Der Werkzeugkasten der USA
Interview mit Otfried Nassauer
Die Nato wird 60 und hat sich stark gewandelt. Ob sie gereift
ist oder eher in Frührente gehen sollte und welche Strategien ihr
gut zu Gesicht stünden, darüber sprach news.de mit dem Friedensforscher
Otfried Nassauer.
news.de: 60 Jahre Nato: Ist das ein Grund
zum Feiern?
Nassauer: Wer 60 wird, soll auch feiern. Er muss sich aber auch fragen,
ob er nicht den Weg in die Frührente gehen sollte. Die Nato muss
aufpassen, dass sie sich nicht zu Lebzeiten überlebt. Der US-Politiker
Richard Lugar Richard Lugar, geboren 1932, gehört der Republikanischen
Partei an. Von 1987 bis 1995 und von 2003 bis 2007 war er Vorsitzender
des US-Senatsauschusses für Außenpolitik.hat ihr vor 15 Jahren
den Rat gegeben, «out of areaGemeint ist, die Nato soll Einsätze
außerhalb des Hoheitsgebietes ihrer Mitgliedsstaaten durchführen
dürfen.» zu gehen, wenn sie nicht «out of businessGemeint
ist, sie Nato soll entsprechend handeln, wenn sie ihre Daseinsberechtigung
nicht verlieren möchte.» gehen wolle. Heute kann man fragen,
ob die Nato Gefahr läuft, «out of business» zu gehen,
weil sie ihre Aufgaben zu sehr «out of area» sucht.
Was soll das denn heißen?
Nassauer: Als die Nato das Territorium ihrer Mitglieder schützen
sollte und nie Krieg führen musste, war es einfach, den Konsens im
Bündnis zu wahren oder Kompromisse zu schließen. Heute werden
angesichts der Auslandseinsätze und der Erweiterung der Nato viele
Differenzen sichtbar. Sie höhlen die Nato von innen aus. Um sie in
den Griff zu kriegen, müsste die Nato sich massiv reformieren.
Wer streitet sich?
Nassauer: Konflikte allerorten – nur drei Beispiele: Durch den Beitritt
vieler neuer Mitglieder, die früher im Warschauer Pakt waren, steht
die Nato plötzlich wieder vor dem Problem, ob sie Sicherheit in Europa
vor oder mit Russland gestalten will. Da wollen die neuen Mitglieder die
alte Nato und viele alte eine neue, weil der Kalte Krieg vorbei ist. Zweitens:
Wie funktioniert die Nato? Nach acht Jahren George W. Bush ist die Nato
nicht mehr der Ort, an dem man gemeinsam diskutiert und entscheidet, um
gemeinsam zu handeln. Zuletzt war sie ein Ort, an dem im günstigsten
Fall konsultiert wurde, bevor nationale Entscheidungen in Washington fielen
und dann Koalitionen der Willigen geschmiedet wurden. Viele alte Nato-Staaten
in Europa lehnen das ab.
Und drittens?
Nassauer: Die Nato-Auslandsoperationen begannen als Unterstützung
der Uno, mittlerweile werden aber auch Interventionen ohne UN-Mandat gemacht
– Stichworte Kosovo und Irak. Darüber gibt es in vielen Nato-Staaten
keinen öffentlichen Konsens. Die Nato hat nach innen viel Legitimation
verloren.
Welche Legitimation hat denn die Nato überhaupt noch?
Nassauer: Je nach Mitglied eine unterschiedliche. Viele neue Mitglieder
sehen sie als Rückversicherung gegen Russland. Die USA haben sie
zuletzt als Werkzeugkasten betrachtet, aus dem man sich militärische
Instrumente leihen kann. Und sie ist auch eine Rückversicherung gegen
Konflikte unter den Mitgliedern. Aber eines steht fest: Der Kurs der vergangenen
15 Jahre kann so nicht weiter gefahren werden. Er höhlt die Nato
immer weiter aus.
Und was jetzt?
Nassauer: Wenn die Nato eine neue Legitimation bekommen soll, dann geht
das nur, wenn die breite Öffentlichkeit in die Diskussion einbezogen
wird und den Sinn und Zweck wieder mitträgt, der der Nato für
die Zukunft gegeben wird. Dazu müsste man sie eigentlich komplett
umstrukturieren und das Ergebnis zumindest den Parlamenten zur Abstimmung
vorlegen. Aber das riskiert wohl niemand, weil es der Nato dann so gehen
könnte wie der EU – irgendeiner lehnt den neuen Vertrag schon ab.
Und was wird Ihrer Meinung nach beim Gipfel passieren?
Nassauer: Man wird sich selbst feiern, argumentieren, dass Frankreichs
Rückkehr zeigt, wie lebendig und notwendig die Nato ist. Wer kritisiert
schon gerne ein Geburtstagskind? Die Konflikte und offenen Fragen werden
in die Diskussion über eine neue Nato-Strategie verlagert und damit
vertagt. Ich sähe zwar lieber, wenn die Probleme klar benannt würden
und nicht um den heißen Brei herum geredet würde. Aber das
wird wohl nicht passieren.
Was sollte die Nato idealerweise leisten?
Nassauer: Idealerweise müsste sich die Nato zu einem System kollektiver
Sicherheit weiterentwickeln, in dem man sich zusätzlich das Versprechen
kollektiver Verteidigung gibt. Unter Einschluss Russlands und anderer.
Klar, dann wäre die Nato eine ganz andere. So könnte sie dazu
beitragen, dass mehr Konflikte ohne Waffengewalt gelöst werden, dass
wirksame Lösungen für die globalen Probleme multilateral gesucht
werden und der Tatsache Rechnung getragen wird, dass unsere Welt multipolarer
wird und deswegen nach kooperativen Lösungen gesucht werden muss.
Eine solche Funktion könnte aber auch eine neue Institution erfüllen.
Welche Rolle könnte Deutschland einnehmen?
Nassauer: Eine vermittelnde und ideengebende Rolle - zum Beispiel was
die Kooperation mit Russland betrifft. Seit der Entspannungspolitik haben
sich viele nützliche Erfahrungen angesammelt. Oder in Sachen Sicherheitspolitik
der EU: Deutschland kann glaubhaft argumentieren, dass eine eigenständige
handlungsfähige EU nicht den Zweck hat, die USA aus der europäischen
Sicherheitspolitik herauszuhalten. Deutschland kann sich auch dafür
stark machen, dass endlich verstanden wird, dass für die meisten
aktuellen Konflikte primär nicht-militärische Lösungen
und Fähigkeiten erforderlich sind.
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Das Interview führte Andrea
Schartner |
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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