Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
19. Mai 2012


Kriegsmüde USA – wie Obama das Kapitel Afghanistan beenden will

Gastbeitrag von Thomas Horlohe


Der NATO-Gipfel in Chicago ist eine sorgfältig vorbereitete Inszenierung, bei der vor allem der Hauptdarsteller gut aussehen soll: Barack Obama. Der US-Präsident steht in knapp sechs Monaten zur Wiederwahl. Seinen Wählern präsentiert er sich derzeit als der starke Mann, der Osama bin Laden zur Strecke gebracht hat, der Wort gehalten und den Krieg im Irak beendet hat und der nun, wie versprochen, die US-Truppen geordnet vom Hindukusch zurückzieht, ohne die Afghanen im Stich zu lassen. Obama geht sogar so weit, seinen Landsleuten das Ende des Krieges gegen den Terror zu versprechen:

O-Ton Obama (overvoice)
„Diese Zeit des Krieges hat in Afghanistan begonnen. Und hier wird sie auch zu Ende gehen. […] Ich weiß wohl, dass viele Amerikaner kriegsmüde sind. […] Aber die Aufgabe, die wir in Afghanistan begonnen haben, müssen wir erfüllen und diesen Krieg verantwortungsvoll beenden.“

Auf dem NATO-Gipfel soll dem US-Publikum vorgeführt werden, dass bei der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Streitkräfte alles nach Plan läuft und dass die NATO-Partner den Kurs der Führungsmacht unterstützen.

Das tun sie. Es kann ihnen gar nicht schnell genug gehen. Frankreichs ehemaliger Präsident Sarkozy verkündete während seines Wahlkampfs, dass der letzte französische Soldat das Land bis Ende 2013 verlassen wird. Und sein Nachfolger, François Hollande, hatte dafür plädiert, die französischen Soldaten noch schneller abzuziehen, möglichst bis zum Ende dieses Jahres. Sogar der treueste Verbündete der USA, der britische Premier Cameron, erwägt, seine schlechten Umfragewerte durch die Ankündigung eines schnelleren Truppenabzugs aufzubessern. Überall das gleiche Bild: der Krieg am Hindukusch ist beim Wahlvolk zutiefst unbeliebt. Deshalb drängen die Regierungen Richtung Ausgang, wollen ihre Truppen möglichst schnell nach Hause holen. Die Führungsmacht USA muss aufpassen, dass daraus kein Wettlauf wird.
Ein Mittel gegen die Ungeduld besteht darin, das Ziel vorzuverlegen. Diese Absicht lies US-Verteidigungsminister Panetta auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar durchblicken, nicht abgestimmt mit den Verbündeten:

O-Ton Panetta (overvoice)
„Wir hoffen, dass die afghanischen Streitkräfte im Laufe des Jahres 2013 in der Lage sein werden, im ganzen Land die Führungsrolle im Kampf zu übernehmen, wenn wir die letzten Gebiete in die Verantwortung der Afghanen übergeben haben.“

Bis dahin galt der Beschluss des NATO-Gipfels vom November 2010 in Lissabon. Danach sollten die Kampfoperationen der Alliierten spätestens bis Ende 2014 abgeschlossen sein, allerdings abhängig von der Sicherheitslage in Afghanistan, nicht vom politischen Kalender der Alliierten. Das erwies sich als Wunschdenken. Die ISAF-Truppe will nun früher als ursprünglich geplant am Hindukusch ins zweite Glied zurücktreten und sich auf eine Unterstützer-Rolle konzentrieren.
Im vergangenen Monat erläuterte die stellvertretende Leiterin der Europaabteilung im US-Außenministerium, Tina Kaidanow, einem Kongressausschuss die Regieanweisung für den bevorstehenden NATO-Gipfel:

O-Ton Kaidanow (overvoice)
„Vom Gipfeltreffen in Chicago erwartet die US-Regierung drei Ergebnisse: Erstens, eine Übereinkunft, dass sich 2013 als nächster Zwischenschritt der ISAF- Auftrag verlagert: weg vom Kampf, hin zur Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte; Zweitens erwarten wir ein Abkommen über Umfang, Kosten und Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte über das Jahr 2014 hinaus; und drittens, einen Fahrplan für die Rolle der NATO in Afghanistan nach 2014.“

Zum Ende dieses Jahres sollen die afghanischen Sicherheitskräfte einen Umfang von 352.000 Mann haben. Langfristig ist aber nur eine Stärke von rund 230.000 Mann finanzierbar, so das Ergebnis der Konferenz der NATO-Außen- und Verteidigungsminister im vergangenen Monat in Brüssel. Dafür müssen jährlich etwa vier Milliarden US-Dollar aufgebracht werden. Die USA sind bereit, rund die Hälfte dieser Summe zu übernehmen. Den Rest sollen in erster Linie die Verbündeten beisteuern. Bundeskanzlerin Merkel hat in dieser Woche 150 Millionen Euro pro Jahr zugesagt. Allerdings wird auch von den Afghanen ein Finanzbeitrag erwartet.

Für den Sicherheitsfahrplan nach 2014 haben die USA gerade noch rechtzeitig vor dem Gipfeltreffen ein Zeichen gesetzt. Fast 18 Monate haben Amerikaner und Afghanen über eine sogenannte Strategische Partnerschaft verhandelt. Längst hätte das Abkommen unter Dach und Fach sein sollen. Doch es gab unterschiedliche Vorstellungen über die Kontrolle der Gefangenenlager und nächtliche Kommandoaktionen. Erst nachdem Washington Präsident Karsai bei diesen Streitpunkten entgegengekommen war, konnte ein Durchbruch erzielt werden. Anfang des Monats reiste Präsident Obama dann zu einem nächtlichen Blitzbesuch nach Kabul, um die Strategische Partnerschaft mit seinem Amtskollegen zu besiegeln. Die Übereinkunft an sich ist wichtiger als ihr Inhalt. Sie zeigt den Taliban, Pakistan, dem Iran und den Verbündeten, dass die USA Afghanistan weiter unterstützen werden. Denn nur unter dieser Voraussetzung werden sich auch die anderen NATO-Verbündeten weiter am Hindukusch engagieren.

Das Abkommen mit Kabul über eine Strategische Partnerschaft ist vor allem symbolischer Natur. Präzise Regelungen bleiben späteren Ausführungsabkommen vorbehalten. Die USA verpflichten sich, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans bis zum Jahr 2024 zu unterstützen. Anders als von Karsai gefordert, nennen sie hierfür aber keinen Betrag. Die als korrupt geltende Regierung Karsai verpflichtet sich zu guter Regierungsführung und zur Achtung der Menschenrechte von Männern und Frauen. Eine von Präsident Obama öffentlich betonte Festlegung ist allerdings bemerkenswert:

O-Ton Obama (overvoice)
„Gemeinsam mit den Afghanen werden wir entscheiden, wie wir sie weiterhin bei den beiden eng umrissenen Sicherheitsaufgaben unterstützen: beim Antiterrorkampf und bei der Ausbildung. Aber wir werden in diesem Land keine dauerhaften Stützpunkte errichten, noch werden wir in den Städten oder Gebirgen auf Patrouille gehen.“

Es ist also vorbei mit der gefeierten Doktrin der Aufstandsbekämpfung, die den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellte. Sie wird am Hindukusch zu den Akten gelegt. Die regulären US-Truppen werden schrittweise in die Vereinigten Staaten zurückverlegt. An ihre Stelle treten Spezialkräfte. Sie werden Ausbildungshilfe für die afghanischen Streitkräfte leisten. Und im Schulterschluss mit den afghanischen Spezialkräften werden sie weiterhin Al Qaida und die Taliban bekämpfen. Zunächst werden die US Special Forces in Afghanistan mit einem Zwei-Sterne-Kommandeur aufgewertet. Später soll auch das Oberkommando der im Lande verbleibenden US-Truppen von einem Drei-Sterne-General des Heeres auf einen der Special Forces übergehen.

Ob die verbleibenden US-Soldaten tatsächlich von Stützpunkten der afghanischen Streitkräfte aus operieren werden, oder ob die Afghanen die US-Basen nur formell übernehmen, bleibt abzuwarten. Heikel ist auch die Frage, ob die US-Soldaten dem afghanischen Strafrecht unterliegen werden. Daran waren die Verhandlungen über ein Truppenstatut mit dem Irak gescheitert, mit der Folge, dass alle US-Soldaten den Irak verließen. Präsident Karsai muss allerdings ein Interesse daran haben, die US-Truppen als Schutzmacht im Lande zu behalten. Seine Amtszeit läuft im Jahre 2014 aus.

Der NATO-Gipfel ist zum Erfolg verurteilt. Für Afghanistan gilt das nicht. Viele Afghanen vertrauen nicht auf das Verantwortungsbewusstsein der USA und ihrer NATO-Verbündeten. Sie bereiten sich auf ihre Art auf den Abzug der ISAF-Truppe vor. Nach UN-Angaben stellten im vergangenen Jahr 30.400 Afghanen einen Antrag auf Asyl im Ausland, die höchste Zahl seit zehn Jahren. 2011 wurden 4,6 Milliarden US-Dollar Bargeld ins Ausland verbracht. Das entspricht dem Umfang des Staatshaushalts. Tendenz: steigend. Der Präsident der afghanischen Zentralbank sah sich genötigt, am Kabuler Flughafen Kapitalverkehrskontrollen einzuführen: Pro Passagier sind nur noch höchstens 20.000 US-Dollar Bargeld erlaubt. Offenbar drängen auch viele Afghanen Richtung Ausgang.