Streitkräfte und Strategien - NDR info
03. April 2004


Sechs-Milliarden-Vorhaben mit Fallstricken - Stolpert die Bundeswehr über das IT-Projekt Herkules?

Christopher Steinmetz

Das bisher teuerste Privatisierungsvorhaben der Bundeswehr trägt zu Recht den Namen HERKULES. Innerhalb der nächsten 10 Jahre sollen alle zivilen Systeme der Informationstechnologie – kurz IT-Systeme – von einem privaten Anbieter modernisiert und standardisiert werden. Damit betritt die Bundeswehr NATO-weit Neuland. Doch auch angesichts der geschätzten Kosten von etwa 6,6 Mrd. Euro ist dieser Schritt nicht frei von Risiken.

Seit September 2003 ringt Verteidigungsminister Struck mit dem bevorzugten Anbieterkonsortium um den amerikanischen IT-Riesen Computer Science Corporation - kurz CSC - um das 2.000seitige Vertragswerk mit etwa 400 Leistungsanforderungen. Der Druck auf Struck steigt beständig, das prestigeträchtige Projekt endlich unter Dach und Fach zu bringen. Immer wieder wird erklärt, die baldige Vertragsunterzeichnung stehe kurz bevor. Aber auch ein erfolgreicher Abschluss birgt enorme Risiken. Im schlimmsten Fall droht Olivgrün ein Debakel wie bei Toll Collect. Dann würde das Vorhaben wohl mehr Rechtsanwälte als Informatiker beschäftigen.

Es stellt sich die Frage, wie es zu einer solchen Hängepartie kommen konnte. 1999 stellte Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Weichen für seine Bundeswehrreform: weniger Personal, moderneres Gerät und eine neue Streitkräftestruktur. Durch die Privatisierung nichtmilitärischer Aufgaben sollten die notwendigen ökonomischen und personellen Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden. Dafür bot sich vor allem der Bereich IT-Systeme an. Dort fehlte bislang eine Bündelung der Planungs- und Umsetzungskapazitäten. In den Teilstreitkräften, den Ämtern und in der Bundeswehrverwaltung waren immer mehr Insellösungen entstanden. Die Informationstechnologie wurde nur sporadisch modernisiert, wenn gerade Geld da war. Die Forderung nach einem "Informations- und Kommunikationssystem aus einem Guss" traf daher in der Bundeswehr auf keinen Widerstand.

Vor Einführung der modernen Technik bedurfte es aber zunächst einer Reform der Entscheidungsstrukturen. Mit dem neuen Posten des IT-Direktors wurde die überfällige Zusammenführung der Zuständigkeiten für den zivilen und militärischen IT-Bereich vorangetrieben. Hier sollten einheitliche Anforderungsprofile entwickelt werden. Ferner galt es, die Projektplanung zu koordinieren. Parallel dazu wurden drei Pilotprojekte für die technische Umsetzung beschlossen. Sämtliche Standorte der Bundeswehr sollten über ein einheitliches Datennetzwerk miteinander verbunden werden, getragen von zwei leistungsfähigen Rechenzentren. Sowohl Software wie IT-Infrastruktur sollten kontinuierlich gewartet und modernisiert werden. Nur: Der Bundeswehr fehlte das Geld für die erheblichen Anfangsinvestitionen. Das wollte sich Scharping bei der Industrie holen. Im Gegenzug sollte diese jährliche Zahlungen erhalten, mit Aussicht auf weitere lukrative Folgegeschäfte.

Auf die richtige Problemdiagnose folgte dann der therapeutische Overkill. Schnell wurde die Weiterentwicklung der Konzepte für die kleineren IT-Pilotprojekte aufgegeben - zugunsten eines umfassenderen Megaprojekts HERKULES. Dieses wiederum sollte als Ganzes einer mehrheitlich von der Industrie gehaltenen IT-Gesellschaft übertragen werden. Auf Behördenseite wurde ein IT-Amt aus der Taufe gehoben, um überhaupt den Bedarf der Bundeswehr zu überprüfen und später das komplexe Projekt HERKULES zu begleiten.

Die Gleichzeitigkeit von Strukturreform, Ausstattungsreform und Einführung neuer Abläufe führte allerdings schnell zur Lähmung des gesamten Reformprozesses. Es wurde versäumt, Effizienzgewinne durch interne Reformen abzuwarten. Die Möglichkeit einer traditionellen Vergabelösung für den Bereich Informationstechnologie wurde gleich verworfen.

Außerdem besteht nach wie vor in vielen Fragen ein juristischer Klärungsbedarf. Anders als der Bund bei Post und Bahn entschied sich Verteidigungsminister Scharping damals, die Privatisierung nur auf die bestehenden rechtlichen Vorschriften abzustützen. Die Interpretation dieser Spielräume beschäftigt nun immer wieder die Gerichte und erschwert so jede langfristige Planung – auch für das HERKULES-Projekt.

Beispiel: Immer noch basiert die Kostenkalkulation für HERKULES auf der Annahme, dass die zukünftige IT-Gesellschaft Aufträge kurzfristig und freihändig vergeben kann, und damit billiger und flexibler als Behörden arbeitet. Dabei haben die Gerichte immer wieder bekräftigt, dass eine Gesellschaft, die Kernaufgaben des Bundes wahrnimmt, auch bei einer Minderheitsbeteiligung des Bundes an das öffentliche Vergaberecht gebunden ist. Wenn sich letztere Auffassung erneut bei den Gerichten durchsetzt, ist schnell die gesamte Kostenkalkulation Makulatur. Dies könnte auch Auswirkungen auf die angestrebten Drittgeschäfte haben. Sie sollten als zusätzliche Einnahmequellen langfristig auch die HERKULES-Kosten der Bundeswehr senken.

Die Privatisierung im großen Stil gilt deswegen längst nicht mehr als Königsweg sondern als potentielle Sackgasse. Der Zeitdruck für das Verteidigungsministerium ist enorm, jetzt die Weichen für die dringend notwendige Modernisierung der IT-Systeme zu stellen. Seit Formulierung der Pilotprojekte sind drei wertvolle Jahre der Planung und Vorbereitung vergangen. Und Informationstechnologie veraltet bekanntlich besonders schnell. Nur: einen einvernehmlichen Ausweg haben das Verteidigungs-ministerium und das Anbieterkonsortium um den IT-Riesen CSC bisher nicht gefunden. Das gegenwärtige Feilschen um den Kostenrahmen und mögliche Abstriche an den Anforderungen ist ein Indikator für die wachsende Ratlosigkeit. Die Industrie scheint nicht bereit und in der Lage zu sein, alle Anforderungen in der vorgeschriebenen Zeit zu erfüllen. Auch für Struck gäbe es Anlass zum Nachverhandeln. Seine neue Personalstruktur und Standortplanung liegt deutlich unter den alten Planungsgrößen für HERKULES. Rund 100.000 militärische und zivile Dienstposten werden wegfallen, weitere 100 Standorte sollen geschlossen werden. Viele der geplanten 300.000 Telefonanschlüsse sind dann überflüssig. Deswegen lässt der Verteidigungsminister über Leistungspakete verhandeln und nicht mehr über den Umfang der Technologie-Ausstattung. Auch bleibt unklar, wie die Bundeswehr die erwarteten Kosten von 665 Mio. Euro pro Jahr aufbringen will. HERKULES würde die bisherigen jährlichen Ausgaben der Bundeswehr für ihre IT-Systeme fast verdoppeln – schließlich können die älteren Systeme nicht alle über Nacht ausgeschaltet werden.

Eine substantielle Änderung des Leistungskatalogs wird zudem das 2002 unterlegene Bieterkonsortium auf den Plan rufen. Zu Recht könnte dann eine Neuausschreibung des gesamten Vorhabens verlangt werden.

Insgesamt ist also Strucks politischer Handlungsspielraum sehr klein geworden. Außer der Rückkehr zu einer modifizierten Anfangskonzeption der IT-Reform kann er wenig Alternativen präsentieren. Dem Verteidigungs-ministerium sitzt außerdem die Angst im Nacken, dass es zu einem ähnlichen Debakel wie bei der LKW-Maut kommen könnte; dass Leistungszusagen letztlich dann doch nicht von der Industrie eingehalten werden können. Wahrscheinlicher ist daher ein Formelkompromiss, der Juristen noch einige Jahre in Lohn und Brot halten wird und aus HERKULES möglicherweise einen SISYPHUS machen könnte.

Für den Konsortialführer CSC könnte sich dies trotz allem als sehr vorteilhaft erweisen. Denn das Unternehmen ist gleichzeitig auch bei einer ähnlichen Ausschreibung des britischen Verteidigungsministeriums mit im Rennen. Die Auftragsvergabe in Deutschland könnte die Chancen dort erheblich verbessern. Theoretisch bestünde so für das Unternehmen die Möglichkeit, in den nächsten 10 Jahren zwei fast identische Projekte mit einem Auftragswert von insgesamt etwa 14 Mrd. € zu realisieren.

Die Zahlen erklären vielleicht am besten, warum die Industrie HERKULES auch als Projekt XXL bezeichnet – denn Extralarge könnte der Gewinn für diejenigen Firmen sein, die als erste ein so umfangreiches IT-System für die Streitkräfte eines Staates bereitstellen und betreuen. Geschäfte dieses Umfangs macht sonst nur die Luft- und Raumfahrtindustrie.

 

 

   ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BITS.