Marschiert die NATO konzeptionslos in die Zukunft? - Kosovo-Krieg ohne Auswirkungen auf das neue Strategische Konzeptvon Otfried Nassauer Der Konflikt um das Kosovo wirkt wie eine Generalprobe. Er ist für Militärs und Politiker der NATO nämlich ein Musterbeispiel für die künftige Strategie des Bündnisses. Er dient als Beleg dafür, daß die Allianz gegebenenfalls ohne Mandat der Vereinten Nationen militärisch agieren muß. Die NATO beansprucht also das Recht, notfalls aus eigener Entscheidung für Menschenrechte und gegen Völkermord zu kämpfen, und zwar - das ist entscheidend - auch außerhalb des NATO-Gebietes. Doch das neue Strategische Konzept erweist sich schon bei dieser Generalprobe als gefährlich und tückisch. Denn die neunzehn Bündnisstaaten handeln nicht nach den gleichen Vorgaben. Und es kann keineswegs als Ausdruck von Harmonie und Erfolg gewertet werden, daß die Alliierten vier Wochen nach Beginn ihrer Operation "Allied Force" noch nicht zerstritten auseinandergelaufen sind. Es ist ganz offensichtlich, daß mit dem Vorgehen der NATO etwas nicht stimmt. Politische Ziele und militärische Mittel stehen nicht im Einklang mit der Folge, daß sowohl der militärische als auch der politische Erfolg ausgeblieben sind. Die NATO hat politische Forderungen gestellt, die die jugoslawische Führung nicht erfüllen will oder kann. Die NATO hat daneben eine militärische Drohung verwirklicht, mit der sie ihre politischen Ziele nicht glaubwürdig erzwingen kann. Die Kontrahenten folgen einer Eskalationslogik, die alle politisch-diplomatischen Lösungen ausschließen, solange sie Sieg und Niederlage zuweisen und dem Verlierer mit Gesichtsverlust drohen. Ein Ausbruch aus dieser Logik ist bislang nicht einmal ernsthaft versucht worden. Die militärische Wirksamkeit der Luftangriffe ist weit geringer als NATO-Pressesprecher und Politiker glauben machen wollen. Ein Beispiel bietet die Luftverteidigung, die vom ersten Tag an wichtigste Zielgruppe! Lediglich vier von 30 Zielen dieser Kategorie wurden binnen 23 Tagen völlig zerstört, fünf weitere schwer beschädigt, 21 wiesen nach dem Angriff nur kleinere Schäden auf. Allein die Bundeswehr verschoß dabei mehr als 100 HARM-Raketen. Der Großteil der mobilen serbischen Luftverteidigung ist weiterhin einsatzbereit und veranlaßt die NATO, andere Ziele zum Schutz ihrer Flugzeuge und Piloten nur aus mittleren bis größeren Höhen anzugreifen. Das Risiko, daß bei solchen Angriffen auch zukünftig unschuldige Menschen und zivile Einrichtungen getroffen werden, steigt. Selbst die wichtigste Absicht der NATO-Luftangriffe blieb eine Wunschvorstellung, nämlich den bedrängten Menschen im Kosovo zu helfen. Im Gegenteil, die NATO-Angriffe haben die Vertreibungen eher beschleunigt, das Leiden verschlimmert. Das Regime Slobodan Milosevic kann sich stark fühlen und hat das Heft des Handelns weiter in der Hand. Der Mangel an sichtbaren Erfolgen der Luftangriffe läßt in der NATO den Ruf nach Bodentruppen immer lauter werden. Vielleicht werden an diesem Wochenende auf der NATO-Gipfel-Konferenz in Washington die Weichen bereits gestellt. Denn die Erklärung zur Stabilität auf dem Balkan, die von den Staats und Regierungschefs verabschiedet wird, hat - fast zwangsläufig - den Einsatz von Bodentruppen zur Folge. Doch auch ein mehr oder minder begrenzter Einsatz von Bodentruppen kann die Durchsetzung der politischen Ziele der NATO kaum garantieren. Bodentruppen sind zudem nur dann wirklich glaubwürdig, wenn die NATO-Staaten letztlich zum "Marsch auf Belgrad" bereit sind. Andernfalls besteht die Gefahr, daß Milosevic die Initiative behält und selbst bestimmt, ob und wann er die Auseinandersetzung eskalieren läßt. Die Alternative liegt im erneuten Versuch einer diplomatischen Vermittlung im Konflikt um das Kosovo und einer langfristigen Lösung der Probleme auf dem Balkan. Wie weit in Washington darüber Einvernehmen hergestellt werden kann, ist zur Stunde noch nicht bekannt. Zumal Einigkeit in der Theorie von Kommuniques und Einigkeit bei der politischen und militärischen Praxis im Bündnis nicht automatisch deckungsgleich sind. Es kommt erschwerend hinzu, daß die Staats- und Regierungschefs auch das neue Strategische Konzept der NATO - ein zentrales Thema des Gipfels - mit ihrem Vorgehen auf dem Balkan in Übereinstimmung bringen müssen. Dabei stellt sich die Frage, ob das durch die UNO nicht legitimierte Eingreifen der NATO in Jugoslawien ein Präjudiz für die neue Strategie geschaffen hat. Die Meinungen darüber sind völlig unterschiedlich. Wieweit nun das Bemühen erfolgreich ist, Formulierungen für das Strategiekonzept zu finden, aus denen jeder NATO-Staat die ihm genehme Version herauslesen kann, werden wohl erst die nächsten Tage und Wochen zeigen. Die Allianz wäre sicherlich gut beraten gewesen, über ihre neue Strategie erst zu entscheiden, nachdem die Lehren aus diesem Krieg gezogen worden sind. Es läßt sich nämlich durchaus daran zweifeln, daß unter Kriegsbedingungen und angesichts des Versagens der politischen Diplomatie überhaupt eine zukunftsweisende Strategie entwickelt werden kann. Zumal ja auch erhebliche Interessenunterschiede zwischen den 19 Mitgliedstaaten selbst in Einklang gebracht werden müssen. Trotz aller Erklärungen und Konzepte, die an diesem Wochenende in Washington verabschiedet werden, wird die eigentliche Strategie-Diskussion in der NATO erst nach dem Ende des Krieges in und gegen Jugoslawien erfolgen. Erst dann kann auch über das Verhältnis der Allianz zu Rußland neu und gründlich nachgedacht werden. Solange bleibt zu hoffen, daß die Entwicklung auf dem Balkan die Beziehungen zu Rußland nicht irreparabel beschädigt. Denn von der Zusammenarbeit mit Rußland hängt nicht nur eine Befriedung des Balkans ab. Sie ist auch entscheidend für Stabilität und Frieden in ganz Europa; die NATO allein oder gar gegen Rußland - das zeigt das Geschehen auf dem Balkan nachdrücklich - kann diese Aufgabe nicht leisten.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
> |