Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
02. Juli 2005


OSZE

Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit?

von Dr. Karl-Heinz Harenberg

Als die Sowjetunion in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - in der Hochzeit des Kalten Krieges - den Europäern in der NATO vorschlug, eine Sicherheitskonferenz einzuberufen und dort die Probleme zwischen den Militärblöcken zu beraten, lehnten die Westmächte das Angebot strikt ab. Nach einhelliger Auffassung handelte es sich dabei wieder einmal um einen Propagandatrick der Kommunisten. Den einzig zuverlässigen Schutz vor einem Krieg bot damals nach einhelliger Auffassung der westlichen Regierungen angeblich allein die Hochrüstung. Erst in den sechziger Jahren setzte sich allmählich auch bei den Politikern die Erkenntnis durch, dass das Wettrüsten bestenfalls in einer Sackgasse, schlimmstenfalls in einer Katastrophe enden würde. Wandel durch Annäherung hieß nun die Devise.

Doch dann dauerte es noch ein weiteres Jahrzehnt, bevor 1973 die KSZE, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der finnischen Hauptstadt Helsinki eröffnet wurde. 33 europäische Staaten sowie die USA und Kanada nahmen daran teil. Und tatsächlich, nach zweijährigen mühsamen Verhandlungen einigte sich die Runde auf einen umfassenden Verhaltenskodex, der - und das war das Sensationelle - nicht nur die Beziehungen zwischen den Staaten sondern auch das Leben in den einzelnen Ländern prägen sollte. Denn in der Schlussakte der KSZE - vor dreißig Jahren verabschiedet - wurden auch den Menschen im Warschauer Pakt solche Errungenschaften wie Meinungs-, Presse- oder Reisefreiheit versprochen. Und allein diese Versprechen, obwohl sie meist gar nicht eingelöst wurden, entfalteten eine immense und von den Regierenden unerwartete Wirkung, die wesentlich zum Auseinanderbrechen des sowjetischen Blocks und zum Sturz der kommunistischen Regime mit beigetragen hat. Eine der ungeahnten Folgen dieser Entwicklung: die friedliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten.

An der Zeitenwende, am Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West lag es daher nahe, das erfolgreiche Konzept der KSZE auch für die Zukunft zu nutzen. Darum wurde die unverbindliche Form der Konferenz in den Rang einer Organisation erhoben - statt KSZE heißt sie seit 1995 OSZE, also Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Durch den Beitritt der Länder, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Souveränität zurückgewonnen hatten, wuchs die OSZE auf 55 Mitglieder an. Trotz dieser großen Zahl verordnete sich die Organisation aber lediglich einen kleinen, manche meinen zu kleinen Apparat von 450 direkt von der OSZE unter Vertrag genommenen Angestellten. Sie stellen das Sekretariat in Wien, leiten unterschiedliche "Feldmissionen" in fast 20 Mitgliedsländern oder sind für spezielle Institutionen zuständig wie zum Beispiel den Beauftragten für Medienfreiheit. Weitere 750 hochqualifizierte Fachleute, wie Wissenschaftler oder Diplomaten, werden von den Mitgliedsstaaten entsandt. Und der Großteil der Mitarbeiter, rund 2.400, die vor allem zu den "Feldmissionen" gehören, sind Ortskräfte.

In der ersten Euphorie nach dem Ende des Kalten Krieges schien die OSZE zum wichtigsten Vermittlungsorgan bei zwischen- und innerstaatlichen Problemen seiner Mitglieder zu werden. Alle OSZE-Staaten haben gleiche Rechte und Pflichten, die Supermächte Russland oder USA haben ebenfalls nur je eine Stimme wie Albanien oder Liechtenstein. Hinzu kommt, dass das umfangreiche Regelwerk der Organisation, in dem detaillierte Vorschriften gemacht werden für den Verlauf demokratischer Wahlen ebenso wie für die Pressefreiheit oder den Umgang der Staatsmacht mit dem einzelnen Bürger, rechtlich zwar nicht bindend ist. Nur so war es überhaupt möglich, für Großbritannien oder Albanien, Usbekistan oder die USA gleiche politische, soziale oder humane Standards aufzustellen. Auf der anderen Seite aber ist der Druck der Mehrheit der Mitglieder bei regelwidrigem Verhalten erheblich. So haben die Wahlbeobachter der OSZE neben der Europäischen Union eine entscheidende Rolle beim Aufdecken von Wahlmanipulationen in der Ukraine gespielt. Andererseits gibt es oft Rückschläge wie in Weißrussland oder Usbekistan, wo die autokratischen Staatschefs die OSZE ganz kaltstellen wie in Minsk oder hinzuhalten versuchen wie in Taschkent. Dazu kommt generelle Kritik am Vorgehen der OSZE, vor allem aus Russland und einigen asiatischen Mitgliedsstaaten. Die Kritiker werfen der Organisation vor, sie richte ihr Augenmerk ausschließlich auf osteuropäische und asiatische OSZE-Länder und mische sich, indem sie einseitig Menschenrechtsfragen in den Mittelpunkt stelle, in die inneren Angelegenheiten eben dieser Länder ein.

Die Verärgerung über die Situation ist so groß, dass sich der Ministerrat der OSZE, den die Außenminister der Mitgliedsstaaten bilden, bei seinen Jahrestagungen schon wiederholt nicht mehr auf ein Kommunique einigen konnte. Und Russland hat monatelang sogar die Verabschiedung des diesjährigen Haushaltes blockiert. Zwar ist der Haushaltsstreit inzwischen beigelegt, nicht aber die kritische Lage der OSZE. Reformen sind nötig, und die Reformen, die in diesen Wochen vorgelegt und diskutiert werden, entscheiden über die Zukunft der Organisation. Das bisherige Arbeitsmotto: "Verbessern, was zu verbessern ist - ignorieren, was nicht zu ändern ist" hilft der OSZE nicht mehr weiter.

Die Wissenschaftler des Zentrums für OSZE-Forschung, das am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik angesiedelt ist, nehmen das 30-jährige Jubiläum der KSZE-Schlussakte von Helsinki zum Anlass, der Organisation eine Neubesinnung auf ihre Funktionen und Aufgaben sowie ihr Verhältnis zu den anderen Institutionen wie Europäischer Union und NATO zu empfehlen. Denn der internationale Stellenwert der OSZE ist insbesondere durch deren erhebliche Vergrößerung verändert, wenn auch nicht zwangsläufig geschwächt worden. Sicher ist doch: An Problemen, die es gemeinsam zu bewältigen gilt, mangelt es nicht. Und weder die militärisch ausgerichtete NATO noch die von Wirtschaftsthemen beherrschte EU können dabei auf die Hilfe der OSZE verzichten. Denn Früherkennung, Verhütung und Bewältigung von Krisen und Konflikten in anbetracht neuer Gefahren und Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft vom Menschenhandel über den Terrorismus bis hin zur Ausbreitung von Atomwaffen sind originäre Aufgaben der OSZE mit ihrem einmaligen Mitgliederkreis und ihrer Fülle von Selbstverpflichtungen. Wobei die neuen Aufgaben, die daraus für die Organisation erwachsen, nicht dazu führen dürfen, dass die alten Aufgaben vernachlässigt werden. Denn die Sorge um die Förderung und Bewahrung von Freiheits- und Menschenrechten betrifft ja nicht nur die osteuropäischen und asiatischen OSZE-Länder. Ein Blick auf die westliche Prostituiertenszene, auf die Missachtung von Menschenrechten im Gefangenenlager Guantanamo oder die Beschneidung von Freiheitsrechten mit Hinweis auf tatsächliche und vorgebliche Terrorismusgefahren zeigt die Erosion von Werten, auf die sich die westlichen Demokratien doch so viel zugute halten. Ungeachtet dessen setzt die NATO wieder auf Aufrüstung, orientiert sich die EU bei ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik an den Forderungen des Militärbündnisses und dessen Schutz- und Führungsmacht USA. Dieser erneute Rückgriff auf vorwiegend militärische Instrumente zur Abwehr der neuen Bedrohungen macht Erhalt und Stärkung der OSZE mit ihren zivilen Konfliktregelungsmechanismen und ihrer Erfahrung in kooperativer Krisenbewältigung geradezu zwingend. Wenn es die OSZE nicht gäbe, müsste man sie erfinden.


 

Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über Jahrzehnte war er für die Hörfunk-Sendung “Streitkräfte und Strategien” beim NDR zuständig, das einzige sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.