Ölreichtum zwischen Segen und Fluch: Beispiel Iran *)1
Gastbeitrag von Mohssen Massarrat
Iran ist der viertgrößte Ölexporteur der Welt und der Ölpreis
steigt und steigt. Eigentlich verfügt Irans Regierung über finanzielle
Rahmenbedingungen, von denen manch andere Regierungen in den Industrie-
und Entwicklungsländern nur träumen können. Eigentlich
hätte der iranische Präsident auch die einmalige Chance, durch
schlüssige Industrieprojekte mehrere Millionen von Arbeitsplätzen
zu schaffen und die Arbeitslosenrate von offiziell 20 % drastisch zu senken.
Denn an qualifiziertem Personal und starker Inlandsnachfrage mangelt es
kaum. Es wäre auch durchaus möglich, parallel dazu das gesamte
Sozialsystem zu reformieren, in benachteiligten Regionen die Industrialisierung
zu fördern und der Landflucht in die großen Städte Einhalt
zu gebieten und die sozialen Ungleichheiten zu verringern. Wie kommt es
aber, dass genau dies nicht geschieht und dass im Gegenteil die Inflation
über 20 % beträgt, die Kaufkraft der Lohn- und Gehaltsabhängigen
ständig abnimmt und reiche Schichten immer reicher und arme Schichten
immer ärmer werden?
Die reale Entwicklung im OPEC-Land Iran zeigt zunächst einmal, dass
die Annahme, reiche Bodenschätze gleich florierende Wirtschaft und
ausgleichende Gerechtigkeit, nicht stimmt. Sprudelnde Ölquellen müssen
nicht in jedem Fall ein Segen sein, sie können sogar zum Fluch werden.
Für Iran war der Ölreichtum jedenfalls eindeutig mehr Fluch
als Segen. Dafür können zwei Ursachenkomplexe verantwortlich
gemacht werden, die folgenreich sind: einen wirtschaftlichen, der als
Dutch disease (holländische Krankheit) bezeichnet wird, und einen
politischen Ursachenkomplex, den man mit Bürokratisierung und Machtmonopolisierung
– typisch für Rentierstaaten - umschreiben kann.
Die holländische Krankheit, einer Erscheinung, die in Holland durch
steigende Deviseneinnahmen aus Erdgasexporten in den 1960er Jahren bekannt
ist, besagt, dass durch hohe Deviseneinnahmen aus den Ölexporten
sich der Wechselkurs deutlich über seinem realen Wert bewegt und
folglich der Export aller anderen Waren verteuert wird. Dadurch werden
alle Sektoren, die bewegliche, d. h. exportfähige Waren produzieren,
hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit, wie dies im Falle Hollands
geschah, zurück geworfen oder deren Entwicklung, wie im Falle Irans,
strukturell behindert. Das inländische Kapital wird somit nicht in
die Industrialisierung der ökonomischen Entwicklung investiert, sondern
in Sektoren mit unbeweglichen Gütern, insbesondere im Bausektor und
in Bodenspekulationen.
Statt also das Land zu industrialisieren und Importe durch eigene Exporte
zu finanzieren, werden Länder wie der Iran strukturell und dauerhaft
abhängig von Warenimporten. Statt Produktivitätssteigerung in
allen Sektoren, statt flächendeckender Beschäftigung und der
Erweiterung des Binnenmarktes sowie der kontinuierlichen Erhöhung
der Massenkaufkraft, setzt sich ein defektes Wirtschaftssystem mit florierendem
Bausektor und bestenfalls Industriesektoren, die auf dem Weltmarkt nicht
wettbewerbsfähig sind, durch. Dieses System blockiert im Prinzip
die Entwicklung der ökonomischen und menschlichen Kapazitäten
und verwandelt diese dem Wesen nach in mehr oder weniger unproduktive
und von Warenimporten abhängige Konsumenten. Dazu ein hoch aktuelles
Beispiel: Um die Nachfragelücke bei Benzin im Iran zu decken, hätte
die iranische Regierung den anstrengenden Weg der Erweiterung der Raffineriekapazitäten
gehen können, sie entschied sich aber für den einfacheren Weg
der Benzinimporte, weil die Öleinnahmen gestiegen sind. Dieses Beispiel
belegt auch die gravierend negativen Auswirkungen auf das Verhalten von
Regierungen, die lieber zu kurzfristigen Lösungen greifen, um in
der öffentlichen Wahrnehmung eine erfolgreiche Politik und Handlungsfähigkeit
vorweisen zu können und eine Scheinstabilität vorzutäuschen.
Im Unterschied zum Iran haben Länder ohne Öleinnahmen, wie
Südkorea, Malaysia oder die Türkei die Schwelle zu Industrieländern
längst überschritten, da sie erstens bei real bewerteten Wechselkursen
ihren Vorteil niedrigerer Löhne für die Exportförderung
und solidere Industrialisierung nutzen können und zweitens weil sie
mangels Drucks angesichts knapper Devisen sich in der Regel für langfristig
wirkende Politikmuster entschieden haben. Selbst im Iran entstanden die
wenigen Industrialisierungsfortschritte in den Perioden der niedrigen
Öleinnahmen in den 1990er Jahren. Das Beispiel China belegt eindrucksvoll
die alternativen Industrialisierungsmöglichkeiten. China ist auf
den Import von Öl und Gas angewiesen, verfügt also nicht einmal
über Ressourcen für den eigenen Bedarf. Das Land ist aber kurz
davor, Exportweltmeister zu werden und verfügt mit seinen Devisenreserven
von über 500 Mrd. US-Dollar inzwischen auch über einen ökonomischen
Machthebel gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika. Dass aber
dabei der soziale Ausgleich in China zu kurz kommt und Chinas Regierung
auch auf ökologische Folgen ihrer Industrialisierungspolitik wenig
Rücksicht nimmt und dass Hunderttausende, ja Millionen Menschen unter
menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen ihr Leben fristen müssen,
ist auf das Fehlen freier Gewerkschaften und auf mangelnde Demokratie
in China zurückzuführen.
Der zweite Ursachenkomplex als Folge des Rentierstaates (Aufblähung
des Staatsapparates und der Machmonopolisierung) ist zwar ein Problem,
mit dem sich alle Entwicklungsgesellschaften herumschlagen müssen,
weil hier die Transformation des politischen Systems 200 Jahre später
als in Europa einsetzt und die Eliten samt politischem System in den Sog
kolonialer und neokolonialer Abhängigkeiten geraten sind. In den
OPEC-Staaten, unter ihnen z. B. der Iran, verfestigen sich diese Strukturen
zusätzlich und nachhaltig durch die Öleinnahmen. Der Staat und
dessen Herrschaftseliten handeln unabhängig von Steuereinnahmen,
daher auch vom Steuerzahler, er löst sich von der eigenen sozialen
Basis ab und neigt dazu, sich die eigene Legitimität durch Waffen,
Militär, Aufblähung des Staatsapparates zu beschaffen. Er behindert
somit auf jeden Fall die Demokratieentwicklung. Dadurch wird eine derartige
Herrschaft auch anfälliger für Umstürze, wie der Sturz
des Schahs 1979 zeigt. Im postrevolutionären Iran verstärkten
die Öleinnahmen massiv die Tendenz zur Machtmonopolisierung und zum
Klientelismus. Der dauerhafte Zugriff auf die Öleinnahmen entwickelt
sich zur alles andere bestimmenden Strategie der politischen Akteure.
Die Elite der Islamischen Republik schließt den laizistischen Teil
der Gesellschaft aus dem politischen System aus und schafft mittels Öleinnahmen
klientelistisch die eigene soziale Basis und Legitimität.
Nun ist aber mit Irans gegenwärtigen Präsidenten Ahmadinedschad
ein neuer Kampf innerhalb des politischen Systems selbst um den Zugriff
auf die Öleinnahmen ausgebrochen. Um die eigene Machbasis gegenüber
den anderen systemtreuen Machtgruppen für die nächste Wahl zu
sichern, steht die Bedienung der eigenen Klientel an erster Stelle. Die
politische Herrschaft und die Legitimation wird in der Islamischen Republik
weniger denn je durch politische Programme und gesellschaftliche Debatten
über die realen Interessen divergierender Schichten und Gruppierungen
der Gesellschaft (ArbeiterInnen, Staatsbeamte, Bauern und quer dazu stehenden
einflussreichen Netzwerken der Kriegsveteranen etc.) hergestellt, sondern
darüber, wer den stärksten Zugang zu den Öleinnahmen hat,
um durch eine unkontrollierte und willkürliche Ausgabenpolitik die
eigene Klientel zu bedienen: eine verhängnisvolle Entwicklung, die
nicht nur die zaghaften Ansätze zur Demokratisierung zerstört,
sondern die negativen Auswirkungen der holländischen Krankheit, eben
durch „sachfremde“ und populistische Ausgabenpolitik verstärkt.
Steigende Inflation durch die willkürliche Plünderung der Öldeviseneinnahmen
und der Erhöhung des Geldvolumens treibt das überschüssige
Kapital in die Bodenspekulation und in steigende Bodenpreise und Mieten
– den letzten zwei Jahren beispielsweise um das Dreifache.
Des Weiteren verschärft sich dadurch die Armut größerer
Bevölkerungsteile, während Vermögensbesitzer noch reicher
werden. Die anhaltend steigende Güternachfrage als Folge steigenden
Geldvolumens wird abermals durch steigende Warenimporte gedeckt. So schließt
sich der Teufelskreis der ökonomischen und politischen Folgen beträchtlicher
Öleinnahmen und verwandelt paradoxerweise natürlichen Ölreichtum
in Armut sowie soziale Ungleichheit und er begünstigt obendrein auch
die Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen und die Demokratieblockade.
Das Beispiel Norwegen belegt aber, dass nicht der Ölreichtum an
sich die Ursache der Misere sein muss. Vielmehr sind es offensichtlich
die Mechanismen der politischen Herrschaft, die den Segen des natürlichen
Reichtums zum Fluch in der gesellschaftlichen Realität machen. Der
Rechtsstaat und die Demokratie in Norwegen verhindern nämlich den
willkürlichen Zugriff auf die Öleinnahmen. Der in den 1990er
Jahren geschaffene Ölfonds enthält inzwischen beinahe 400 Mrd.
USDollar. Die Regierung darf nur durch Parlamentsbeschluss und maßvoll
die Devisen dieses Fonds in norwegische Währung umtauschen. Der Rest
wird gewinnbringend im Ausland investiert. Wie man sieht, ist die demokratische
Kontrolle der Politik der Schlüssel zur Lösung einer sozial
ausgeglichenen Industrialisierung und Wohlstandsvermehrung, und das könnte
auch im Iran so sein. Mit dem Sturz der demokratisch gewählten Regierung
Mossadegh durch CIA und inländische iranische Machteliten, wurde
1953 mutwillig der Beginn einer Entwicklung verhindert, die die Grundvoraussetzung
dafür darstellt, dass auch im Iran langfristig angelegte und sozial
ausgeglichene Industrialisierung beginnt. Der zaghafte Versuch des iranischen
Präsidenten Khatami 1999, dem Beispiel Norwegen zu folgen und einen
Öldevisenfonds zu schaffen und die Misere der negativen Auswirkungen
der Öleinnahmen einzuschränken, ist leider gescheitert. Das
iranische Parlament hat de facto keine Kontrolle über diesen Fonds
und damit keinen Zugriff darauf.
Mohssen Massarrat, geboren im Iran, ist Professor für
Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Seit Jahren aktiv in der
Friedensbewegung war er Mitbegründer der "Koalition für Leben und Frieden".
*1) Erschienen mit dem Titel „Irans wirtschaftliche Miseren“ im Sommer 2008 in INAMO 54. INAMO ist ein
Info-Magazin für den Nahem und Mittleren Osten.
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