Streitkräfte und Strategien - NDR info
29. Januar 2011


Debatte über Rückzug aus Afghanistan
Beleg für das Scheitern der NATO am Hindukusch?

von Otfried Nassauer

Seit fast zehn Jahren, seit 2002 verlängert der Bundestag nun schon regelmäßig das Bundeswehr-Mandat für Afghanistan. Noch ist kein Ende in Sicht. Oder doch? Der entscheidende Satz des neuen Mandates erweckt jedenfalls den Eindruck, es könnte schon bald zum Abzug kommen. Er lautet –

Zitat
„Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden.“

49 Worte, ein Bandwurmsatz. Und ein an Zuversicht und Hoffnung geknüpftes Versprechen: Der Abzug beginnt noch in diesem Jahr. Das erinnert an das Selbstverständnis, mit dem die Bundeswehr 2002 nach Kabul ging. „Wir sind Gäste. Gäste gehen wieder - freiwillig.“

Doch genau da liegt das Problem. Die bewaffneten Gäste sind nach fast zehn Jahren nur noch geduldete Gäste. Zunehmend sogar missliebige Gäste, deren Abreise sich immer mehr Afghanen wünschen. Je länger sie bleiben, um so stärker wird der Wunsch. Doch die Gäste wollen den Zeitpunkt ihrer Abreise selbst bestimmen. In dem Schlüsselsatz des verabschiedeten Mandats werden vier Bedingungen genannt, unter denen ein Abzug 2011 beginnen könnte:

  • Die Lage in Afghanistan muss den Abzug erlauben.
  • Er darf keine Gefährdung der verbleibenden Bundeswehreinheiten zur Folge haben.
  • Der Abzug darf die Nachhaltigkeit der Übergabe der Verantwortung an afghanische Regierungskräfte nicht gefährden und
  • es muss einen sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für den Abzug geben – das heißt auch gegenüber den Partnernationen, die sich ebenfalls an ISAF beteiligen.

Die Bedingungen machen das Abzugsversprechen vage, lageabhängig und interpretierbar. Die komplizierte Formulierung verdeckt den Widerspruch zwischen den politischen Wünschen von Außenminister Westerwelle und dem militärischen Realismus von Verteidigungsminister zu Guttenberg. Ersterer will noch in diesem Jahr mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan beginnen. Letzterer hält das für kaum möglich. Er glaubt wohl eher, dass Deutschland in den kommenden zwölf Monaten von Glück reden kann, wenn es nicht noch mehr Soldaten für die Afghanistan-Mission abstellen muss, zum Beispiel Besatzungen für die AWACS-Flugzeuge der NATO.

Die Wirklichkeit in Afghanistan ist wenig gnädig mit dem Außenminister. Sie entlarvt dessen Abzugsgedanken als Wunschdenken. Das ISAF-Hauptquartier in Kabul teilte im vergangenen Monat mit, bei der Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie habe die ISAF-Mission zwar erste Fortschritte im Süden und Südosten erzielt, aber es gebe auch Bereiche, in denen die Stabilität ab- und die Auseinandersetzungen zunähmen. Namentlich genannt wurde der Norden des Landes.

Nordafghanistan ist bekanntlich das Einsatzgebiet der Bundeswehr, die Region, in der der Bundesaußenminister 2011 mit dem Abzug beginnen will. Hier müssten die Bedingungen des Verteidigungsministers zumindest erfüllt sein. Darauf aber deutet wenig hin. Seit Monaten ist der Trend sogar gegenläufig. Die Kämpfe haben zugenommen, seit die Aufständischen verstärkt die Nachschubrouten der ISAF-Truppe angreifen, amerikanische Truppen stationiert wurden, Spezialkräfte der USA Nacht für Nacht Jagd auf Führer des Aufstands machen und die Bundeswehr mit einem größeren Teil ihrer Kräfte afghanische Polizei- und Militäreinheiten bei Operationen gegen die Aufständischen begleitet. Das Partnering genannte Konzept, zusammen mit einheimischen Sicherheitskräften Distrikt für Distrikt freizukämpfen und zu halten, ist Teil einer Strategie der Aufstandsbekämpfung, die die USA entwickelt haben. Elemente ihres sogenannten Counterinsurgency-Konzeptes werden mit der Doktrin für die Zusammenarbeit mit einheimischen Sicherheitskräften bei der Aufstands-bekämpfung – der Foreign Internal Defense – kombiniert.

Zuerst soll militärisch Sicherheit geschaffen werden, um anschließend das stabilere Umfeld für den Wiederaufbau und den Kampf um die Unterstützung der Afghanen zu nutzen. Vorrang hat bei diesem Ansatz die militärische Stabilisierung. Dies gilt nun auch im deutschen Zuständigkeitsbereich in Afghanistan. Ob dieser Ansatz in Afghanistan im Allgemeinen und im Norden im Besonderen erfolgreich sein wird, ist weiterhin mehr als unklar. Zweifel sind erlaubt. Mit einem solchen Konzept wird – mangels einer besseren Alternative – vor allem die Regierung in Kabul gestützt, die als äußerst korrupt gilt und in der Bevölkerung nur wenig Zustimmung findet. Zudem gerät die Strategie unter Zeitdruck. US-Präsident Obama will im Präsidentschaftswahlkampf 2012 seinen Wählern versprechen, auch diesen ungeliebten geerbten Krieg zu beenden – so wie den Einsatz im Irak. Das ist das erklärte Ziel. Mittlerweile ist es in Gefahr.

Der Fortschritt ist eine Schnecke, Erfolge stellen sich langsamer ein als erwartet. Wiederholt hat es Rückschläge gegeben. Inzwischen geht es vor allem darum, bei einem Abzug ein Afghanistan zu hinterlassen, in dem die westlich unterstützte Regierung nicht gleich gestürzt wird. Dies hätte für die USA, die NATO und ihre Verbündeten einen großen Gesichtsverlust zur Folge. Die Regierung Karsai weiß um diese Gefahr und kennt das westliche Dilemma. Kabul spielt deshalb auf Zeit, wenn es darum geht, selbst mehr Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan zu übernehmen, die Regierungsarbeit zu verbessern oder die Korruption zu bekämpfen. Das Ziel: Die ausländischen Truppen sollen möglichst bleiben.

Was fehlt, ist ein politisches Konzept für die dauerhafte Lösung des Konflikts. Die westlichen Regierungen mögen in der Lage sein, einen Krieg zu beginnen und ihn zu begründen. Schwer tun sie sich allerdings, wenn es darum geht, realistische und konzeptionelle Lösungen zu finden und Kriege zu beenden, wenn sie nicht mehr zu gewinnen sind. Das gilt auch für das Nation-Building, also den Aufbau funktionsfähiger und überlebensfähiger Staaten. Das deutsche Außenministerium hat zudem eine große Schwäche. Es schaut zu sehr auf Washington, anstatt eigene Initiativen zu starten. Abwarten, was die USA vorschlagen und dann darauf reagieren, so lautet meist die Parole. So wird Westerwelles Wunschtraum, die ersten Bundeswehr-Soldaten noch in diesem Jahr abzuziehen, kaum Wirklichkeit. Vieles spricht dafür, dass der Bundestag auch künftig einmal jährlich das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr verlängern muss.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS