Eskalation oder Ausstieg am Hindukusch?
Obamas schwierige Entscheidung
Gastbeitrag von Thomas Horlohe
Barack Obama benötigt eine neue, eine verbesserte Version seiner
Afghanistan-Pakistan-Strategie, „AfPak 2.0“ sozusagen. Hierfür nimmt
sich der Präsident Zeit. Seit Mitte Oktober hat er sein Sicherheitskabinett
zu einer ganzen Serie intensiver Sitzungen zusammengerufen. Wann Obama
seine Entscheidung treffen wird, darauf legen sich seine Sprecher nicht
fest. Es werde wohl noch einige Wochen dauern.
Spätestens mit der Verkündung der AfPak-Strategie im März
hat Obama den Konflikt am Hindukusch zu „seinem“ Krieg gemacht. Nun hat
ausgerechnet die verbündete Karsai-Regierung ihm eine erste Niederlage
beigebracht - an den Wahlurnen, nicht auf dem Gefechtsfeld. Ein überaus
bemerkenswerter und zutiefst beunruhigender Vorgang. Denn er untergräbt
das Vertrauen der US-Bevölkerung in ihren Präsidenten. Im April,
also unmittelbar nach Bekanntgabe seiner neuen Strategie, hatte die Zustimmungsrate
zu Obamas Afghanistan-Politik noch 63 Prozent be-tragen. Laut einer Umfrage
der WASHINGTON POST und des Fernsehsenders ABC von Mitte Oktober ist sie
inzwischen auf 45 Prozent abgesunken. Mittlerweile stehen 47 Prozent der
Befragten der Afghanistan-Politik skeptisch gegenüber.
Obamas politische Gegner wittern ihre Chance und erhöhen den Druck.
Richard Cheney, Ex-Verteidigungsminister, vor kurzem noch mächtiger
Vizepräsident, geistiger Vater des Irak-Krieges und selbst ernannte
Gallionsfigur der republikanischen Rechten kritisiert die lange Bedenkzeit,
die sich Obama genommen hat:
O-Ton Cheney (overvoice)
„Nachdem der Präsident im März seine Afghanistan-Strategie
angekündigt hat, scheint er nun vor den notwendigen Entscheidungen
zurückzuschrecken und unfähig zu sein, seinem Kommandeur die
Truppen zu geben, die er benötigt, um seinen Auf-trag auszuführen.
(…) Das Weiße Haus muss aufhören zu zaudern, während
die Streitkräfte Amerikas sich in Gefahr befinden.“
Auch dieses Vorgehen ist ungewöhnlich: Der Vizepräsident einer
wegen ihrer Kriegspolitik gerade abgewählten Regierung geht den amtierenden
Präsidenten polemisch und deutlich unter der Gürtellinie an
und wirft dem Oberbefehlshaber mangelnde Unterstützung der eigenen
Truppen vor. Die Cheney-Kritik erinnert an die US-amerikanische Spielart
der „Dolchstoß-Legende“, die seit dem Vietnam-Krieg unterschwellig
das Verhältnis zwischen Militärs und Regierung belastet. Ihr
Tenor: Zivilisten haben den Befehlshabern im Feld die Truppen verweigert,
die sie für den Sieg benötigt hätten.
Robert Gates, Verteidigungsminister unter George Bush und auf Bitten
Obamas weiter im Amt, hält betont sachlich dagegen:
O-Ton Gates (overvoice)
„Man sollte sich daran erinnern, dass die Debatte innerhalb der Bush-Regierung
über die Truppenaufstockung im Irak drei Monate dauerte, von Oktober
bis Dezember 2006. (…) In Wirklichkeit ist es doch so, dass selbst wenn
der Präsident entscheiden würde, zusätzliche Kampftruppen
nach Afghanistan zu schicken, die ersten Soldaten dort nicht vor Januar
eintreffen könnten.“
Zwei Alternativen liegen Obama zur Auswahl vor: Der erste Vorschlag stammt
von General McChrystal. In seinem am 30. August abgelieferten 60-seitigen
Zustands-bericht zeichnet der ISAF-Befehlshaber ein düsteres, kritisches,
ja dramatisches Bild der Lage in Afghanistan. McChrystal will das Konzept
der Aufstandsbekämpfung, die sogenannte Counterinsurgency- bzw. COIN-Doktrin
konsequent anwenden und den Schutz der afghanischen Bevölkerung in
den Mittelpunkt seiner Anstrengungen stellen. Ihr Vertrauen müsse
gewonnen werden, um das Blatt zu wenden. Die Be-kämpfung von Taliban-
und Al QaidaKämpfern ist für den US-General zweitrangig. Die
Aufstandsbekämpfung in Afghanistan erfordere zwischen 40.000 und
80.000 US-Soldaten zusätzlich.
Der zweite Vorschlag kommt von Vizepräsident Joe Biden. Der ehemalige
Senator hält in der Demokratischen Partei eine Truppenaufstockung
für politisch kaum durch-setzbar. Vor allem aber schreckt ihn die
Aussicht, auf unabsehbare Zeit weiterhin hohe Verluste für ein korruptes
Regime in Kabul in Kauf nehmen zu müssen. Biden will eine Beschränkung
auf den Antiterrorkampf gegen Al Qaida und ihre ver-bündeten Taliban.
Geführt werden soll dieser Kampf vorzugsweise mit Spezialein-heiten
und unbemannten Flugkörpern.
Obama sieht sich vor die Wahl gestellt zwischen Aufstandsbekämpfung
– Counterinsurgency – und Antiterrorkampf – Counterterrorism. Pikanterweise
werden damit erneut zwei gegensätzliche Positionen artikuliert, die
bereits in den Vorüber-legungen zur Afghanistan-Pakistan-Strategie
AfPak vom März eine Rolle spielten. In der Endfassung wurden sie
dann stillschweigend miteinander vermengt. Die neue Strategie, also „AfPak
2.0“, wird diesen Fehler ausbügeln müssen.
Beide Alternativen dürften Obama nicht überzeugt haben. McChrystals
Strategie er-fordert viele zusätzliche Truppen, einen langen Atem,
die Bereitschaft, hohe Verluste in Kauf zu nehmen und bietet dennoch keine
verlässliche Ausstiegsperspektive. Vor allem aber berücksichtigt
McChrystals Ende August abgeschlossener Bericht noch nicht die Folgen
der manipulierten Präsidentschaftswahl vom 20. August. Die zentrale
Frage einer Strategie der Aufstandsbekämpfung für Afghanistan
wird von McChrystal gar nicht gestellt: Wie soll das ungeliebte westliche
Militär die afghanische Bevölkerung gegen die Taliban und gegen
die Regierung in Kabul schützen? Denn zunehmend erweist sich die
korrupte Regierung Karsai als wichtigster Rekrutierungshelfer für
die Taliban.
Hinzu kommt, dass McChrystal nur einen Teil des Gesamtproblems angehen
kann. Denn er ist nur für Afghanistan zuständig - nicht aber
für Pakistan. Auf der anderen Seite der Grenze führt die pakistanische
Armee einen konventionellen Feldzug gegen unkonventionell kämpfende
Taliban. Der zivile Wiederaufbau in den von Taliban geräumten Distrikten
bleibt im Ansatz stecken. Vom Schutz der Bevölkerung als Operationsziel
ist man dort weit entfernt. Die pakistanischen Taliban haben in einer
beispiellosen Anschlagsserie, unter anderem gegen das Armeehauptquartier
in Rawalpindi, unter Beweis gestellt, dass sie schnell, flexibel und grausam
zielgenau eskalieren können.
Andererseits wirken auch die Vorstellungen von Vizepräsident Biden
unausgereift. Terroristenjagd mit Fernbedienung? Wenn es möglich
sein soll, den Antiterrorfeldzug mit einer klugen Kombination von Satellitenaufklärung,
Drohnen und Spezialtruppen erfolgreich zu führen - warum ist das
dann nicht schon längst geschehen?
Präsident Obama weiß, dass „AfPak 2.0“ kein Misserfolg werden
darf. Es steht viel auf dem Spiel. Einen dritten Versuch hat er nicht.
Die Vorschläge, die ihm bislang vorgelegt wurden, werden seinen Anforderungen
nicht gerecht. Deshalb hat er seine Berater zurück an die Arbeit
geschickt, um mit besseren Optionen wieder zu kommen. Es sei an der Zeit,
belehrte Obama unlängst einige Kongressabgeordnete, das Scheinargument
beiseite zu schieben, es gehe darum, entweder die Truppen zu verdoppeln
oder abzuziehen. Klar ist, die neue Afghanistan-Pakistan-Strategie darf
keine Blaupause für einen Abnutzungskrieg sein, für welches
hehre Ziel auch immer. Aber auch alles was nach Rückzug aussieht,
sollte vermieden werden. Die amerikanische Öffentlichkeit liebt Sieger.
Verlierern verzeiht sie nicht.
Doch über „AfPak 2.0“ wird nicht am Hindukusch entschieden, sondern
an der Heimatfront. Dort, in den Talkshows des US-Fernsehens und in den
Kommentar-spalten der großen Tageszeitungen, wird in diesen Tagen
immer häufiger eine historische Analogie bemüht, die es in sich
hat: Vietnam.
„Lessons in Disaster“, heißt der Titel eines Sachbuches. Frei übersetzt:
„Was man aus einer Katastrophe lernen kann.“ Dieses Buch wird mittlerweile
dem Präsidenten und seinen Beratern als Lektüre empfohlen. Sein
Autor, Gordon M. Goldstein, erklärt warum:
O-Ton Goldstein (overvoice)
„Die Parallelen zwischen Vietnam und Afghanistan sind wirklich verblüffend
und wahrhaft besorgniserregend. […] Sowohl in Vietnam wie in Afghanistan
haben wir ein großes Nachbarland, das eine Aufstandsbewegung unterstützt
und stärkt. In beiden Ländern sehen wir eine korrupte oder
unfähige Stellvertreterregierung an der Macht. In beiden Fällen
kämpfen wir keinen konventionellen Krieg. Wir kämpfen gegen
eine Aufstandsbewegung, führen eine Form des militärischen
Konflikts, die wir weit weniger gut beherrschen als alle anderen. Und
in beiden Situationen sehen wir uns daheim und international schwindender
öffentlicher Unterstützung für einen Konflikt gegenüber,
für den offenbar kein identifizierbarer Endpunkt in Sicht ist.
Wir stehen wirklich vor einem äußerst schwierigen Problem.“
Vietnam hat Präsident Johnson zur Verzweiflung getrieben und die
Nation traumatisiert. So weit will es Obama nicht kommen lassen. Das zurückgewonnene
Ansehen der USA in der Welt wird Präsident Obama kaum für ein
fragwürdiges En-gagement am Hindukusch aufs Spiel setzen wollen.
|