Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
20. März 2004


Falscher Kriegsgrund Massenvernichtungswaffen
Warum die USA den Irak wirklich angegriffen haben

von Dr. Karl-Heinz Harenberg

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 stellte US-Präsident George W. Bush fest, Amerika befände sich im Krieg. Der erste sichtbare Feind in diesem Krieg war Afghanistan. Dort lebte der Drahtzieher der Anschläge, Osama bin Laden, unterstützt und hofiert von den Regenten des Taliban-Regimes. Bis dahin ist die Reaktion der amerikanischen Regierung nachvollziehbar.

"Afghanistan ist aber nur der Anfang eines längeren Feldzuges", erklärte US-Vizepräsident Dick Cheney Ende August 2002 in einer Rede vor Kriegsveteranen in Nashville, denn "wenn wir jetzt aufhören würden, wäre jegliches Sicherheitsgefühl, das wir hätten, falsch und vorübergehend. Es existiert", so Cheney weiter, "eine terroristische Unterwelt, die sich über mehr als sechzig Länder erstreckt".

Warum aber war dann das zweite Land, das die USA angriffen haben, ausgerechnet Irak? Diese Frage interessiert heute mehr denn je, nachdem sich herausgestellt hat, dass der wesentliche Grund, der dafür genannt wurde - riesige Mengen von Massenvernichtungswaffen und die sich daraus ergebenden Gefahren - gar nicht existierte.

Die einzig sinnvolle Erklärung für diese Wahl ist wohl darin zu sehen, dass die Regierung in Washington den Krieg gegen den Irak nicht angefangen, sondern nur fortgesetzt hat. Der erste Teil dieses Krieges war 1990/91 vom Vater des derzeitigen Präsidenten geführt worden. Und genau genommen war der Übergang vom ersten zum zweiten Teil fließend, wenn man sich der ständigen Luftangriffe zur Sicherung der Flugverbotszonen erinnert, die von den USA und Großbritannien aus eigener Vollmacht eingerichtet worden waren. Oder an das Gesetz zur Befreiung des Irak, mit dem der US-Kongress im August 1998 den damaligen demokratischen Präsidenten Bill Clinton aufgefordert hatte, alles zu tun, um das Regime des Saddam Hussein zu stürzen. Oder an die tagelangen Bombardements im Dezember 1998 gegen vermutete Waffenlager und Rüstungsfabriken, auch in der Hauptstadt Bagdad.

Die Initialzündung für die offizielle Wiederaufnahme des Krieges boten dann die Anschläge des 11. September. Die aufgestaute Wut in Washington gegen den Tyrannen von Bagdad sowie über dessen Katz-und-Maus-Spiel mit den Rüstungskontrolleuren der UNO konnte jetzt kanalisiert werden in Richtung Sturz des Regimes. Nur - mit wachsendem Abstand zum 11. September war der Einsatz von Gewalt nicht so einfach möglich wie in Afghanistan oder nach dem Einmarsch der Irakis in Kuwait 1990. Ein Sturz des Regimes, zumal wenn er gewaltsam herbeigeführt werden musste, bedurfte gegenüber der eigenen sowie der Weltöffentlichkeit einer überzeugenden Begründung.

Was lag da näher, als den Todfeind bin Laden mit dem Erzfeind Saddam Hussein in Verbindung zu bringen. Als Verteidigungsminister Donald Rumsfeld deren Zusammenarbeit behauptete, fand dieser Verdacht in Medien und Öffentlichkeit große Beachtung. Und natürlich schien es nachvollziehbar zu sein, dass Saddam, der die Rüstungskontrolleure der UNO Ende 1998 aus dem Land gewiesen hatte, seitdem unbeobachtet aufgerüstet hatte und die Al-Kaida-Terroristen nun mit seinen Massenvernichtungswaffen versorgen würde. Diese wiederum hatten die USA ja bereits am 11. September angegriffen und würden es mithilfe irakischer Atom-, Biologie- oder Chemiewaffen bei nächster Gelegenheit sicherlich wieder tun. Ein perfektes Szenario, um die eigene Bevölkerung in Unruhe zu versetzen und jeden Kritiker als Sicherheitsrisiko bloßzustellen. "Einsatzbereite Massenvernichtungswaffen in den Händen eines Terrornetzwerkes oder eines mörderischen Diktators - oder die Zusammen-arbeit dieser beiden", so der US-Vizepräsident Cheney in Nashville, "stellen die ernsteste Bedrohung dar, die man sich vorstellen kann. Die Risiken der Untätigkeit sind daher sehr viel größer als die Risiken des Handelns."

Diese Worte sind Ausdruck für die damalige Stimmung in den USA, die offenbar jede unbewiesene Behauptung und noch so große Übertreibung zu erlauben schien. Ex-CIA-Chef James Woolsey sah Saddam Hussein direkt in den Terror des 11. September verwickelt. Der ehemalige Leiter der UNSCOM-Rüstungskontrolleure im Irak, Richard Butler, beschuldigte Bagdad, an den Anschlägen mit Anthrax-, also Milzbranderregern beteiligt zu sein, die in den USA zeitweise für Unruhe sorgten. Dass der Irak zudem über große Mengen chemischer Waffen verfügte, stand ohnehin außer Frage, hatten irakische Truppen solche Kampfstoffe doch schon gegen aufständische Kurden und im Krieg gegen Iran eingesetzt. Blieb nur noch die aus amerikanischer Sicht größte Gefahr: die Bedrohung mit Atomwaffen. Zwar verstiegen sich die Propagandisten der US-Regierung, zu denen das gesamte Kabinett gehörte, nicht zu der Behauptung, der Irak besäße solche Waffen bereits. Doch der Tenor - wollen wir warten, so Präsident Bush, bis uns der erste Atompilz aufschreckt - legte nahe, dass die Einsatzbereitschaft von Atomsprengköpfen nur eine Frage kurzer Zeit sein würde. Als entscheidenden Beweis dafür wurde behauptet, Irak habe im westafrikanischen Staat Niger versucht, Uran für die Bombe zu kaufen. Es wurde zwar eingeräumt, dass "der Nachrichtendienst ein unsicheres Geschäft" sei, so Cheney in Nashville, aber dennoch summierte er: "Es besteht jetzt kein Zweifel, dass Saddam Hussein Massen-vernichtungswaffen besitzt."

Der Druck innerhalb der amerikanischen Regierung, den besonders die Befürworter eines Krieges wie der Vizepräsident oder der Verteidigungsminister erzeugten, wurde so stark, dass sich auch der anfängliche Skeptiker im Kabinett, Außenminister Colin Powell, der allgemeinen Hysterie nicht entziehen konnte.

Colin Powell war es dann auch, der die Vorwürfe gegen Saddam Hussein am 5. Februar des vergangenen Jahres vor dem UN-Sicherheitsrat in einer aufsehenerregenden Sitzung mit zahlreichen Dokumenten und Bildern ausbreitete. Dass der Wahrheitsgehalt seiner Darstellung schon damals umstritten war, störte ihn nicht, hatten doch die UN-Inspekteure zwar keine Belege im Land gefunden, wollten andererseits die Existenz solcher Massenvernichtungswaffen aber auch nicht endgültig ausschließen. Und selbst als der für die Suche nach Atomwaffen zuständige Experte Mohamed El Baradei von der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien die Behauptung eindeutig widerlegte, der Irak habe im afrikanischen Niger Uran zu kaufen versucht, stellte sich Powell stur: "Ich denke, wir haben bessere Informationen als die Inspekteure", so seine Reaktion.

Es war, wie sich erst vor kurzem herausgestellt hat, eine verräterische Reaktion. Denn sie deutete schon damals an, was David Kay, der Leiter der amerikanischen Waffenkontrolleure, die nach den Hauptkämpfen im Sommer vergangenen Jahres ihre Arbeit im Irak aufgenommen hatten, erst jetzt öffentlich gemacht hat: dass nämlich die amerikanische Regierung der UNO vor dem Krieg nicht etwa wie behauptet alle Erkenntnisse ihrer Geheimdienste über angebliche Lager und Produktionsstätten für Massenvernichtungswaffen zur Verfügung gestellt hatte. Gründe dafür wurden nicht genannt: Aber intime Kenner der amerikanischen Regierungsszene vermuten, dass einmal die Konkurrenz der Geheimdienste dabei eine Rolle gespielt hat, vor allem aber die Absicht der Regierung, den Beginn des Krieges durch weitere Untersuchungen der UNMOVIC, also der United Nations Monitoring, Verification and Inspection Commission unter ihrem Leiter Hans Blix nicht mehr hinauszögern zu lassen - hätte doch sonst vielleicht gar die Möglichkeit bestanden, dass ein militärischer Angriff mit dem angeblichen Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen nicht mehr zu rechtfertigen gewesen wäre. Denn es war ja wohl nicht nur der CDU-Politiker Jürgen Todenhöfer, der kurz vor Beginn des Krieges vor einem Jahr erkannt hatte: "Wie soll dieser eingedämmte und militärisch kastrierte Zwerg Saddam den Riesen Amerika bedrohen?"


 

Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über Jahrzehnte war er für die Hörfunk-Sendung “Streitkräfte und Strategien” beim NDR zuständig, das einzige sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.