Streitkräfte und Strategien - NDR info
01. Dezember 2007


20 Jahre nach dem INF-Vertrag
Abrüstungsverträge ein Auslaufmodell?

von Otfried Nassauer

Der 8. Dezember 1987 ist ein historisches Datum. An diesem Tag unterzeichneten Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der sowjetischen KPdSU, und Ronald Reagan, der Präsident der USA, den INF-Vertrag. Es war der erste Vertrag, der die Supermächte des Kalten Krieges zu einem echten Abrüstungsschritt verpflichtete. Beide verzichteten auf alle landgestützten Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometern. Die Bundesrepublik Deutschland leistete einen eigenen Beitrag, indem sie auf ihre Pershing-1a-Raketen und deren geplante Modernisierung verzichtete. Fast zehn Jahre erbitterter politischer Streit über die Aufstellung modernster atomarer Mittelstreckenraketen - die so genannte Nachrüstung - endeten mit einem überprüfbaren Abrüstungsabkommen. Auch das ein Novum. Nur sechs Monate später, am 1. Juni 1988, trat der Vertrag in Kraft. Bis zum 1. Juni 1991 wurden insgesamt 2.694 sowjetische und amerikanische nukleare Trägersysteme zerstört.

Mit dem INF-Abkommen begann eine Phase, in der Rüstungskontrolle und Abrüstung wesentliche Mittel zur Ausgestaltung internationaler Beziehungen wurden. Als Instrumente eines effizienten Multilateralismus trugen sie dazu bei, die politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa kalkulierbarer zu machen und sicherheitspolitische Stabilität zu garantieren. Insbesondere Europa, das rund ein halbes Jahrhundert von der Blockkonfrontation geprägt worden war, profitierte davon. Nach Jahrzehnten gegenseitigen Misstrauens schuf die Rüstungskontrolle erstmals Transparenz. Sicherheit in Europa – so zeigte sich – konnte man auch miteinander gestalten.

Der INF-Vertrag und seine rasche Umsetzung trugen wesentlich zur Vertrauensbildung während der Endphase des Kalten Krieges bei. Ein konstruktives politisches Umfeld entstand, in dem weitere Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge möglich wurden: 1990 wurde der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) fertiggestellt, in dessen Folge die Staaten der NATO und des Warschauer-Paktes mehr als 60.000 konventionelle Großwaffensysteme abrüsteten. Der START-1-Vertrag zwischen Moskau und Washington begrenzte 1991 die nuklearen Langstreckenwaffen mit mehr als 5.500 Kilometer Reichweite. Ein Jahr später wurden durch das so genannte KSE-1a Abkommen auch die nationalen Mannschaftsstärken der Streitkräfte in den Staaten der NATO und des ehemaligen Warschauer Paktes begrenzt. 1993 folgten die Konvention über ein Verbot chemischer Waffen und die START-2-Vereinbarung - ein weiterer Vertrag, der die Reduzierung der strategischen Atomwaffen in Russland und den USA zum Ziel hatte. Vertrauensbildende Maßnahmen, Verifikationsvereinbarungen und Schritte zur Verbesserung der Transparenz kamen hinzu.

Zwanzig Jahre später bietet sich ein fast entgegengesetztes Bild. Rüstungskontrolle und Abrüstung stecken heute in der Krise. Geltende Verträge werden infrage gestellt. Neue werden nicht mehr ausgehandelt oder ratifiziert. Erfolgversprechende Initiativen für vertraglich vereinbarte Abrüstung sind zur Mangelware geworden. Das Interesse an Rüstungskontrolle und Abrüstung hat deutlich nachgelassen.

Die Verhandlungen über ein Verifikationsabkommen für das B-Waffen-Verbot sind gescheitert. Gespräche über ein Produktionsverbot von spaltbarem Material für Kernwaffen kommen nicht in Gang. Unterzeichnete Vereinbarungen wie der angepasste KSE-Vertrag, das START-2-Abkommen oder der atomare Teststopp-Vertrag sind nicht in Kraft getreten, weil wichtige Vertragsparteien sie nicht ratifiziert haben. Die USA haben den ABM-Vertrag gekündigt, der die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen begrenzt hat. Ende 2009 läuft der START-1-Vertrag aus, 2012 der Moskauer SORT-Vertrag, der sich ebenfalls auf die strategischen Waffen bezieht. Ob es für beide Abkommen eine Folge-Vereinbarung geben wird, ist ungewiss. Moskau hat damit gedroht, das KSE-Regime infrage zu stellen, weil die NATO-Staaten den angepassten KSE-Vertrag nicht ratifiziert haben. In Moskau und Washington wurden Stimmen laut, die auch den INF-Vertrag kündigen wollen. Selbst der nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV), in Deutschland besser als Atomwaffensperrvertrag bekannt, bleibt von der Krise nicht verschont. Die Überprüfungskonferenz 2005 scheiterte. Und auch für das nächste Treffen in drei Jahren kann ein erneuter Fehlschlag nicht ausgeschlossen werden.

Hat die Rüstungskontrolle als Mittel der Ausgestaltung der Weltordnung also ausgedient? Waren ihre Blütejahre, die dem INF-Vertrag folgten, lediglich ein Intermezzo, um den Niedergang der Sowjetunion und des Warschauer Paktes besser managen zu können?

Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts könnten diesen Eindruck erwecken. Mit George W. Bush haben 2001 in den USA Politiker zentralen Einfluss auf die Rüstungskontrollpolitik bekommen, die grundsätzliche Zweifel an deren Sinn hegten. Politiker wie beispielsweise John Bolton, zunächst im Außenministerium für die Rüstungskontrolle zuständig und bis vor kurzem der UN-Botschafter Washingtons. Sie glauben, dass Rüstungskontrolle die Handlungsfreiheit der einzig verbliebenen Supermacht einschränke. Das freie Spiel der Kräfte sei für den Stärkeren besser. Verträge seien Fesseln, derer man sich entledigen müsse, wenn sie den eigenen Interessen im Wege stehen. Colin S. Gray, ein Vordenker dieser Sichtweise, bezeichnete die Rüstungskontrolle bereits 1992 als ein "nichttödliches Virus, das unausrottbar die Politik befallen" habe. Rüstungskontrolle schaffe keine Stabilität. Ihre positiven Wirkungen würden lediglich geglaubt. Rüstungskontrolle schade im besten Fall nicht, aber wirklich nützlich sei sie erst recht nicht.

Aus Sicht der US-Regierung waren es rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen, die verhinderten, dass Washington seine militärische Vormachtstellung nach Belieben ausbauen konnte. Der ABM-Vertrag war der Raketenabwehr im Weg. Die START-Verträge behinderten die Modernisierung der strategischen Atomwaffen. Mit der Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages würde Washington bei der Truppenstationierung in Europa Handlungsfreiheit aufgeben. Solche Hindernisse mussten beseitigt werden.

Doch seit Anfang dieses Jahres beginnt sich das Bild erneut zu wandeln. Wladimir Putin, Russlands scheidender Präsident, stellt nun ebenfalls Rüstungskontrollverträge infrage. Russland werde das KSE-Regime aufgeben, wenn die NATO-Staaten den angepassten KSE-Vertrag nicht bald ratifizierten. Moskau werde prüfen, ob ein bilateraler INF-Vertrag künftig noch im russischen Interesse sei. Russland könne notfalls auch ohne den START-Vertrag leben. Putin verband seine Drohungen jedoch mit dem Hinweis, Russland sei bereit, an der Rüstungskontrolle festzuhalten, wenn der Westen Moskaus Interessen wieder sichtbar berücksichtigen würde.

Europäische Regierungen, insbesondere die deutsche, registrierten sehr schnell, dass wesentliche rüstungskontrollpolitische Errungenschaften in Gefahr waren, von denen Europa bisher erheblich profitiert hatte. Putin hatte den Europäern eine alte Frage neu gestellt: Soll europäische Sicherheit künftig mit Russland gestaltet werden? Oder betreibt man eine Sicherheitspolitik, die allein vor möglichen Ambitionen Russlands schützen soll? Die Alternativen sind deutlich: Entweder es droht ein erneuter sicherheitspolitischer Kurswechsel in Europa oder die kooperativen Elemente europäischer Sicherheitspolitik, darunter Rüstungskontrolle und Abrüstung, werden neu belebt.

Doch die Rüstungskontrolle muss nicht zwangsläufig in einer Sackgasse enden: In Russland und in den USA werden im kommenden Jahr neue Präsidenten gewählt. Erst unter den neuen Staatschefs fallen endgültige Entscheidungen über die Zukunft der Rüstungskontrolle. Bis dahin bleibt für die Europäer Zeit, praktikable Vorschläge für eine Wiederbelebung des Abrüstungsprozesses auszuarbeiten. Zum Beispiel ein Grundkonzept für einen dritten KSE-Vertrag. Ob die Chance genutzt wird, das bleibt abzuwarten.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS