Streitkräfte und Strategien - NDR info
30. Dezember 2006


Zu große Erwartungen?

Was die deutsche EU- und G-8-Präsidentschaft auf sicherheitspolitischem Gebiet bewirken kann

von Otfried Nassauer

Deutschland hatte schon einmal eine Doppelpräsidentschaft inne: Im ersten Halbjahr 1999. Damals wurden in sechs Monaten die wesentlichen Grundzüge der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ESVP entwickelt. Auf dem Kölner EU-Gipfel im Juni 1999 wurden sie beschlossen. In dieser Zeit entstand auch eine neue NATO-Strategie. Zeitgleich führte die Allianz ohne UN-Mandat den Kosovo-Krieg. Der deutschen Doppelpräsidentschaft fiel die Aufgabe zu, diesen Krieg ohne Gesichtsverlust für die NATO zu beenden. Dies glückte, weil es gelang, Russland konstruktiv einzubinden und Belgrad danach letztlich doch noch einlenkte. Dabei zeigte sich, dass der damaligen G-7 und heutigen G-8-Struktur potenziell eine konstruktive Bedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik zukommen kann.

Nun also steht erneut eine solche Doppelpräsidentschaft bevor. Sie ist Chance und Risiko zugleich. Sie kann genutzt werden, strategische Neuansätze oder Korrekturen politisch auf den Weg zu bringen. Es besteht aber auch das Risiko, an dieser Aufgabe zu scheitern. Das wirft die Frage auf, ob Deutschland seinen Vorsitz in EU und G-8 gestaltend nutzen oder lediglich verwalten wird.

Es gibt viele außen- und sicherheitspolitische Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Zu den wichtigsten gehören:

Erstens, die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ESVP. Seit dem Scheitern des EU-Verfassungsvertrages ist die Einführung einer erweiterten Rechtsgrundlage für die ESVP ins Stocken geraten. Manch neues Element der ESVP – zum Beispiel die Europäische Verteidigungsagentur – wurde im Vorgriff auf eine erweiterte Rechtsgrundlage gegründet. Allen diesen Neuerungen fehlt aber bis heute eine echte rechtliche Basis. Die Erweiterung der EU um viele neue Mitglieder, die in der ESVP eine potenzielle Konkurrenz zur NATO sehen und sie deswegen skeptisch betrachten, macht die Erweiterung der Rechtsbasis für die ESVP nicht leichter.

Zweitens will die EU ihre stabilisierende Rolle auf dem Balkan ausweiten. Die Aufgaben der EU in Bosnien sollen zunehmend mit zivilen und polizeilichen Kräften erfüllt werden. Die Übernahme weiterer Aufgaben im Kosovo und die Ablösung der NATO-geführten KFOR-Mission durch EU-Missionen sind in Vorbereitung. Allerdings ist die derzeit wohl wichtigste Frage für die Zukunft der Balkanmissionen weiter ungeklärt: Soll die serbische Provinz ein unabhängiger Staat werden? Die Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovo sind festgefahren. Sollen die westlichen Vermittler um den ehemaligen finnischen Präsidenten Ahtisaari auch gegen den Widerstand Serbiens einfach einen neuen Staat dekretieren? Das Risiko ist offensichtlich: Wird das Kosovo unabhängig, so würden die westlichen Staaten zugleich signalisieren, dass sie zu Grenzveränderungen auf dem Balkan bereit sind. Schnell könnte ein anderer alter Streit wieder neu aufflammen: Die zu Bosnien-Herzegowina gehörige Republika Srpska könnte fordern, einen gemeinsamen Staat mit Serbien zu bilden. Klar ist: Die Kosovo-Frage kann schnell zu einer zentralen Frage der deutschen Ratspräsidentschaft werden.

Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Existenz europäischer Eingreifverbände. Mit Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft stehen der EU erstmals zwei einsatzbereite European Battlegroups zur Verfügung. Vorhandene militärische Kapazitäten aber rufen oft auch Politiker auf den Plan, die fordern, diese Fähigkeiten einzusetzen. Der Ruf nach einem europäischen Militärengagement in Afrika wird immer lauter. Diskutiert wird insbesondere über einen möglichen Beitrag Europas in der sudanesischen Krisenprovinz Darfur.

 

Eine vierte sicherheitspolitische Herausforderung ist Afghanistan: Europäische Länder stellen einen wesentlichen Teil der NATO-geführten ISAF-Truppen. Diese Stabilisierungs- und Wiederaufbaumission wurde in diesem Jahr eng mit der amerikanischen Kampfmission "Operation Enduring Freedom" OEF verzahnt. Die NATO hat schrittweise die Aufgabe übernommen, in ganz Afghanistan für Sicherheit zu sorgen. Ein wachsender Anteil der ISAF-Truppen wird nun im Süden und Osten Afghanistans zur Bekämpfung aufständischer Taliban herangezogen. Zugleich hat sich die Sicherheitslage inzwischen deutlich verschlechtert. Die Unterschiede zwischen der ISAF-Mission und der Anti-Terror-Operation Enduring Freedom werden kleiner. Die NATO-Truppen im Süden und Osten werden zunehmend wie die OEF als Kampf- und Besatzungstruppen und nicht als Wiederaufbauhelfer wahrgenommen. Wenn im Februar die USA für ein Jahr auch die ISAF-Mission übernehmen, besteht die Gefahr, dass sich diese Entwicklung weiter verschärft und die Taliban noch größeren Zulauf bekommen. Damit aber besteht die Möglichkeit, dass die Mission am Hindukusch letztlich scheitert. Allen Beteiligten ist klar, dass für Afghanistan bald eine neue Strategie benötigt wird. Eine Strategie, die auch den Menschen in den Paschtunen-Gebieten wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt. Unklar ist, wer diese Strategie entwickeln soll. Während der deutschen Präsidentschaft wird sich entscheiden, ob und welche Rolle die EU dabei einnimmt.

Ein weiteres Problemfeld ist der Nahe Osten. Die EU-Staaten stellen den Kern der neuen UN-Friedenstruppe für den Libanon. Diese wurde stationiert, ohne dass Ansätze politischer Lösungsmöglichkeiten vereinbart wurden. Diese müssen nun dringend gefunden werden. Dabei wird der EU eine wichtige Rolle zukommen, nicht zuletzt, weil die Europäer Truppen in die Region entsandt haben. Die Rahmenbedingungen sind allerdings äußerst fragil. Sie können sich rasch weiter verschlechtern – trotz der jüngsten Gesprächsinitiativen Israels. Der Libanon steht am Rande eines erneuten Bürgerkrieges. Das gleiche gilt für die Palästinenser-Gebiete. Zudem hängt über dem Nahen und Mittleren Osten weiter das Damoklesschwert einer militärischen Eskalation des Streites um das iranische Atomprogramm. EU-Länder sind federführend bei dem Versuch, eine Verhandlungslösung zu finden.

All diese Themen spiegeln sich im Arbeitsplan für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wider. Wird die Bundesregierung die Chance der Doppelpräsidentschaft nutzen und in der Außen- und Sicherheitspolitik strategische Initiativen ergreifen? Derzeit sind Zweifel angebracht: Denn in ihrem Arbeitsplan für die EU-Ratspräsidentschaft hat die Bundesregierung zwar all diese Themen aufgelistet. Sie hat aber nicht angegeben, welche Themen sie vorrangig angehen will – wenn man mal von der der Herkulesaufgabe absieht, den EU-Verfassungsvertrag wiederzubeleben. Unklar bleibt, ob all die anderen Themen nur nach Lage aufgegriffen werden sollen. Wäre das der Fall, so würde die deutsche EU-Präsidentschaft eher verwaltet denn gestaltet. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung in ihrem Kabinettsbeschluss zur G-8-Präsidentschaft praktisch gänzlich auf sicherheitspolitische Akzente verzichtet hat. Denn die USA wollen, dass die G-8-Struktur möglichst wenig sicherheitspolitische Aufgaben wahrnimmt. Das ist falsch. Denn ganz gleich, ob es um die Zukunft des Balkans, um den Nahen Osten oder den Iran oder aber um Afghanistan geht: eine verstärkte Einbindung Russlands erweitert die politischen Lösungsmöglichkeiten. Nicht zuletzt, weil auch Russland wieder größere Handlungsmöglichkeiten hat. Die G-8-Struktur bietet dafür einen Rahmen. Dass Russland zu Kooperation bereit ist, wenn es seine Interessen wahren kann, zeigte sich vor acht Jahren bei der ersten deutschen Doppelpräsidentschaft 1999. Sich daran zu erinnern, kann hilfreich sein, wenn man den EU- und G-8-Vorsitz wirklich gestaltend nutzen will.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS