Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
06. September 2003


Schleichender Abschied vom Parlamentsheer?
Der Streit um das Entsendegesetz

von Dr. Karl-Heinz Harenberg

Gelegentlich benehmen sich Politiker wie ganz normale Menschen: Wenn ihnen eine Entscheidung unheimlich ist, verschieben sie sie - soweit möglich - auf den Sanktnimmerleinstag. Ein Beispiel dafür ist das Verschleppen eines Gesetzes, das die Mitbestimmung des Parlamentes bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr regeln soll.

Im Gespräch ist ein solches Gesetz seit 1994. Damals hatten SPD- und FDP-Fraktion vor dem Bundesverfassungsgericht die Regierung Kohl verklagt, weil sie deutsche Soldaten im Auftrag der UNO auf dem Balkan eingesetzt hatte. Unter anderem ging es dabei um Luftwaffenoffiziere in NATO-AWACS-Maschinen, mit deren Hilfe das gegen Jugoslawien verhängte Flugverbot über Bosnien kontrolliert werden sollte. Zwar hat das höchste deutsche Gericht damals in diesem Einsatz keinen Verstoß gegen das Grundgesetz gesehen, es ordnete aber an, dass der Bundestag vor zukünftigen Entscheidungen über einen Einsatz deutscher Streitkräfte beteiligt werden müsse. In diesem Zusammenhang hat das Gericht empfohlen, das Zusammenwirken von Regierung und Parlament in solchen Fällen durch ein Gesetz zu regeln. Denn - so die Richter in Karlsruhe zur Begründung - die Bundeswehr sei ein Parlamentsheer und nicht etwa die Armee der jeweiligen Regierung.

Die Anordnung des Gerichtes wird seitdem weitgehend befolgt. In über zwanzig Fällen haben die Regierungen unter Bundeskanzler Helmut Kohl und seit 1999 unter Gerhard Schröder die Zustimmung des Deutschen Bundestages eingeholt, bevor sie deutsche Truppen in Auslandseinsätze schickten - ob nun in den Luftkrieg gegen Jugoslawien oder den Antiterrorkrieg in Afghanistan. Wie dramatisch es in Berlin dabei zugehen konnte, zeigt die Auseinandersetzung über die Frage, ob sich Deutschland militärisch am amerikanischen Unternehmen "Enduring Freedom" beteiligen sollte oder nicht. Bundeskanzler Schröder konnte dabei die Mehrheit bei den Abgeordneten der eigenen Koalition nur erzwingen, indem er mit der Kriegsfrage zugleich die Vertrauensfrage stellte.

Ganz anders allerdings sind Regierung und Parlament mit der Empfehlung der Verfassungsrichter umgegangen, das Entscheidungsverfahren über Bundes-wehreinsätze gesetzlich zu regeln. Darauf warten Staatsbürger in und ohne Uniform bis heute. Die Gründe dafür sind offensichtlich. Auf der einen Seite funktioniert das bislang geübte Verfahren weitgehend zufriedenstellend; und auf der anderen Seite ist die Materie so kompliziert, dass sich die Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien bis heute nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen konnten. Obwohl es dabei doch um ihre ureigene Angelegenheit geht: das Parlamentsheer. Erst der Alleingang der Bundesregierung beim Einsatz von NATO-AWACS-Maschinen mit deutscher Beteiligung in der Türkei während des Irak-Krieges hat die Diskussion überhaupt wieder in Gang gebracht. Ausschlaggebend dafür war wohl, dass sich die FDP-Fraktion jetzt erneut an das Bundesverfassungsgericht gewandt hatte. Eine Arbeitsgruppe von Abgeordneten aller Fraktionen einigte sich daraufhin, dass Thema nunmehr energisch zu verfolgen - mit Rücksicht auf die deutschen Soldaten in der Türkei allerdings erst nach Ende des Krieges. Das hat US-Präsident George W. Bush am 1. Mai verkündet. Und tatsächlich hat der Bundestag seitdem bereits zwei Anhörungen veranstaltet, eine mit Verteidigungsminister Peter Struck, die andere mit Außenminister Joschka Fischer; weitere sollen folgen. Zu einer gemeinsamen Arbeitsgruppe, die einen Gesetzentwurf entwickelt, konnten sich die Abgeordneten jedoch nicht durchringen. So beharren die Unionsparteien nach wie vor darauf, dass die Bundesregierung einen solchen Gesetzentwurf erarbeiten und dem Bundestag vorlegen müsse. Eine zentrale Frage dabei ist, in welchen Fällen der Bundestag überhaupt gefragt werden muss. Schon bei der Entsendung eines Erkundungskommandos ins geplante Stationierungsgebiet oder bei so genannten Kleinsteinsätzen wie der Überwachung des Waffenstillstandes in Abchasien? Oder erst dann, wenn der Einsatz jederzeit mit dem Risiko verbunden ist, dass die Soldaten auch tatsächlich kämpfen müssen? Ein Risiko, das nach Auffassung gerade der Opposition beim Einsatz der NATO-AWACS-Flugzeuge in der Türkei während des Irak-Krieges gegeben war. Schon diese wenigen Fragen zeigen, welche Probleme bei der Arbeit an dem Parlamentsbeteiligungsgesetz gelöst werden müssen.

Bisher können die Abgeordneten Einsatzplänen der Bundesregierung nur zustimmen oder sie ablehnen. Aber mit diesem Ja oder Nein kann es nicht getan sein. Denn haben die Volksvertreter erst einmal zugestimmt, haben sie damit auch Verantwortung übernommen für das Schicksal jedes einzelnen Soldaten. Und diese Verantwortung kann nicht enden, wenn der Einsatz tatsächlich beginnt. Das heißt, der Bundestag muss regelmäßig und ausführlich über den Fortgang eines Einsatzes unterrichtet werden und mithin auch in der Lage sein, seine Zustimmung zu korrigieren bzw. ganz zurückzunehmen. In diesem Fall, darüber herrscht unter den Abgeordneten offenbar weitgehend Übereinstimmung, soll dem Parlament ein Rückholrecht zugestanden werden - eine Forderung, die von der Bundesregierung entschieden abgelehnt wird.

Wie schnell eine Situation eskalieren kann, hat der Einsatz eines deutschen ABC-Spürpanzerverbandes in Kuwait gezeigt. Als die sechzig Spezialisten mit ihren fünf Fahrzeugen im Frühjahr 2002 an den Golf verlegt wurden, konnte niemand voraussehen, dass sie sich ein Jahr später im Aufmarschgebiet der anglo-amerikanischen Angriffsarmee gegen den Irak wiederfinden würden. Die Bundesregierung, die diesen Krieg ausdrücklich abgelehnt hatte, sah aus politischen Gründen dennoch keine Möglichkeit, den Verband zurückzuholen. Hätte es der Bundestag tun können und tun müssen, wenn er das Recht dazu gehabt hätte? Das Bundesverteidigungsministerium hat sich jedenfalls vorsichtshalber schon einmal gegen ein solches Rückholrecht des Parlamentes ausgesprochen.

Der Bundestag wird also nicht nur Wert darauf legen müssen, bei einer Änderung des militärischen Auftrages einbezogen zu werden, sondern er muss auch bei einer unerwarteten Änderung der Lage im Einsatzgebiet das Recht haben, seine ursprüngliche Entscheidung zu überdenken. Selbst wenn das zu außenpolitischen Verwicklungen zwischen Deutschland und seinen Verbündeten führen könnte. Solche Verwicklungen sind zwangsläufig auch dann zu erwarten, wenn sich der Bundestag gegenüber multinationalen Einsätzen mit deutscher Beteiligung sperrt, zum Beispiel in der NATO oder der Europäischen Union. Ein Nein der Abgeordneten wäre zum Beispiel sinnvoll gewesen bei so unsinnigen Einsätzen den Verbündeten zuliebe wie Ende 1999 in Ost-Timor oder in diesem Jahr im Kongo schon mit Rücksicht auf die personelle und finanzielle Situation der Bundeswehr. Vorausgesetzt natürlich, sie werden überhaupt gefragt. Denn in den Unionsparteien wollen eine noch unbekannte Zahl von Abgeordneten - angeführt vom ehemaligen Verteidigungsminister Rupert Scholz - auf eine Parlamentsbeteiligung ganz verzichten, wenn multinationale Einsätze mit deutscher Beteiligung zur Entscheidung anstehen. Eine Forderung, die jeder Bundesregierung gefallen dürfte, deren Folgen aber verheerend wären. Denn der Verzicht der Volksvertreter darauf, auch bei multinationalen Einsätzen NEIN sagen zu dürfen, könnte Deutschland schon bald in abenteuerliche Feldzüge nach Art des amerikanischen Angriffskrieges gegen den Irak verstricken. Vor dem Hintergrund einer derartigen Gefahr sollte der Bundestag dann doch lieber gleich auf das geplante Beteiligungsgesetz verzichten und - trotz aller Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten - an der bisherigen Praxis festhalten.


 

Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über Jahrzehnte war er für die Hörfunk-Sendung “Streitkräfte und Strategien” beim NDR zuständig, das einzige sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.