Gastbeitrag von Dr. Martin Kutz
Streitkräfte und Strategien - NDR info
04. November 2006


Skandalfotos von Bundeswehr-Soldaten
Einzelfall oder Bankrotterklärung der Inneren Führung?

Interview von Andreas Flocken mit Dr. Martin Kutz

Flocken: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der jüngsten Affäre und der Entwicklung der Inneren Führung? Darüber habe ich mir Martin Kutz gesprochen. Er war bis vor Kurzem Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, der höchsten Ausbildungseinrichtung der deutschen Streitkräfte. Ich habe Martin Kutz gefragt, ob die Verfehlungen nur Einzelfälle sind, oder möglicherweise auch strukturelle Ursachen haben:

Kutz: Das ist schon richtig. Strukturell heißt hier in diesem Fall: dass die Ausbildung von Soldaten speziell des Führungspersonals, insbesondere der unteren Ebenen, technokratisch orientiert ist.


Flocken:
Was heißt technokratisch orientiert?

Kutz: Das heißt, dass sie sozusagen ihren technischen Job hinkriegen. Dass sie wissen, wie man Minen findet, wie man Spähtrupp läuft, oder wie man beim Überfall reagiert und dergleichen mehr. Die Bundeswehr tut ja schon sehr viel mehr, als alle anderen Armeen, die dort sind, aber das reicht nicht aus, wenn das Führungspersonal nicht die nötige Sensibilität dafür hat, was in fremden Kulturen sozusagen Standard ist, und was man anrichten kann, wenn man diese Standards missachtet oder in Unkenntnis verletzt.


Flocken:
Aber die Bundeswehr sagt ja von sich selbst, dass sie sehr sensibel ihre Soldaten auf die Auslandseinsätze vorbereitet, gerade auch was die Kultur angeht, in die diese Soldaten dann geschickt werden.

Kutz: Das trifft sozusagen auf der untersten Ebene zu. Was auf der oberen Ebene passiert, das ist völlig anderer Natur. Wenn Sie überlegen, dass an der Führungsakademie seit Jahren niemand da ist, der Islam-Wissenschaften studiert hat, und das Führungspersonal entsprechend ausbilden kann, dass man die einzige Frau, die da war, hat weggehen lassen, weil man ihr an der Führungsakademie keine Beförderung zusagen konnte, dann wird eigentlich deutlich, wo die wirklichen Probleme sind. Sie liegen nämlich dort, wo die Entscheidungsträger solche Sachen zu Händeln haben.


Flocken:
Aber die Bundeswehr versucht doch auch Kompetenz von außen in die Bundeswehr reinzuholen, insbesondere wenn es um den Afghanistan-Einsatz geht, wenn es um den Libanon-Einsatz geht, weil sie gerade verhindern will, dass man in einem Umfeld agiert, in dem man in der Tat nicht die Voraussetzungen der jeweiligen Kultur kennt.

Kutz: Das Problem ist, dass das Führungspersonal nicht die nötige Sensibilität hat. Wenn ich von Offizieren aus dem Einsatz höre, dass sie bei ihrer Ankunft im Einsatzgebiet von ihren Vorgesetzten zum Beispiel empfangen wurden mit dem Hinweis: "Innere Führung gibt’s hier nicht, vergessen Sie das", dann wird deutlich, dass dort ein Führungsstil praktiziert wird, der solche Dinge einfach provoziert.


Flocken:
Wo sagt man das?

Kutz: Ich habe das von Offizieren, die in Bosnien tätig waren gehört, und von Offizieren, die in Afghanistan tätig waren. Ich kann nicht sagen, dass das Standard ist, dass das überall passiert. Aber es scheint so typisch zu sein, dass man das nicht nur einmal hört. Und es wird auch dabei berichtet, na ja, das habe ich auch schon von anderen gehört, dass es denen genau so gegangen ist.


Flocken:
Der Verteidigungsminister hat ja auch angekündigt, dass er den zu-ständigen Beauftragten für Erziehung und Ausbildung nach Afghanistan schicken will, um sich dort vor Ort ein Bild über die Lage zu machen. Ist das nicht ein Hinweis, dass man inzwischen das Problem erkannt hat, dass Defizite in diesem Bereich abgestellt werden sollen, mit Blick auf Defizite bei der interkulturellen Kompetenz?

Kutz: Ja das hoffe ich, dass das so ist. Nur ein bisschen klingt das immer wie eine Symbolhandlung, die die Öffentlichkeit beruhigen soll. Das Problem liegt ja nicht in Afghanistan, sondern es liegt in den Ausbildungseinrichtungen in Deutschland.


Flocken:
Aber allgemein wird ja auch jetzt beklagt, dass es keine einsatzbegleitende Ausbildung gibt. Ist das nicht ein Defizit bei Auslandseinsätzen, das die Bundeswehr inzwischen erkannt hat?

Kutz: Wenn sie es erkannt hat, dann ist es gut, dann muss was getan werden. Ich meine, man muss sich das ja vorstellen, wie das in vielen Fällen aussieht: die Soldaten sind ja von ihrer Umgebung in den Camps abgeschottet, und gehen nur zu ihren jeweiligen konkreten Einsätzen raus, und lernen natürlich auch nichts über die dortige Gesellschaft aus dem praktischen Umgang, außer in ihren konkreten militärischen Einsätzen. Und da muss einfach vor Ort einiges getan werden, das ist völlig klar.


Flocken:
Durch die neuen Aufgaben der Bundeswehr, durch den Umbau der Bundeswehr in eine Einsatzarmee ist offenbar auch ein ganz neuer Soldatentypus im Kommen. Vorher hatten wir den - ich sage mal - Abschreckungssoldaten im Ost-West-Konflikt. Seine Aufgabe war letztlich, nicht kämpfen zu müssen. Das Ziel war, abzuschrecken. Jetzt sieht man offenbar einen neuen Soldatentypus im Kommen, nämlich den Soldaten, der auch wirklich kämpfen muss, in Auslandseinsätzen oder auch bei Stabilisierungsmissionen. Ist das nicht möglicherweise ebenfalls eine Ursache, ein Problem, das nicht richtig angegangen worden ist?

Kutz: Der neue Soldatentypus ist notwendig. Ich würde sogar sagen, wir brauchen den neuen deutschen Soldaten. Aber er muss nicht so aussehen, wie sich das manche Heeresgenerale vorstellen. Der Mann, der den Gegner nicht mehr mit dem Messer zwischen den Zähnen von hinten ersticht, sondern dieses mit erstklassiger Technik oder Ähnliches zustande bringt. Wir brauchen vielmehr auch auf der Ebene der wirklich problematischen Kampfeinsätze Leute, die auch die ethischen Hintergründe ihres Handelns kennen, die wissen warum sie Soldaten sind. Und die sich darüber im Klaren sind, dass das, was sie tun immer problematisch ist. Aber das wird ja nicht gefordert, sondern man hofft sozusagen auf den blinden Kämpfer, denn sonst würde man nicht vom archaischen oder atavistischen Kämpfer sprechen.


Flocken:
Nun muss man in der Tat den Eindruck haben, dass manche Soldaten durchaus ein Problem haben mit ihrer neuen Rolle. Ist das möglicherweise auch ein Grund dafür, dass - ich will mal fast überspitzt sagen - manche Soldaten eher orientierungslos sind, was Auslandseinsätze und ihr eigenes Selbstverständnis als Soldat angeht?

Kutz: Ich bin mir nicht sicher, ob sie orientierungslos sind. Ich vermute eher, dass sie sich an falschen Leitbildern orientieren. Wenn sie sozusagen von oben demonstriert bekommen, dass das traditionelle Leitbild der Bundeswehr, der Bürger-Soldat, da draußen nicht mehr gilt, dann geht das sehr schnell in Richtung: ja, wir müssen halt kämpfen. Und die Konsequenzen dessen was man tut, spielen dann eigentlich nur noch eine technische Rolle: Schaffen wir das? Oder schaffen wir das nicht? Oder ähnliches.


Flocken:
Offiziell sagt man aber weiterhin, dass die Innere Führung auch bei den Auslandseinsätzen gilt.

Kutz: Das ist richtig, und das ist auch gut so. Aber in der Bundeswehr wurde über Innere Führung überwiegend Falsches gelehrt und in vielen Fällen auch gelogen.


Flocken:
Droht die Innere Führung durch die Transformation der Streitkräfte, durch den Umbau von einer Verteidigungsarmee in eine Einsatzarmee unter die Räder zu kommen? Oder ist sie sogar schon unter die Räder gekommen?

Kutz: Also die Gefahr, dass es dort Fehlentwicklungen gibt, die ist seit einigen Jahren deutlich. Ich habe vor Jahren eine Konferenz in Straußberg mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr gehabt. Ich habe dort damals in der Diskussion darauf hingewiesen, dass ich Entwicklungen hin zum Söldnertum in der Bundeswehr beobachtet hätte, worauf mir der Stabsabteilungsleiter aus dem Ministerium, der für Innere Führung zuständig war, sagte: deswegen sind wir hier. Das ist also auf deren Ebenen durchaus schon erkannt. Aber das Problem ist ja, dass solche Riesentanker wie die Bundeswehr unglaublich schwer umzustrukturieren und umzuorganisieren sind.


Flocken:
Ist das aber manchmal nicht auch eine Frage der Rekrutierung von Soldaten? Rekrutiert möglicherweise die Bundeswehr die falschen Soldaten für ihre neuen Aufgaben?

Kutz: Das gibt es auf zwei Ebenen: Einmal im Bereich der Wehrpflichtigen. Dort kann man feststellen, das ist ja auch mal untersucht worden, dass überwiegend junge Leute aus dem rechten gesellschaftlichen Spektrum in die Bundeswehr gehen. Das heißt in diesem Fall, dass es Leute sind, die relativ wenig Sensibilität für Fremdes haben. Sie sind aber gefordert, genau das zu entwickeln. Und etwas Ähnliches können wird auch bei der Rekrutierung des Offiziernachwuchses feststellen. Seit Mitte der 90er Jahre kommt ein signifikant größer werdender Teil junger Leute in die Bundeswehr, die sich als Deutschnationale begreifen. Das heißt, auch hier sind politisch, gesellschaftliche Vorstellungen vorhanden, die eher ans rechte Spektrum der deutschen Gesellschaft gehören, und die auf Mentalitäten schließen lassen, die fast diametral entgegengesetzt den Vorstellungen vom Bürger-Soldaten stehen.


Flocken:
Die Bundeswehr legt ja sehr viel Wert darauf, dass ihre Einsätze in einem multinationalen Rahmen erfolgen. Vor diesem Hintergrund: Ist es nicht möglich, dass natürlich auch die Bundeswehr mit Blick auf die Innere Führung bei solchen Einsätzen Kompromisse machen muss? Denn nicht alle Bündnisarmeen der Bundeswehr haben so etwas wie die Innere Führung. Mit der Folge, dass die Innere Führung letztlich dann doch auf der Strecke bleibt?

Kutz: Ich glaube, das ist in erster Linie ein Problem der Führungskräfte, der Stabsoffiziere und der Generalität. Das Argument ist schon seit den EVG-Verhandlungen Anfang der 50er Jahre immer wieder gebraucht worden. Es stimmt einfach nicht. Ich selbst habe im Gespräch mit englischen und französischen Offizieren immer wieder feststellen können, dass sie hoch interessiert sind an diesen Dingen, wenn sie bei uns an der Führungsakademie waren. Ich habe in England einen Vortrag darüber gehalten, und der ist auch sehr interessiert aufgenommen worden. Das Problem ist einfach, man muss den Anderen klar machen, dass man eine eigene Führungskultur hat, nicht nur Führungskultur, sondern dass diese Armee einfach anders ist, und dass wir anders sind, weil wir Erfahrungen aus der Geschichte umgesetzt haben.


Flocken:
Es ist im Zusammenhang mit den Skandalfotos auch schon die Frage gestellt worden, ob nicht vor allem das Unteroffiziers-Korps, die tragende Säule der Bundeswehr, Defizite hat. Kommt die Innere Führung möglicherweise gerade auf dieser Ebene etwas zu kurz?

Kutz: Ich denke schon, dass sie bei der Ausbildung der Unteroffiziere zu kurz kommt. Und das Zweite ist, solche Defizite hat es in der Bundeswehr immer gegeben, weil man die Ausbildung von Unteroffizieren nicht ernst genug genommen hat. Wenn Sie einmal überlegen, dass jeder qualifizierte Beruf eine ca. dreijährige Ausbildung hat, manche sogar länger, und man schickt dann Unteroffiziere mit ein paar Lehrgängen wieder als Vorgesetzte raus, dann braucht man sich nicht zu wundern. Außerdem glaube ich, dass ein anderes Problem genauso wichtig ist: Das sind ja alles junge Leute. Die sind nicht viel älter als die Leute, die sie führen. Warum soll dort die Mentalität anders sein als bei denjenigen, über die man sich jetzt aufregt?


Flocken:
Herr Kutz, lassen sich denn aus der Affäre mit den Fotos Schlussfolgerungen allgemeiner Art auch für den Stand der Inneren Führung ziehen?

Kutz: Das finde ich schon.


Flocken:
Welche?

Kutz: Innere Führung ist in der Bundeswehr, zumindest in meiner gesamten Dienstzeit, immer eine Sache von Lippenbekenntnissen gewesen oder von falsch verstandenen Vorstellungen. Sie war fast immer reduziert auf ein möglichst modernes Management, um Untergebene für ihre Arbeit zu motivieren. Der ganze Aspekt der politisch kulturellen Hintergründe, auch des militärischen Handelns, der in dem Konzept der Inneren Führung ja mal angedacht war und weitgehend ausgearbeitet war, das war uninteressant. Das wollte man zum Teil gar nicht. Deswegen hat man eben auch Verschleierungstaktiken genutzt, um damit nicht arbeiten zu müssen. Das ist ein Erbe der Bundeswehr und das spiegelt sich genau in diesen Dingen, die jetzt in Afghanistan passiert sind.


Flocken:
Was müsste man denn ändern, um das Problem in den Griff zu kriegen?

Kutz: Das ist nur langfristig zu machen, das heißt, die Ausbildung modernisieren, vor allem in den Bereichen, wo es dringend nötig ist.


Flocken:
Konkret heißt das?

Kutz: Bildung in Offizierhirne reinbringen, den Leuten genug über den Islam sagen, wenn man sie in islamische Länder schickt, damit sie wissen; was man anrichtet, wenn man bestimmte Dinge tut. Und das heißt auch, eine ethische Kompetenz den Leuten zu vermitteln. Denn ihnen steht etwas ins Haus, von dem heute noch ganz wenig die Rede ist: Nämlich, dass der Einzelne - wahrscheinlich schon auf der Unteroffizier-Ebene - in Situationen kommen wird, wo er gegen Befehle handeln muss, um in der Situation das Richtige zu machen. Und dass das Richtige in vielen Fällen nicht das ist, was militärischen Erfolg verspricht, sondern das, was man vor seinem Gewissen verantworten kann. Da muss man aber auch zur Gewissensprüfung befähigt sein. Und das geht nur, wenn man entsprechend gebildet ist. Ich will nicht von Ausbildung reden. Dann werden nämlich wieder irgendwelche Themen abgearbeitet. Es geht darum, über solche Dinge systematisch nachzudenken. Dafür fehlt in der Bundeswehr die Zeit.


 

Dr. Martin Kutz ist ehemaliger Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.