Allgemeine Wehrpflicht
Weiterentwicklung oder Abschied von der bisherigen Wehrform?
von Dr. Karl-Heinz Harenberg
Die ungezählten Feiern zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr werden begleitet
von nicht enden wollenden Bekenntnissen führender Politiker und Militärs zur
Wehrpflicht. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Debatte über die Wehrform, die seit
Jahren geführt wird. An Übertreibungen hat es dabei nicht gefehlt. Der noch amtierenden
Verteidigungsminister Peter Struck verstieg sich mehrfach - im Mai 2003 sogar an der
Führungsakademie, der höchsten militärischen Ausbildungsstätte der Bundeswehr - zu der
Behauptung, eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht degeneriere zu einem Söldnerheer. Ein
drastisches Misstrauensvotum des Inhabers der Befehls- und Kommandogewalt gegenüber den
ihm unterstellten Zeit- und Berufssoldaten. Ungeachtet dessen aber verkneifen es sich die
bundeswehrtreuen Fürsprecher der Wehrpflicht, daran zu erinnern, dass mit dem Jubiläum
der Bundeswehr auch ein runder Geburtstag der Wehrpflicht einhergeht: die
Wiedereinführung der Wehrpflicht vor 70 Jahren, im März 1935 durch die Nazis.
Doch wenn es ums Erinnern geht, sind bundesdeutsche Politiker wählerisch. Was ihnen
nicht in den Kram passt, wird aus dem Gedächtnis gestrichen. Im Falle der Wehrpflicht
kommt ihnen dabei zu Hilfe, dass sie sich hinter der Wertung der Zwangsrekrutierung durch
Theodor Heuss, den Mitbegründer und späteren Präsidenten der Bundesrepublik
Deutschland, verstecken können. In seiner Silvesteransprache 1955, am Ende des
Gründungsjahres der neuen deutschen Streitkräfte sagte Heuss:
"Im Parlamentarischen Rat habe ich 1949, als es um die
Kriegsdienstverweigerung ging, die allgemeine Wehrpflicht als legitimes Kind der
Demokratie bezeichnet. Die soll jetzt auch bei uns wieder das Gehen lernen. Der Soldat als
Teil unseres Volkes."
Es sei dahingestellt, warum Heuss die Wehrpflicht derart ideologisiert hat. Es ist aber
keinesfalls zu rechtfertigen, dass bundesdeutsche Politiker dieses Votum bis heute wie
eine Monstranz vor sich hertragen. Natürlich war auch bei der Gründung der Bundeswehr
bekannt, welches Unheil Wehrpflichtige schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Ersten
Weltkrieg mit angerichtet hatten - ein Grund, warum der Versailler Vertrag der Weimarer
Republik die Beibehaltung der Wehrpflicht untersagt hatte. Und die Gräuel der
nationalsozialistischen Wehrpflichtarmee im Zweiten Weltkrieg waren 1955 ja noch in bester
Erinnerung.
So geschah die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Westdeutschland ja auch nicht wegen
der Besonderheit dieser Wehrform, sondern weil die Regierung Adenauer den neuen
Verbündeten in der NATO 500.000 Männer unter Waffen versprochen hatte - eine
überdimensionierte Streitmacht, die sich die junge Bundesrepublik als Berufsarmee gar
nicht hätte leisten können. Und außerdem hatten alle Verbündeten wie auch alle
erklärten Feinde im Warschauer Pakt Wehrpflichtarmeen. Wie wenig überzeugend diese
Gründe für die Wehrform der neuen Bundeswehr waren, zeigte schon im Juli 1956 die
Abstimmung des Bundestages über das Wehrpflichtgesetz. Die SPD-Abgeordneten stimmten
geschlossen dagegen, wie sie ja überhaupt die Wiederaufrüstung mehrheitlich abgelehnt
haben.
Die weitere Entwicklung der Bundeswehr, die manche aus unerfindlichen Gründen gern als
Erfolgsgeschichte bezeichnen, stand dann im Zeichen des Kalten Krieges, der ja beim Bau
der Mauer oder bei der Kuba-Krise durchaus hätte eskalieren können. Erst allmählich
wurden sich mehr und mehr Menschen dessen bewusst, dass Krieg im Atomzeitalter nicht
Verteidigung sondern Vernichtung bedeuten würde. Die Politik schaltete auf Entspannung,
das Militär geriet unter Rechtfertigungsdruck. Die irrationale Debatte über die so
genannte Nachrüstung mit Atomwaffen führte zu einem Anwachsen der Friedensbewegung und
einer steigenden Zahl von Kriegsdienstverweigerern. Doch eine einvernehmliche Antwort auf
die Frage: "Wie viel Rüstung ist genug?" fand sich nicht.
Eine Zäsur ergab sich erst mit dem Zusammenbruch von Warschauer Pakt und Sowjetunion,
also mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes. Als nach einer kurzen Friedenseuphorie die NATO
und mit ihr die Armeen der Verbündeten die Reihen gegen die Forderungen nach schneller
Abrüstung schlossen, stellte sich die Frage neu: "Wie viel Militär ist genug?"
Das wiedervereinigte Deutschland stand dabei unter doppeltem Zwang: Einmal hatte es
beim Umfang der Bundeswehr Zugeständnisse machen müssen, um Russland den Verzicht auf
die DDR zu erleichtern; und zum anderen ging der Bundesregierung durch den Aufbau der
neuen Bundesländer sowie einer anhaltenden Wirtschaftskrise zunehmend das Geld aus. Eine
der gravierenden Folgen dieser Entwicklung führte dazu, dass die Bundeswehr von einer
Reform in die nächste geführt wurde. Und jede war damit verbunden, dass der personelle
Umfang gekürzt und die Rüstungspläne zusammengestrichen wurden. Von Mal zu Mal mahnte
die militärische Führung, dass das Ende der Fahnenstange nunmehr erreicht sei und die
Truppe nicht mehr einsatzfähig wäre. Doch das Gegenteil trat ein. Je stärker der
Haushalt gekürzt wurde, desto umfangreicher wurden die Einsätze.
Diese Entwicklung führte zwangsläufig zu der Frage, ob die Armee im Einsatz mit der
Wehrpflicht noch die angemessene Struktur habe. Zumal die Wehrdienstdauer aus
Kostengründen auf neun Monate verringert wurde und sogar noch in Raten abgeleistet werden
kann mit dem Ergebnis, dass die Soldaten für die neuen Anforderungen der Bundeswehr
ungeeignet sind. Die Bundeswehrführung macht daraus auch gar keinen Hehl. So hat sie sich
die Funktion der Freiwillig Länger Dienenden Wehrpflichtigen einfallen lassen, die statt
neun bis zu dreiundzwanzig Monaten in der Bundeswehr bleiben und auch im Ausland
eingesetzt werden können. Ein schlichter Etikettenschwindel, zumal der Anteil dieser kurz
FWDL genannten Soldaten an den über 100.000 starken Einsatz- und Stabilisierungskräften
verschwindend gering ist.
Ungeachtet dessen halten CDU/CSU und führende Politiker der SPD an der Wehrpflicht
fest. Zur Begründung werden Argumente ins Feld geführt, die großenteils
widersprüchlich, nicht nachvollziehbar und schlicht hypothetisch sind. Die Warnung
Strucks vor einem drohenden Söldnerheer - eine Beleidigung der ihm unterstellten Zeit-
und Berufssoldaten - charakterisiert das Niveau. Es wird weiter behauptet, Wehrpflichtige
seien unverzichtbar, weil sich aus ihren Reihen ein bedeutender Teil zukünftiger Zeit-
und Berufssoldaten rekrutiere. Inzwischen aber ist die Zahl der Wehrpflichtigen mit
geplanten 30.000 Mann so gering, dass sie kaum dazu geeignet ist, mögliche
Nachwuchssorgen der Streitkräfte zu vermeiden. Und gleichsam zur Kaffeesatzleserei wird
die Diskussion darüber, wie viele Soldaten die Bundeswehr benötige, wenn sie auf
Wehrpflichtige verzichten würde. Dass die Fürsprecher der Wehrpflicht den benötigten
Umfang von Zeit- und Berufssoldaten dabei so hoch ansetzen, dass er nicht mehr zu bezahlen
wäre, liegt auf der Hand.
Ein entscheidender Gesichtspunkt beim Pro und Contra Wehrpflicht wird bei dieser
Diskussion eifrig in den Hintergrund gedrängt: die Frage, ob die Verfassung in anbetracht
der neuen Sicherheitslage die Zwangsverpflichtung junger Männer zum Militärdienst
überhaupt noch rechtfertigt. Das Grundgesetz erlaubt die Zwangsverpflichtung junger
Männer zur Landesverteidigung; nur - vollzieht sich Landesverteidigung wirklich auch am
Hindukusch? Es war ebenfalls ein Bundespräsident, der CDU-Politiker und
Verfassungsrechtler Roman Herzog, der bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr im November
1995 klar gestellt hat:
"Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des
jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die
äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Gesellschaftliche, historische,
finanzielle und streitkräfteinterne Argumente können dann ruhig noch als Zusätze
verwendet werden. Aber sie werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis
für Konsens sein können."
Die Unionsparteien haben die Worte ihres kundigen Parteifreundes schlicht ignoriert.
Und die SPD-Führung weicht einer Diskussion aus. So will sie die Entscheidung über die
Wehrpflicht, die auf dem bevorstehenden Parteitag in zehn Tagen fallen sollte, erst einmal
vertagen. Weil sie offensichtlich befürchten muss, dass ihre Vorliebe für die
Wehrpflicht an der Parteibasis nur sehr bedingt auf Gegenliebe stößt.
Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über Jahrzehnte war er für die
Hörfunk-Sendung Streitkräfte und Strategien beim NDR zuständig, das einzige
sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.
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