierig weil die nukleare Teilhabe das Ergebnis langer Diskussionen zwischen den Vertragsmitgliedern zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation war und als eine tragenden Säule der Allianz galt. Das in Rom 1991 verabschiedete "Strategische Konzept" beschreibt die "nukleare Teilhabe" denn auch als unverzichtbar: "Ein glaubwürdiges nukleares Streitkräftedispositiv des Bündnisses und die Demonstration von Bündnissolidarität und gemeinsamem Bekenntnis zur Kriegsverhinderung erfordern auch in Zukunft breite Teilhabe in die kollektive Verteidigungsplanung involvierter europäischer Bündnispartner an nuklearen Aufgaben, der Stationierung von Nuklearstreitkräften auf ihrem Hoheitsgebiet im Frieden und an Führungs-, Überwachungs- und Konsultationsvorkehrungen." Welche Möglichkeiten zur Reform der NATO-Nukleardoktrin bestehen dann? Möglichkeiten zur Reform Die NATO will ihr neues "Strategisches Konzept" anläßlich ihres fünfzigsten Geburtstages auf dem Gipfeltreffen am 24./25. April 1999 in Washington veröffentlichen. Die USA wollen den konventionellen Aufgabenbereich der NATO erheblich vergrößern, versuchen aber gleichzeitig jegliche Diskussionen über eine Änderung der nuklearen Komponenten neuen Strategie zu verhindern. Noch Ende November 1998 wurde Verteidigungsminister Scharping anläßlich des Besuchs bei seinem amerikanischen Amtskollegen von diesem beschieden, daß die Nukleardoktrin der NATO dazu dient den "Frieden zu erhalten und die Abschreckung zu verbessern" und es daher "keinen Grund gebe, eine Änderung in Betracht zu ziehen". Zu groß ist offensichtlich die Angst, daß eine offene Diskussion über Sinn und Unsinn der nuklearen Abschreckung nach dem Ende der Sowjetunion zu einer Reduzierung der Bedeutung von Atomwaffen in der NATO führen könnte. Anderen NATO-Mitgliedern erscheint es widersprüchlich, einerseits eine "neue NATO" zu fordern, die den Erfordernissen der internationalen Politik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gerecht werden soll, andererseits aber genau den Bereich, der Inbegriff des Kalten Krieges war - nämlich die Nuklearstrategie - unangetastet zu lassen. Kanada erhob daher als erstes NATO-Mitglied öffentlich die Forderung nach einer grundlegenden Überprüfung der NATO-Atomwaffenpolitik. Aber erst als die neue deutsche Regierung vorschlug, die Option auf den nuklearen Ersteinsatz zu überpüfen und damit eine der heiligen Kühe der NATO Atomwaffenstaaten zum Schlachten freigab, kam Bewegung in die Debatte. Denn die Diskussion um die Möglichkeit, Atomwaffen als Antwort auf einen "Angriff jeglicher Art" also auch einen konventionellen Angriff einzusetzen zu können, trifft den Kern des Streits um die künftige Aufgabe von Atomwaffen. Ursprünglich sollte durch den "first use" die vermeintliche konventionelle Überlegenheit der Warschauer Vertragsstaaten ausgeglichen werden. Mittlerweile wird die Drohung mit nuklearer Vergeltung vor allem als Antwort auf einen Angriff mit biologischen oder chemischen Waffen diskutiert. Ein amerikanisches Planungsdokument aus dem Jahr 1996 belegt, daß US-Nuklearstrategen sich sogar Gedanken über die nukleare Abschreckung von "nichtstaatlichen Akteuren", also zum Beispiel internationaler Terroristen machen. Schließlich fordern einige an der Nuklearwaffenplaner sogar die Option auf den präventiven Atomwaffeneinsatz offenzuhalten. Sie argumentieren, daß Kernwaffen in bestimmten Fällen militärisch unersetzbar sind, beispielsweise wenn es darum geht, schwer verbunkerte Bestände an Massenvernichtungswaffen zu zerstören. Eine verbindliche Aufgabe des nuklearen Ersteinsatzes dürfte daher nur schwer durchzusetzen sein. Aber es gibt andere, wichtige Anpassungen, die signalisieren können, daß die NATO bereit ist, auf ihre Kernwaffen zu verzichten. Schon 1990 war schon einmal kurz in NATO-Dokumenten die Rede davon, daß Atomwaffen lediglich "letztes Mittel" ("last resort") zur Verteidigung der Bündnismitglieder sei. Die Wiedereinführung dieses Ausdrucks würde signalisieren, daß zumindest der präventive Einsatz von Kernwaffen ausgeschlossen wird. Zudem könnte die Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes auf den Fall der nuklearen Vergeltung beschränkt werden. Dies würde der Erklärung von negativen Sicherheitsgarantien gegenüber allen Nichtkernwaffenstaaten gleichkommen und ein wichtiges politisches Symbol senden, daß Kernwaffen an Bedeutung verlieren. Schließlich gibt es eine Reihe konkreter Maßnahmen, die nicht nur die Gefahr durch Atomwaffen verringern, sondern zudem signalieren, daß die nukleare Abrüstung weiter vorangetrieben wird. So ist es höchste Zeit, die in Westeuropa und Rußland noch vorhandenen taktischen Atomwaffen endlich in Verhandlungen miteinzubeziehen und zwar unabhängig davon, ob der START II-Vertrag in Kraft tritt. Ein Abzug der noch in Westeuropa verbleibenden amerikanischen Waffen wäre zudem denkbar, ohne daß die mit "nuklearen Teilhabe" verbundenen politischen Mechanismen zwangsläufig abgeschafft werden müssen. Denn die nukleare Teilhabe hat zumindest den Vorteil, daß die Zustimmung von jetzt 16 und bald 19 Staaten erforderlich ist, um den Einsatzbefehl der in Westeuropa lagernden amerikanischen Atomwaffen zu erteilen. Sollte sich die amerikanische Linie durchsetzen und die neue Nuklearstrategie auch im neuen Jahrtausend die alte bleiben, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die nukleare Abrüstung und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen insgesamt. |