OSZE
Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit?
von Dr. Karl-Heinz Harenberg
Als die Sowjetunion in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - in der Hochzeit
des Kalten Krieges - den Europäern in der NATO vorschlug, eine Sicherheitskonferenz
einzuberufen und dort die Probleme zwischen den Militärblöcken zu beraten, lehnten die
Westmächte das Angebot strikt ab. Nach einhelliger Auffassung handelte es sich dabei
wieder einmal um einen Propagandatrick der Kommunisten. Den einzig zuverlässigen Schutz
vor einem Krieg bot damals nach einhelliger Auffassung der westlichen Regierungen
angeblich allein die Hochrüstung. Erst in den sechziger Jahren setzte sich allmählich
auch bei den Politikern die Erkenntnis durch, dass das Wettrüsten bestenfalls in einer
Sackgasse, schlimmstenfalls in einer Katastrophe enden würde. Wandel durch Annäherung
hieß nun die Devise.
Doch dann dauerte es noch ein weiteres Jahrzehnt, bevor 1973 die KSZE, die Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der finnischen Hauptstadt Helsinki
eröffnet wurde. 33 europäische Staaten sowie die USA und Kanada nahmen daran teil. Und
tatsächlich, nach zweijährigen mühsamen Verhandlungen einigte sich die Runde auf einen
umfassenden Verhaltenskodex, der - und das war das Sensationelle - nicht nur die
Beziehungen zwischen den Staaten sondern auch das Leben in den einzelnen Ländern prägen
sollte. Denn in der Schlussakte der KSZE - vor dreißig Jahren verabschiedet - wurden auch
den Menschen im Warschauer Pakt solche Errungenschaften wie Meinungs-, Presse- oder
Reisefreiheit versprochen. Und allein diese Versprechen, obwohl sie meist gar nicht
eingelöst wurden, entfalteten eine immense und von den Regierenden unerwartete Wirkung,
die wesentlich zum Auseinanderbrechen des sowjetischen Blocks und zum Sturz der
kommunistischen Regime mit beigetragen hat. Eine der ungeahnten Folgen dieser Entwicklung:
die friedliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
An der Zeitenwende, am Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West lag es daher nahe,
das erfolgreiche Konzept der KSZE auch für die Zukunft zu nutzen. Darum wurde die
unverbindliche Form der Konferenz in den Rang einer Organisation erhoben - statt KSZE
heißt sie seit 1995 OSZE, also Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Durch den Beitritt der Länder, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Souveränität
zurückgewonnen hatten, wuchs die OSZE auf 55 Mitglieder an. Trotz dieser großen Zahl
verordnete sich die Organisation aber lediglich einen kleinen, manche meinen zu kleinen
Apparat von 450 direkt von der OSZE unter Vertrag genommenen Angestellten. Sie stellen das
Sekretariat in Wien, leiten unterschiedliche "Feldmissionen" in fast 20
Mitgliedsländern oder sind für spezielle Institutionen zuständig wie zum Beispiel den
Beauftragten für Medienfreiheit. Weitere 750 hochqualifizierte Fachleute, wie
Wissenschaftler oder Diplomaten, werden von den Mitgliedsstaaten entsandt. Und der
Großteil der Mitarbeiter, rund 2.400, die vor allem zu den "Feldmissionen"
gehören, sind Ortskräfte.
In der ersten Euphorie nach dem Ende des Kalten Krieges schien die OSZE zum wichtigsten
Vermittlungsorgan bei zwischen- und innerstaatlichen Problemen seiner Mitglieder zu
werden. Alle OSZE-Staaten haben gleiche Rechte und Pflichten, die Supermächte Russland
oder USA haben ebenfalls nur je eine Stimme wie Albanien oder Liechtenstein. Hinzu kommt,
dass das umfangreiche Regelwerk der Organisation, in dem detaillierte Vorschriften gemacht
werden für den Verlauf demokratischer Wahlen ebenso wie für die Pressefreiheit oder den
Umgang der Staatsmacht mit dem einzelnen Bürger, rechtlich zwar nicht bindend ist. Nur so
war es überhaupt möglich, für Großbritannien oder Albanien, Usbekistan oder die USA
gleiche politische, soziale oder humane Standards aufzustellen. Auf der anderen Seite aber
ist der Druck der Mehrheit der Mitglieder bei regelwidrigem Verhalten erheblich. So haben
die Wahlbeobachter der OSZE neben der Europäischen Union eine entscheidende Rolle beim
Aufdecken von Wahlmanipulationen in der Ukraine gespielt. Andererseits gibt es oft
Rückschläge wie in Weißrussland oder Usbekistan, wo die autokratischen Staatschefs die
OSZE ganz kaltstellen wie in Minsk oder hinzuhalten versuchen wie in Taschkent. Dazu kommt
generelle Kritik am Vorgehen der OSZE, vor allem aus Russland und einigen asiatischen
Mitgliedsstaaten. Die Kritiker werfen der Organisation vor, sie richte ihr Augenmerk
ausschließlich auf osteuropäische und asiatische OSZE-Länder und mische sich, indem sie
einseitig Menschenrechtsfragen in den Mittelpunkt stelle, in die inneren Angelegenheiten
eben dieser Länder ein.
Die Verärgerung über die Situation ist so groß, dass sich der Ministerrat der OSZE,
den die Außenminister der Mitgliedsstaaten bilden, bei seinen Jahrestagungen schon
wiederholt nicht mehr auf ein Kommunique einigen konnte. Und Russland hat monatelang sogar
die Verabschiedung des diesjährigen Haushaltes blockiert. Zwar ist der Haushaltsstreit
inzwischen beigelegt, nicht aber die kritische Lage der OSZE. Reformen sind nötig, und
die Reformen, die in diesen Wochen vorgelegt und diskutiert werden, entscheiden über die
Zukunft der Organisation. Das bisherige Arbeitsmotto: "Verbessern, was zu verbessern
ist - ignorieren, was nicht zu ändern ist" hilft der OSZE nicht mehr weiter.
Die Wissenschaftler des Zentrums für OSZE-Forschung, das am Hamburger Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik angesiedelt ist, nehmen das 30-jährige Jubiläum
der KSZE-Schlussakte von Helsinki zum Anlass, der Organisation eine Neubesinnung auf ihre
Funktionen und Aufgaben sowie ihr Verhältnis zu den anderen Institutionen wie
Europäischer Union und NATO zu empfehlen. Denn der internationale Stellenwert der OSZE
ist insbesondere durch deren erhebliche Vergrößerung verändert, wenn auch nicht
zwangsläufig geschwächt worden. Sicher ist doch: An Problemen, die es gemeinsam zu
bewältigen gilt, mangelt es nicht. Und weder die militärisch ausgerichtete NATO noch die
von Wirtschaftsthemen beherrschte EU können dabei auf die Hilfe der OSZE verzichten. Denn
Früherkennung, Verhütung und Bewältigung von Krisen und Konflikten in anbetracht neuer
Gefahren und Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft vom Menschenhandel
über den Terrorismus bis hin zur Ausbreitung von Atomwaffen sind originäre Aufgaben der
OSZE mit ihrem einmaligen Mitgliederkreis und ihrer Fülle von Selbstverpflichtungen.
Wobei die neuen Aufgaben, die daraus für die Organisation erwachsen, nicht dazu führen
dürfen, dass die alten Aufgaben vernachlässigt werden. Denn die Sorge um die Förderung
und Bewahrung von Freiheits- und Menschenrechten betrifft ja nicht nur die
osteuropäischen und asiatischen OSZE-Länder. Ein Blick auf die westliche
Prostituiertenszene, auf die Missachtung von Menschenrechten im Gefangenenlager Guantanamo
oder die Beschneidung von Freiheitsrechten mit Hinweis auf tatsächliche und vorgebliche
Terrorismusgefahren zeigt die Erosion von Werten, auf die sich die westlichen Demokratien
doch so viel zugute halten. Ungeachtet dessen setzt die NATO wieder auf Aufrüstung,
orientiert sich die EU bei ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik an den Forderungen
des Militärbündnisses und dessen Schutz- und Führungsmacht USA. Dieser erneute
Rückgriff auf vorwiegend militärische Instrumente zur Abwehr der neuen Bedrohungen macht
Erhalt und Stärkung der OSZE mit ihren zivilen Konfliktregelungsmechanismen und ihrer
Erfahrung in kooperativer Krisenbewältigung geradezu zwingend. Wenn es die OSZE nicht
gäbe, müsste man sie erfinden.
Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über Jahrzehnte war er für die
Hörfunk-Sendung Streitkräfte und Strategien beim NDR zuständig, das einzige
sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.
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