20 Jahre nach dem INF-Vertrag Abrüstungsverträge ein Auslaufmodell?
von Otfried Nassauer
Der 8. Dezember 1987 ist ein historisches Datum. An diesem Tag unterzeichneten Michail
Gorbatschow, damals Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, und Ronald Reagan, der
Präsident der USA, den INF-Vertrag. Es war der erste Vertrag, der die Supermächte des
Kalten Krieges zu einem echten Abrüstungsschritt verpflichtete. Beide verzichteten auf
alle landgestützten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500
bis 5.500 Kilometern. Die Bundesrepublik Deutschland leistete einen eigenen Beitrag, indem
sie auf ihre Pershing-1a-Raketen und deren geplante Modernisierung verzichtete. Fast zehn
Jahre erbitterter politischer Streit über die Aufstellung modernster atomarer
Mittelstreckenraketen - die so genannte Nachrüstung - endeten mit einem überprüfbaren
Abrüstungsabkommen. Auch das ein Novum. Nur sechs Monate später, am 1. Juni 1988, trat
der Vertrag in Kraft. Bis zum 1. Juni 1991 wurden insgesamt 2.694 sowjetische und
amerikanische nukleare Trägersysteme zerstört.
Mit dem INF-Abkommen begann eine Phase, in der Rüstungskontrolle und Abrüstung
wesentliche Mittel zur Ausgestaltung internationaler Beziehungen wurden. Als Instrumente
eines effizienten Multilateralismus trugen sie dazu bei, die politischen und
wirtschaftlichen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa kalkulierbarer zu machen
und sicherheitspolitische Stabilität zu garantieren. Insbesondere Europa, das rund ein
halbes Jahrhundert von der Blockkonfrontation geprägt worden war, profitierte davon. Nach
Jahrzehnten gegenseitigen Misstrauens schuf die Rüstungskontrolle erstmals Transparenz.
Sicherheit in Europa so zeigte sich konnte man auch miteinander gestalten.
Der INF-Vertrag und seine rasche Umsetzung trugen wesentlich zur Vertrauensbildung
während der Endphase des Kalten Krieges bei. Ein konstruktives politisches Umfeld
entstand, in dem weitere Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge möglich wurden: 1990
wurde der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) fertiggestellt, in
dessen Folge die Staaten der NATO und des Warschauer-Paktes mehr als 60.000 konventionelle
Großwaffensysteme abrüsteten. Der START-1-Vertrag zwischen Moskau und Washington
begrenzte 1991 die nuklearen Langstreckenwaffen mit mehr als 5.500 Kilometer Reichweite.
Ein Jahr später wurden durch das so genannte KSE-1a Abkommen auch die nationalen
Mannschaftsstärken der Streitkräfte in den Staaten der NATO und des ehemaligen
Warschauer Paktes begrenzt. 1993 folgten die Konvention über ein Verbot chemischer Waffen
und die START-2-Vereinbarung - ein weiterer Vertrag, der die Reduzierung der strategischen
Atomwaffen in Russland und den USA zum Ziel hatte. Vertrauensbildende Maßnahmen,
Verifikationsvereinbarungen und Schritte zur Verbesserung der Transparenz kamen hinzu.
Zwanzig Jahre später bietet sich ein fast entgegengesetztes Bild. Rüstungskontrolle
und Abrüstung stecken heute in der Krise. Geltende Verträge werden infrage gestellt.
Neue werden nicht mehr ausgehandelt oder ratifiziert. Erfolgversprechende Initiativen für
vertraglich vereinbarte Abrüstung sind zur Mangelware geworden. Das Interesse an
Rüstungskontrolle und Abrüstung hat deutlich nachgelassen.
Die Verhandlungen über ein Verifikationsabkommen für das B-Waffen-Verbot sind
gescheitert. Gespräche über ein Produktionsverbot von spaltbarem Material für
Kernwaffen kommen nicht in Gang. Unterzeichnete Vereinbarungen wie der angepasste
KSE-Vertrag, das START-2-Abkommen oder der atomare Teststopp-Vertrag sind nicht in Kraft
getreten, weil wichtige Vertragsparteien sie nicht ratifiziert haben. Die USA haben den
ABM-Vertrag gekündigt, der die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen begrenzt hat. Ende
2009 läuft der START-1-Vertrag aus, 2012 der Moskauer SORT-Vertrag, der sich ebenfalls
auf die strategischen Waffen bezieht. Ob es für beide Abkommen eine Folge-Vereinbarung
geben wird, ist ungewiss. Moskau hat damit gedroht, das KSE-Regime infrage zu stellen,
weil die NATO-Staaten den angepassten KSE-Vertrag nicht ratifiziert haben. In Moskau und
Washington wurden Stimmen laut, die auch den INF-Vertrag kündigen wollen. Selbst der
nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), in Deutschland besser als Atomwaffensperrvertrag
bekannt, bleibt von der Krise nicht verschont. Die Überprüfungskonferenz 2005
scheiterte. Und auch für das nächste Treffen in drei Jahren kann ein erneuter Fehlschlag
nicht ausgeschlossen werden.
Hat die Rüstungskontrolle als Mittel der Ausgestaltung der Weltordnung also
ausgedient? Waren ihre Blütejahre, die dem INF-Vertrag folgten, lediglich ein Intermezzo,
um den Niedergang der Sowjetunion und des Warschauer Paktes besser managen zu können?
Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts könnten diesen Eindruck erwecken. Mit George W.
Bush haben 2001 in den USA Politiker zentralen Einfluss auf die Rüstungskontrollpolitik
bekommen, die grundsätzliche Zweifel an deren Sinn hegten. Politiker wie beispielsweise
John Bolton, zunächst im Außenministerium für die Rüstungskontrolle zuständig und bis
vor kurzem der UN-Botschafter Washingtons. Sie glauben, dass Rüstungskontrolle die
Handlungsfreiheit der einzig verbliebenen Supermacht einschränke. Das freie Spiel der
Kräfte sei für den Stärkeren besser. Verträge seien Fesseln, derer man sich entledigen
müsse, wenn sie den eigenen Interessen im Wege stehen. Colin S. Gray, ein Vordenker
dieser Sichtweise, bezeichnete die Rüstungskontrolle bereits 1992 als ein
"nichttödliches Virus, das unausrottbar die Politik befallen" habe.
Rüstungskontrolle schaffe keine Stabilität. Ihre positiven Wirkungen würden lediglich
geglaubt. Rüstungskontrolle schade im besten Fall nicht, aber wirklich nützlich sei sie
erst recht nicht.
Aus Sicht der US-Regierung waren es rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen, die
verhinderten, dass Washington seine militärische Vormachtstellung nach Belieben ausbauen
konnte. Der ABM-Vertrag war der Raketenabwehr im Weg. Die START-Verträge behinderten die
Modernisierung der strategischen Atomwaffen. Mit der Ratifizierung des angepassten
KSE-Vertrages würde Washington bei der Truppenstationierung in Europa Handlungsfreiheit
aufgeben. Solche Hindernisse mussten beseitigt werden.
Doch seit Anfang dieses Jahres beginnt sich das Bild erneut zu wandeln. Wladimir Putin,
Russlands scheidender Präsident, stellt nun ebenfalls Rüstungskontrollverträge infrage.
Russland werde das KSE-Regime aufgeben, wenn die NATO-Staaten den angepassten KSE-Vertrag
nicht bald ratifizierten. Moskau werde prüfen, ob ein bilateraler INF-Vertrag künftig
noch im russischen Interesse sei. Russland könne notfalls auch ohne den START-Vertrag
leben. Putin verband seine Drohungen jedoch mit dem Hinweis, Russland sei bereit, an der
Rüstungskontrolle festzuhalten, wenn der Westen Moskaus Interessen wieder sichtbar
berücksichtigen würde.
Europäische Regierungen, insbesondere die deutsche, registrierten sehr schnell, dass
wesentliche rüstungskontrollpolitische Errungenschaften in Gefahr waren, von denen Europa
bisher erheblich profitiert hatte. Putin hatte den Europäern eine alte Frage neu
gestellt: Soll europäische Sicherheit künftig mit Russland gestaltet werden? Oder
betreibt man eine Sicherheitspolitik, die allein vor möglichen Ambitionen Russlands
schützen soll? Die Alternativen sind deutlich: Entweder es droht ein erneuter
sicherheitspolitischer Kurswechsel in Europa oder die kooperativen Elemente europäischer
Sicherheitspolitik, darunter Rüstungskontrolle und Abrüstung, werden neu belebt.
Doch die Rüstungskontrolle muss nicht zwangsläufig in einer Sackgasse enden: In
Russland und in den USA werden im kommenden Jahr neue Präsidenten gewählt. Erst unter
den neuen Staatschefs fallen endgültige Entscheidungen über die Zukunft der
Rüstungskontrolle. Bis dahin bleibt für die Europäer Zeit, praktikable Vorschläge für
eine Wiederbelebung des Abrüstungsprozesses auszuarbeiten. Zum Beispiel ein Grundkonzept
für einen dritten KSE-Vertrag. Ob die Chance genutzt wird, das bleibt abzuwarten.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
|