Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
1. Dezember 2012


Operation "Säule der Verteidigung" –
Gaza-Militäraktion ohne politische Strategie?

Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski

Offiziell begann die israelische Militäroperation „Säule der Verteidigung“ mit der gezielten Tötung des Militärchefs der Hamas, Ahmed al-Dschabari. Für die Regierung in Jerusalem eine Reaktion auf den Beschuss des Südens Israels mit Kassam-Raketen und anderen Flugkörpern.

Israel hat immer wieder deutlich gemacht, dass man das nicht hinnehmen werde. Zum Beispiel im vergangenen Jahr. Regierungschef Netanjahu verwies damals auf die Seeblockade des Gaza-Streifens durch die israelische Marine:

O-Ton Netanjahu (overvoice)
„Wir haben nichts gegen die Menschen in Gaza. Wir machen uns Sorgen wegen der Hamas, einer Terrororganisation, die Raketen auf Israel abfeuert. Das ist unsere Sorge und das ist der einzige Grund für die Marineaktion.“

Das Raketenpotenzial der Hamas zu zerstören und den Waffenschmuggel zu verhindern, war daher ein zentrales Ziel der israelischen Militäroperation.

Die Sicherheitskräfte hatten aber auch schon lange zuvor versucht, den Waffenschmuggel zu unterbinden. Im Oktober ereignete sich in einer Fabrik im Sudan eine heftige Explosion. Es heißt, dort würde der Iran Waffen produzieren. Die Anlage wurde damals vollkommen zerstört. Die sudanesische Regierung warf Israel vor, für die Explosion verantwortlich zu sein. Mehrere Kampfflugzeuge seien in den sudanesischen Luftraum eingedrungen und hätten die    Fabrik angegriffen. Die Regierung in Jerusalem schweigt zu diesen Anschuldigungen. Israelische und US-Offizielle behaupten allerdings schon seit langem, dass der Sudan eine zentrale Anlaufstelle für den Schmuggel iranischer Fadschr-Raketen in den Gaza-Streifen sei. Fadschr-Raketen haben eine Reichweite von bis zu 75 Kilometern. Während der Militäroperation sind diese Flugkörper erstmals auch auf Jerusalem und Tel Aviv abgefeuert worden. Für die NEW YORK TIMES war die Zerstörung der sudanesischen Fabrik, rund einen Monat vor den israelischen Luftangriffen im Gaza-Streifen, der eigentliche Beginn der jüngsten Militäroperation.

Wie bei der Operation „Gegossenes Blei“ zum Jahreswechsel 2008/2009 verfolgte die israelische Regierung auch diesmal das Ziel, die Hamas und die anderen radikalen Gruppen im Gaza-Streifen militärisch zu schwächen. Nach  israelischen Angaben sind im vergangenen Monat bei den acht Tage dauernden Luftangriffen mehr als 1.500 militärische Ziele im Gaza-Streifen zerstört worden. Während der dreiwöchigen Militäroperation vor vier Jahren lag die Zahl der Luftangriffe dagegen bei knapp 700 - sie war also deutlich niedriger. Zudem waren Bodentruppen in den Gaza-Streifen einmarschiert. Das Ziel der israelischen Regierung war damals, mit der Operation nicht nur die Hamas zu schwächen, sondern generell die militärische Abschreckung wiederherzustellen. Radikale Palästinenser sollten durch die militärische Machtdemonstration davon abgehalten werden, Israel mit Raketen zu beschießen.

Doch die Abschreckung hat nicht funktioniert wie sich jetzt gezeigt hat. Im Gaza-Streifen wurde massiv aufgerüstet – trotz der israelischen Blockade-Politik. Zum Vergleich: Während der militärischen Auseinandersetzung zum Jahreswechsel 2008/2009 sind aus dem Gaza-Streifen in der ersten Woche rund 350 Raketen auf Israel abgefeuert worden. Bei der Operation „Säule der Verteidigung“ im vergangenen Monat sind rund 1.000 Raketen auf Israel abgeschossen worden – also drei Mal so viel. Einige auch auf Jerusalem und Tel Aviv mit der Folge, dass dort erstmals seit dem Golfkrieg 1991 Luftalarm ausgelöst werden musste. Außerdem wurde kurz vor Abschluss der Waffenruhe auf einen Bus in Tel Aviv ein Terroranschlag verübt – davon war Israel in den vergangenen Jahren verschont geblieben. Es gab zahlreiche Verletzte. Radikale  Islamisten wollten mit diesem Terrorakt offenbar demonstrieren, dass sie in der Lage sind, auch in den israelischen Metropolen zuzuschlagen.

Der Hamas und anderen radikal-islamistischen Gruppen war es also gelungen, trotz der Blockade und Abriegelung des Gaza-Streifens ihr Waffenarsenal seit der letzten Militäroperation vor vier Jahren aufzufüllen. In Israel wird aber trotzdem weiter auf militärische Abschreckung gesetzt.  Militäraktionen wie im vergangenen Monat müsse es auch weiterhin regelmäßig geben, um die Abschreckung glaubwürdig zu halten, ist dort zu hören. „Cutting the grass“, also regelmäßig das „Gras schneiden“, ist eine Metapher für diesen Ansatz, der allein auf die militärische Stärke setzt.

Doch zeitlich begrenzte Militäraktionen können leicht eskalieren und außer Kontrolle geraten. Außerdem droht mit Fortdauer der Aktion die Gefahr, dass Israel zunehmend diplomatisch isoliert wird, dass sich auch die Verbündeten von Israel distanzieren.

Mit der Operation „Säule der Verteidigung“ wollte man nicht die Hamas vernichten. Es ging vielmehr darum, das Militärpotenzial der Organisation und anderer radikaler Gruppen im Gaza-Streifen zu zerstören. Die Ziele waren also begrenzt. Die Regierung in Jerusalem war an einem schnellen Ende der Kampfhandlungen interessiert. Weil die Gespräche über eine Waffenruhe aber zunächst stockten, drohte Benjamin Netanjahu der Hamas mit einer Bodenoffensive:

O-Ton Netanjahu (overvoice)
„Wenn es eine Möglichkeit gibt, eine langfristige Lösung mit diplomatischen Mitteln zu erreichen, dann bevorzugen wir das. Wenn aber nicht, wird Israel mit allen seinen Möglichkeiten seine Bürger schützen.“

Um diese Drohung zu untermauern, waren bereits zuvor die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, mehr als 70.000 Reservisten zu den Waffen zu rufen. Zum Vergleich: Beim Einmarsch vor vier Jahren waren nur rund 10.000 Reservisten einberufen worden.

Die israelische Drohung mit der Bodenoffensive war aber letztlich ein Bluff. Zum einen, weil das Risiko einer unkontrollierten Eskalation zu groß war. Und zum anderen, weil mit einer Bodenoperation das Risiko von eigenen Verlusten erheblich gestiegen wäre. Die Gefahr hätte bestanden, dass die Stimmung in der israelischen Bevölkerung schnell kippen und sich gegen die Regierung wenden könnte.

Damit aber wäre ein anderes  Kalkül von Netanjahu nicht aufgegangen, das mit der Militäraktion verfolgt worden ist. Vor dem Hintergrund der für den 22.      Januar angesetzten Parlamentswahlen wollte sich Netanjahu als entschlossener und tatkräftiger Regierungschef präsentieren. Mit der Militäroperation wurden zudem die sozialen Konflikte im Land in den Hintergrund gedrängt. Die Wahlchancen würden sich für die Regierungsparteien verbessern, so offenbar die Erwartung.

Nach acht Tagen israelischer Luftangriffe und Raketenbeschuss aus Gaza einigten sich beide Seiten schließlich auf eine Waffenruhe. Israel hatte sechs Tote zu beklagen, auf Seiten der Palästinenser wurden über 160 Menschen getötet. Nach Verkündung der Feuerpause zog Verteidigungsminister Barak eine positive Bilanz der Militäraktion:

O-Ton Barak (overvoice)
„Die Ziele wurden vollständig erreicht. Die Hamas und der islamischen Dschihad haben einen schmerzhaften Schlag einstecken müssen. Dschabari und zig andere Terroristen, hohe Kommandanten und Aktivisten wurden getötet, insgesamt mehr als 130 und mehr als 900 Verletzte.“

Ist Israel also der Sieger des Konflikts? Militärisch vielleicht, aber auch das nur mit erheblichen Einschränkungen. Die radikalen Palästinenser-Gruppen im  Gazastreifen mögen zwar im Augenblick militärisch geschwächt sein. Politisch aber geht die Hamas gestärkt aus der Auseinandersetzung hervor. Vor allem weil sich durch den arabischen Frühling die politischen Rahmenbedingungen grundsätzlich geändert haben. Eine Erkenntnis, die nur von wenigen Politikern in Israel klar ausgesprochen wird. Beispielsweise vom Abgeordneten Dov Khenin, der für die linke Hadasch-Partei in der Knesset sitzt:

O-Ton Khenin
„Wir verurteilen natürlich jede Verletzung von Zivilisten. Und natürlich verurteilen wir die Hamas. Wir sind sehr weit entfernt von der Politik der Hamas. Aber seht Euch die Ergebnisse dieser Operation an: Da sitzen alle Außenminister der Arabischen Liga, der Generalsekretär der Arabischen Liga, vorher der Premierminister von Ägypten. Alle pilgern zu Ismail Haniyya nach Gaza. Diese Operation, dieser Krieg hat die Hamas sehr gestärkt. Ministerpräsident Netanjahu hat von politischer Vernunft gesprochen. Genau das fehlt seiner Regierung, politische Vernunft.“

Auch gegenüber der rivalisierenden Fatah und Palästinenserpräsident Abbas im Westjordanland ist die wesentlich radikalere Hamas gestärkt worden. Abbas ist für die Regierung in Jerusalem ein Verhandlungspartner. Er gilt als gemäßigt und ist ein Verfechter der Zweistaaten-Lösung. Er setzte sich ein für einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967. Eine Forderung, die der Hamas nicht weit genug geht.

Die Hamas sieht sich nach der militärischen Auseinandersetzung auch auf anderen Gebieten gestärkt. Israel hat sich in der Vereinbarung über die Feuerpause verpflichtet, über eine Aufhebung der Blockade des Gazastreifens zu verhandeln. Absehbar ist bereits jetzt: Wenn der ägyptische Grenzübergang bei Rafah völlig geöffnet wird, dann wird der Waffenschmuggel in den Gaza-Streifen noch schwieriger zu kontrollieren sein. Zudem hat die israelische Regierung in dem Abkommen über die Waffenruhe zugesagt, auf gezielte Tötungen zu verzichten.

Die Operation „Säule der Verteidigung“ ist für Israel letztlich ein Pyrrhus-Sieg. Strategisch hat sich die Lage für Israel wesentlich verschlechtert. Auch, weil sich das Umfeld durch die jüngsten Umwälzungen in der Region erheblich verändert hat. In Kairo hat nach der Wahl von Mohammed Mursi zum ägyptischen Präsidenten die Muslimbruderschaft erheblich an Einfluss gewonnen. Für viele ist die Hamas im Gaza-Streifen quasi eine Tochter-Organisation der Muslimbrüder. Israel hat auf dieses veränderte Umfeld mit den scheinbar bewährten alten Konzepten reagiert.

Doch die vor allem auf der militärischen Abschreckung basierende Strategie funktioniert nicht mehr. Der in dieser Woche angekündigte Rückzug von Verteidigungsminister Ehud Barak könnte daher auf den ersten Blick als Eingeständnis gesehen werden, dass die israelische Politik der militärischen Stärke den sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht mehr gerecht wird. Doch absehbar ist schon jetzt: Auch Baraks Nachfolger wird weiter auf die bisherige Politik der Stärke setzen.

Obwohl sich die geopolitischen Bedingungen dramatisch geändert haben, wird es wohl keine neue israelische Sicherheitsstrategie geben. Das liegt zum Teil auch an dem erfolgreichen Einsatz des neu entwickelten Raketenabwehrsystems Iron Dome, zu Deutsch Eiserne Kuppel, während der jüngsten Militäroperation. Dort wo die fünf Batterien aufgestellt worden waren, konnten mehr als 400 aus dem Gaza-Streifen abgefeuerte Raketen abgefangen werden. Die Erfolgsquote habe fast 90 Prozent betragen, so ist zu hören. Iron Dome hat sich also bewährt, es konnte israelische Siedlungsgebiete schützen.

Angestrebt ist nun, die Zahl der Feuereinheiten zu verdoppeln – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer möglichen Auseinandersetzung mit dem Iran. Denn Israel sieht sich weiterhin durch Teheran bedroht. Die Regierung geht davon aus, dass der Iran Atomwaffen anstrebt - eine Entwicklung, die Jerusalem notfalls mit Militärschlägen verhindern will. Eigene Abwehrsysteme sollen bei einem militärischen Vorgehen den dann erwarteten Vergeltungsschlägen durch den Iran sowie der Hisbollah und der Hamas weitgehend ihre Wirkung nehmen. Insofern war die Gaza-Militäroperation auch ein Testfall für eine Konfrontation mit dem Iran. Und aus israelischer Sicht hat das Militär diesen Test bestanden.


Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.